25. April 2012 Bernd Riexinger: Zum Tarifergebnis im Öffentlichen Dienst

Zustimmung und Ablehnung

Der rein materielle Teil des Tarifabschlusses im Öffentlichen Dienst ist sicher keine Niederlage für ver.di. Das wird auch von großen Teilen der Mitgliedschaft so gesehen.

Im Unterschied jedoch zur Beurteilung in den Medien, die den Abschluss als Punktsieg für ver.di kommentiert hatten, ist die Bewertung der Mitglieder ebenso wie die der ehrenamtlichen Funktionäre viel differenzierter. Obwohl zum Redaktionsschluss das Ergebnis der Mitgliederbefragung noch nicht vorlag, gab es doch selten eine so große Polarisierung in der Bewertung des Tarifergebnisses.

In den Verwaltungen und unter den Mitgliedern in den Krankenhäusern überwiegt die Zustimmung. Ebenso bei den Flughäfen und in den Stadtwerken. Im Arbeiterbereich (zumindest in Baden-Württemberg) gibt es größtenteils sogar eine schroffe Ablehnung. In den Streikhochburgen bei den ErzieherInnen ebenso, teilweise auch im Verkehr (dort dürften sich Ablehnung und Zustimmung die Waage halten), soweit wir das aus ersten Reaktionen beurteilen können. Im ehrenamtlichen Funktionärsbereich ist die Ablehnung eher groß. Auch in der Bundestarifkommission wurde in der ersten Abstimmung der Abschluss abgelehnt und in einer weiteren war das Ergebnis eher knapp.

Fehlende soziale Komponente

Wie bereits in der Sozialismus 4/2012 beschrieben,[1] war die Forderung nach 200 € Mindestbetrag außerordentlich hoch besetzt. Dies hängt einerseits mit der konkreten Erfahrung wachsender Lohnspreizung zusammen, andererseits haben die diversen Kampagnen von ver.di zur Frage der sozialen Gerechtigkeit durchaus Wirkung in den Köpfen der Beschäftigten erzielt. Auch Beschäftigte, die vom Tarifabschluss profitieren, bemängeln das Fehlen der sozialen Komponente. Gerade im Arbeiterbereich und dort in den niedrigen Lohngruppen war diese Forderung besonders hoch besetzt und wurde das Ergebnis enttäuscht zur Kenntnis genommen. In diesem Bereich, der nach wie vor hoch organisiert ist und eine große Streikbedeutung hat, bemerken wir ohnehin seit einigen Jahren eine nachlassende Bindung zur Gewerkschaft. Dazu beigetragen haben viele Brüche insbesondere in der Tarifpolitik, aber auch permanente Drohungen und Erpressungen mit Ausgliederungen, Privatisierung, Personalabbau und die Streichung innerbetrieblicher übertariflicher Zuwendungen. Die Bewusstseinslage ist geprägt von sich verschlechternder arbeitsmarktpolitscher Position (im Gegensatz zum Beispiel zu den Erzieherinnen) und dem Zweifel an der eigenen Mächtigkeit. Oftmals richten sich diese Zweifel gegen die eigene Organisation.

In den Führungskreisen von ver.di wird die Kritik an der fehlenden sozialen Komponente durchaus wahr- und ernst genommen. In der Tat stellt sich die Frage, wann ver.di jemals einen Sockel, Mindest- oder Festbetrag durchsetzen kann, wenn nicht in dieser Tarifrunde, in der die Voraussetzungen durchaus günstig waren? Die wirtschaftliche Situation ist eher gut gewesen, die Steuereinnahmen der Kommunen sind gestiegen und die Schubkraft durch die Warnstreikbewegungen war so groß, wie seit Jahren nicht mehr. Die Forderung nach 200 € Mindestbetrag war wesentlich für die erfolgreiche Mobilisierung. Insbesondere die kommunalen Arbeitgeber haben diese Forderung zum Tabu erklärt: zu teuer, weil in den Kommunen deutlich mehr Beschäftigte in den unteren Entgeltgruppen anzutreffen sind, als zum Beispiel beim Bund. Im ver.di-Abschlussflugblatt heißt es: »In dieser Tarifrunde ist es uns nicht gelungen die Wagenburg zu knacken, hinter die sich die Arbeitgeber bei der Frage des Mindestbetrages/sozialen Komponente verrammelt haben. Wir werden an dieser Thematik dranbleiben und auch in den nächsten Jahren keine Ruhe geben.«

Die zentrale Frage wird sein, was ver.di tun muss, um bei doch mit hoher Wahrscheinlichkeit schlechteren Bedingungen in zwei Jahren diese »Wagenburg« wirklich knacken zu können. Glauben die Mitglieder, dass ihre Gewerkschaft tatsächlich einen Wendepunkt gegen die soziale Spaltung durchsetzen will oder durchsetzen kann?

Neue Urlaubsregelung

Die Frage, warum sich die Verhandlungskommission eine neue Urlaubsregelung aufdrücken ließ, ist nach wie vor nicht befriedigend beantwortet. Es handelte sich um eine reine Entgelt­runde und es ist ein Dauerärgernis für viele Ehrenamtliche, dass es immer wieder zu Verschränkungen mit anderen Tarifregelungen kommt, trotz nicht gekündigter Tarifverträge. Offensichtlich haben die Arbeitgeber gedroht, das Urlaubsabkommen zu kündigen und Neueingestellte nach dem Bundesurlaubsgesetz zu behandeln. Außerdem drohten sie, über das Beamtenrecht andere Urlaubsreglungen bei den Beamten durchzusetzen.

Die­se Drohung ist zumindest unter den aktuellen Bedingungen wenig glaubhaft. Tatsache ist, dass das Ziel »30 Tage Urlaub für alle!« preisgegeben wurde, auch wenn der Urlaub für die unter 30-Jährigen von 26 auf 29 Tage angehoben wurde. Kurz zuvor wurden von der Bundesebene noch Musterunterlagen in die Bezirke geschickt, damit die Jüngeren 30 Tage Urlaub geltend machen. Für die Begründung wurde eine Analogie hergestellt zur Auseinandersetzung um die Arbeitszeit 2006, in der die Arbeitgeber ebenfalls die Neueingestellten mit längeren Arbeitszeiten ausstatten wollten und ver.di den bisher längsten Streik in einigen Bundesländern organisieren musste. Damals musste ein Kompromiss akzeptiert werden, der Arbeitszeitverlängerung beinhaltete. Ich bin absolut überzeugt, dass die Drohung der Arbeitgeber, den Urlaub zu verschlechtern, eher mobilisierende Wirkung gehabt hätte.

Außerdem ist es bei der momentanen arbeitsmarktpolitischen Lage nicht wirklich realistisch, dass die Arbeitgeber das Urlaubsabkommen gekündigt und die Drohung, auf den gesetzlichen Mindesturlaub zu gehen, aufrecht erhalten hätten. Zwar ist es richtig, dass das BAG nicht über den Urlaubsumfang entschieden hat, sondern über die Frage der Altersdiskriminierung. Es gibt jedoch keinen überzeugenden Grund, eine Regelung zu akzeptieren, die für eine Altersgruppe Verschlechterungen mit sich bringt. Bei den Tarifauseinandersetzungen im Einzelhandel konnte ver.di bei weit schlechteren Kräfteverhältnissen im letzten Frühjahr noch 30 Tage Urlaub für alle, bei ähnlich gelagerten tarifvertraglichen Regelungen, durchsetzen.

Wäre ein Erzwingungsstreik möglich gewesen?

Michael Wendl bestreitet im Onlinekommentar dieser Zeitschrift,[2] dass
ver.di zu einem Erzwingungsstreik in der Lage gewesen wäre. Tatsächlich hat auch die Verhandlungsführung die Annahme des Ergebnisses empfohlen, weil bei einer tabellenwirksamen Anhebung von knapp 6,4% (jedoch auf zwei Jahre) die erfolgreiche Durchführung eines Erzwingungsstreiks fraglich geworden wäre. Insbesondere wäre die Streikfähigkeit eingeschränkt gewesen, weil für die Flughäfen eine Prämie von 600 zw. 200 Euro ausgehandelt wurde. Unter diesen Bedingungen hätte es dort Schwierigkeiten mit der Mobilisierung gegeben. Im Bereich der Stadtwerke (TV-V) war ohnehin kein Mindestbetrag gefordert worden. Diese zwei Bereiche spielen jedoch in der Streikstrategie, insbesondere um wirtschaftlichen Druck zu erzeugen, eine wichtige Rolle.

Es stellt sich jedoch die Frage, ob die­se Situation nicht zwangsläufige Folge der Verhandlungsstrategie gewesen ist. Schließlich wurde drei Tage im kleinsten Kreis verhandelt. Erst einmal wurden die Teilergebnisse vereinbart und zum Schluss auf einen Abschluss hin verhandelt. Zu Recht wurde die Frage gestellt, ob ver.di nicht sehr viel früher deutlicher hätte machen müssen, dass es ohne soziale Komponente keinen Tarifabschluss gibt und die Urlaubsfrage in dieser Tarifrunde nicht zur Verhandlung ansteht. Die große Frage ist, ob unter diesen Bedingungen die Arbeitgeber überhaupt dieses Angebot unterbreitet und vereinbart hätten, oder nicht deutlich früher der Abbruch der Verhandlung herbeigeführt worden wäre.

Es gibt auch durchaus Kritik, dass der mehrfache Paradigmenwechsel in der Verhandlungsführung (Abschluss ohne soziale Komponente, zweijähriger Abschluss, Urlaubsfrage) ohne Rückkopplung mit den ehrenamtlichen Entscheidungsträgern vollzogen wurde. Das wird die Tarifkommission aufzuarbeiten haben und wie man hört auch aufarbeiten. Das ist sicherlich genauso wichtig, wie die Errungenschaft der Abstimmung der Mitglieder über das Verhandlungsergebnis.

Streikfähigkeit und Streikstrategie

Der von Michael Wendl angestellte Vergleich zu den Streiks 2006 um die Arbeitszeit und die Auseinandersetzung im Länderbereich, der als Beleg für eine vermeintlich nicht vorhandene Streikfähigkeit herangezogen wird, ist falsch. Einmal davon abgesehen, dass es gravierende Unterschiede zwischen der Streikfähigkeit im kommunalen und im Länderbereich gibt, waren 2006 die Verkehrsbetriebe als wichtige Säule der Streiks nicht beteiligt.

Zwischenzeitlich konnte ver.di die Streikfähigkeit im kommunalen Bereich deutlich ausbauen. Insbesondere bei den ErzieherInnen ist es gelungen, erhebliche Organisationserfolge zu erzielen und die Streikfähigkeit in den Großstädten, aber zwischenzeitlich ebenfalls in vielen Mittelstädten deutlich auszudehnen. Auch in den Krankenhäusern, in denen noch lange keine Mehrheit der Beschäftigten in den Streik geführt werden kann, ist die Streikfähigkeit erheblich gestiegen. Mittlerweile kann in einer nennenswerten Anzahl von Krankenhäusern so gestreikt werden, dass wirtschaftlicher Druck entsteht.

Die Mobilisierung in den beiden Warnstreikphasen war so hoch, wie seit Jahren nicht mehr. 300.000 Warnstreikende sprechen eine deutliche Sprache, wenn auch zugegebenermaßen an Warnstreiks und Erzwingungsstreiks nicht die gleichen Maßstäbe angelegt werden können. Es war neu und vollkommen richtig, bereits nach der ersten Verhandlungsrunde in ganztägige Warnstreiks zu gehen. War hier die Teilnehmerzahl schon beachtlich hoch, konnte sie in der zweiten Warnstreikwelle noch einmal deutlich gesteigert werden. Damit wurde gleich zu Beginn eine Tarifmächtigkeit hergestellt, die sich von vergangenen Tarifrunden erheblich unterschieden hat. Mobilisierungskräftige Warnstreikauftakte über den ganzen Tag erleichtern in ganz erheblichen Maß den Aufbau auch längerer Streiks. Auf diese Strategie sollte man in Zukunft zurückgreifen.

Auch die von Michael Wendl festgestellte starke unterschiedliche regionale Streikbeteiligung, die es ohne Zweifel im Öffentlichen Dienst gibt, war in dieser Tarifrunde weit weniger spürbar. Fast in allen Bundesländern war die Streikbeteiligung sehr gut und in der Regel besser als in der Vergangenheit. Das gilt insbesondere für Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Selbst im Osten war die Streikbeteiligung höher, auch wenn sie schwächer war als die Beteiligung an Kundgebungen. Ohne Zweifel muss weiter daran gearbeitet werden, das Mobilisierungsniveau in streikschwächeren Bereichen anzuheben.

ver.di hatte bundesweit eine Erzwingungsstreikstrategie geplant, bei der die Bereiche, die wirtschaftlichen Druck ausüben können (Flughäfen, Stadtwerke und Krankenhäuser), für den größten Druck sorgen sollten und durch tageweise Massenstreiks ergänzt werden. Es ist eine Konsequenz, die aus dem letzten unbefristeten Flächenstreik 1992 gezogen wurde, in dem sich mehr oder weniger eigendynamisch Massenstreiks durchsetzten und die sehr teuer und zum Teil auch sehr uneffektiv waren. Auch im Verkehr und bei den Entsorgungsbetrieben (Müllabfuhr usw.) sollte flexibler gestreikt werden. Sowohl im Streik 2006 in Baden-Württemberg als auch in der Sondertarifrunde Öffentlicher Personennahverkehr, ebenfalls in Baden-Württemberg, konnten insbesondere in Stuttgart wichtige Erfahrungen für flexible und überraschende Streikstrategien gesammelt werden. Dazu gehören auch die Erfahrungen aus dem mehrwöchigen Streik in den Sozial- und Erziehungsdiensten 2009. Gerade in diesem Bereich ist eine ungeheure Streikdynamik entstanden. Zwar wird dort kein wirtschaftlicher Druck ausgeübt, aber immenser politischer Druck, denn die meisten Eltern stehen auf der Seite der ErzieherInnen. Bei einer richtigen Anlage des Streiks und entsprechender Kommunikation richtet sich ein wesentlicher Teil des Unmuts über die Streikausfälle an die Rathausspitzen. Ohnehin kann im Öffentlichen Dienst nur begrenzt wirtschaftlich gestreikt werden. Von Anfang an muss eine intelligente Streikstrategie die Öffentlichkeit und die Solidarisierung mit wichtigen Gruppen der Bevölkerung mit einbeziehen. Die in wichtigen Streiks gemachten Erfahrungen müssen bundesweit aufgegriffen und verallgemeinert werden. Es ist durchaus nicht so, dass ein Erzwingungsstreik im Öffentlichen Dienst nur möglich ist, wenn er durch Angriffe der Arbeitgeber auf bestehende Tarifverträge provoziert wird.

Gemeinsame Streiks: Sozial­romantik oder Zukunftsoption?

In einigen Bezirken gab es schon relativ konkrete Absprachen zwischen ver.di und der IG Metall über eine engere Zusammenarbeit. Wäre es bei ver.di zu einem unbefristeten Streik gekommen, hätte es ein zeitliches Zusammentreffen mit der Warnstreikbewegung im Metallbereich gegeben. Gemeinsame Streikversammlungen oder gar Kundgebungen hätten eine zusätzliche Stärke in die Tarifbewegung gebracht. Das ist ganz sicherlich auch von der Gegenseite registriert worden. Dass dies nicht politisch geplant war, sondern sich eher aus den gemeinsamen Forderungen und dem eher zufälligen gemeinsamem Zeitregime ergeben hätte, kann nicht zu dem Schluss verführen, dass solche Optionen in das Reich der Sozialromantik und des Idealismus verwiesen werden.

Vielmehr müssen die jetzt gesammelten positiven Erfahrungen der Zusammenarbeit und der zum Teil gemeinsamen Planung aufgegriffen und als Option für die Zukunft weiter entwickelt werden.
Ohnehin können die weitgehend pragmatisch geführten Tarifrunden in diesem Jahr nicht für die Zukunft fortgeschrieben werden. Die vorrausichtlich wieder enger werdenden Spielräume – im Öffentlichen Dienst schon durch die Schuldenbremse verursacht – werden eine stärkere Politisierung der Tarifpolitik erforderlich machen. Gerade für die Linke ist es eine wichtige Aufgabe, die Politisierung der Gewerkschaften und die offensive Wahrnehmung des politischen Mandats der Gewerkschaft voranzutreiben. Immer wieder eintretende Rückschläge sind kein wirklicher Grund, von diesem Weg abzuweichen.

Bernd Riexinger ist Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart.

[1]  Bernd Riexinger: Warnstreikbeteiligung – hohe Erwartung, in: Sozialismus 4/2012, S. 2-4.
[2] Michael Wendl: Tarifpolitischer Erfolg (3. April 2012), www.sozialismus.de

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