1. Dezember 2007 Hans-Georg Draheim

Zwischen Dogmatismus und Anpassung

Die neue Linke ist nicht die bloße Nachfolgerin der SED-Staatspartei sowie der orthodoxen West-Linken. Sie ist im Kern die Nachfolgerin der demokratischen Linken Ost sowie der SPD- und Gewerkschaftslinken West.

Im Osten gehörte hierzu die Linke inner- und außerhalb der SED mit einem demokratischen Verständnis von Politik und Ökonomie. Im Westen entstand schon seit den 1960er Jahren ein zersplittertes, gleichwohl stetig stärker gewordenes Lager von Linken, die mit der sozialdemokratischen Politik gebrochen haben. Zudem erhöhen der gesellschaftliche Strukturwandel und die damit verbundene Krise der Gewerkschaften die Schnittmengen zwischen organisierter Lohnarbeit und linker Politik. In diesen Kontext gehören auch Aufstieg und Niedergang der Grünen.

Die historischen Wurzeln der neuen Linken reichen indes weit zurück in die Geschichte des Kampfes um Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit. Dazu gehört nicht zuletzt der Versuch eines antifaschistisch-demokratischen Neuanfangs nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch mit der Gründung der beiden deutschen Staaten im Jahre 1949 vollzog sich im Westen die kapitalistische Restauration und im Osten Deutschlands etablierte sich das stalinistische Herrschaftssystem. Damit erlitt die demokratische Linke in Ost und West eine schwere Niederlage. Während die Linke im Westen gespalten blieb, unterlagen im Osten die Protagonisten und Anhänger eines demokratischen Neuanfangs in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Zu den Pionieren des demokratischen Neubeginns im wirtschaftlichen Bereich gehörten im Osten vor allem die Ökonomen Fritz Behrens und Arne Benary. Ihre Vorstellungen liefen auf eine Ökonomie hinaus, die sowohl den Dogmatismus Stalinscher Prägung als auch die Vorherrschaft des Kapitals ausschloss und im Wesentlichen auf vier Fundamenten beruht:

  erstens auf einem Wirtschaftsmechanismus, der nicht administrativ, sondern grundsätzlich nach marktwirtschaftlichen und demokratischen Regeln funktioniert;

  zweitens auf einer Eigentumsordnung, in der das Eigentum an Produktionsmitteln nicht dem Staat, sondern den unmittelbaren Produzenten bzw. Arbeitnehmern oder den von ihnen getragenen Körperschaften gehört;

  drittens auf einer Wirtschaftsregulation, die von den unmittelbaren Produzenten bzw. Arbeitnehmern sowie den von ihnen gewählten autonomen wirtschaftlichen Vertretungen und Körperschaften getragen wird;

  viertens auf einem demokratischen Staat, der die gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und sozialökologischen Rahmenbedingungen setzt.

Das bedeutet, dass linke Ökonomie und Politik nicht allein vom Staat, sondern vor allem von der gesellschaftlichen und ökonomischen Basis bzw. den gesellschaftlichen Organisationen und wirtschaftlichen Unternehmen getragen wird. Die Durchsetzung dieser Vorstellungen wäre auf dem Wege von Reformen möglich gewesen, denn die herrschende Partei verfügte über die dazu erforderliche Macht. Doch die Geschichte nahm einen anderen Verlauf.

Zudem stand die westliche Linke selbst in einem schwierigen Kampf um die Durchsetzung von demokratischen und sozialen Rechten, um Mitbestimmung und Sozialstaat. Doch der Sozialstaat der 1960er und 1970er Jahre gehört heute ebenso der Vergangenheit an wie der Staatsozialismus der DDR.

Bezugnehmend auf die unterschiedliche Geschichte der Linken in Ost und West einerseits sowie die Programmatik der neuen Linken andererseits soll im Folgenden versucht werden, einige Ansätze und Vorstellungen linker Ökonomie und Politik thesenartig zu skizzieren und kritisch zu beleuchten.

1 Die neue Linke hat die Erneuerung des Sozialstaates und die Ziele und Werte des demokratischen Sozialismus und damit Reform und Transformation zur gemeinsamen Idee alternativer Politik zusammengeführt.

Damit macht die neue Linke zweifellos einen wichtigen Schritt nach vorn, jedoch entstehen auch neue Gefahren. Die gravierendste Schwäche der neuen Linken besteht darin, dass sie sich über die Gründe des Scheiterns des Staatssozialismus sowie des Sozialstaates bisher nicht verständigt hat und insofern noch keine klaren Zielvorstellungen hat, wie der Sozialismus des 21. Jahrhunderts aussehen könnte. Die gewachsene Vielfalt unterschiedlicher Auffassungen, Erfahrungen und Traditionen erweitern zwar das gesellschaftliche Spektrum sowie die integrative Kraft der neuen Linken, doch zugleich vergrößert sich das Risiko der inneren Spaltung.

Das wird auch auf dem Feld der Ökonomie deutlich. Den derzeitigen wirtschaftspolitischen Vorstellungen, die sich vorrangig am Sozialstaat orientieren, mangelt es sicherlich nicht an Akzeptanz. Sie gehen aber nach der Auffassung bestimmter Gruppierungen über das Ziel eines ökonomisch und sozial gezähmten Kapitalismus kaum hinaus. Zudem zeigen Beispiele aus der Praxis des Mitregierens, dass die Gestaltung linker Politik oft in schwere Turbulenzen gerät, die allerdings zur demokratischen Normalität gehören und deshalb auch künftig nicht auszuschließen sind. Wenn auch die Mehrheit der neuen Linken ein transformatorisches Potenzial der am Sozialstaat orientierten Ökonomie nicht grundsätzlich ausschließt, sollte in der zukünftigen Debatte darüber eine Klärung erreicht werden. Die Vorstellungen der frühen demokratischen Reformer wie Behrens und Benary sind in diesem Zusammenhang ebenso von Bedeutung wie bestimmte Ansätze bei Keynes. So konnte sich Keynes Anfang der 1930er Jahre durchaus vorstellen, dass unter bestimmten Voraussetzungen eine allgemeine Arbeitszeit von 15 Wochenstunden mit wachsendem gesellschaftlichen Reichtum möglich sei. Das Problematische an der Sozialstaatsökonomie bleibt allerdings ihre Kopflastigkeit und ihre bedingte basisökonomische Durchschlagskraft.

Demgegenüber gingen die frühen Reformer davon aus, dass die entscheidenden technischen, ökonomischen und sozialen Weichenstellungen nicht auf der Ebene des Staates, sondern vor allem an der ökonomischen Basis, auf der Ebene der Unternehmen durchgeführt werden. Eine grundlegende Reform der kapitalistischen Wirtschaft sollte so angelegt sein, dass über das Mittel der Bekämpfung der bestehenden Ungleichheit, z.B. in der Einkommensverteilung, eine langfristige Strukturpolitik verfolgt wird. Einerseits sollten die Reformvorschläge zur Überwindung gravierender Fehlentwicklungen an der aktuellen krisenhaften Situation anknüpfen, um entsprechende kurzfristige Maßnahmen zu ihrer Beseitigung einzuleiten, sie müssten aber zugleich den Weg in die Verwirklichung alternativer Entwicklungen eröffnen. Ein derart komplexes Programm der Demokratisierung sollte sich vor allem auf folgende Bereiche erstrecken: Rückkehr zur solidarischen Lohnpolitik, Besteuerung von Kapital- und Vermögenseinkommen, Demokratisierung der Unternehmensverfassung, Entwicklung eines neuen Typs von umfassender sozialer Sicherung, umfassende Steuerung und Kontrolle der Finanzmärkte und der internationalen Finanzinstitutionen, Rückkehr zur Globalsteuerung der Konjunktur.

Eine solche Umgestaltung muss sich auf drei Aspekte konzentrieren: auf eine grundlegende Reform der betrieblichen Mitbestimmungs- und Eigentumsverfassung, auf erweiterte Spielräume unternehmerischer Entscheidungsfreiheit sowie entsprechende Rahmensetzung durch die Tarifpartner und schließlich auf die Reorganisation der sozialen Sicherung auf der Grundlage einer stabilen Einkommens- und Finanzbasis.

Gesellschaft, Wirtschaft und Politik werden zwar grundsätzlich von den Zentralproblemen her bestimmt, jedoch definitiv entscheidet sich an der Basis, wohin die Reise letztlich geht.

2 Mit Blick auf die Eigentumspolitik geht es programmatisch um die Dominanz sozialer Kriterien bei der Eigentumsverfügung sowie um die Erhaltung und Entwicklung des öffentlichen und solidarischen Eigentums. Zudem erfolgt allgemein die Bezugnahme auf die grundgesetzlich verankerte Sozialpflichtigkeit des Eigentums.

Da der Rückgriff auf das Konzept einer umfassenden Verstaatlichung der Ökonomie keine Alternative darstellt, ergibt sich die Frage, auf welchem Weg der Reproduktionsprozess im gesamtgesellschaftlichen Interesse ökonomisch und sozial gesteuert und gestaltet werden kann. Dabei ist festzuhalten, dass fiskalische Eingriffe sowie die Entwicklung eines Netzes sozialer Sicherheit für eine derartige Steuerung der Wirtschaft nicht ausreichend sind, um eine beschleunigte Akkumulation des Finanzkapitals zu unterbinden und insofern die Massenarbeitslosigkeit sowie ökonomische und soziale Fehlentwicklungen auszuschließen.

Andere Überlegungen stützen sich darauf, an bestehende Institutionen, z.B. in Form von Körperschaften, anzuknüpfen, um eine Steuerung der Investitionen zu erreichen. So gehen zahlreiche Ökonomen in Anlehnung an Keynes davon aus, dass Aktiengesellschaften sich zunehmend vom Charakter des Privatunternehmens entfernen und sich dem Status einer öffentlichen Körperschaft annähern. Die Partizipation der Aktionäre am Unternehmensgewinn würde damit zum sekundären Vorgang, während Stabilität und Ansehen des Unternehmens im Vordergrund stünden. Doch in der Praxis zeigt sich ein anderes Bild. Während sich die Unternehmen vorrangig am Gewinn orientieren, werden Arbeitsplätze abgebaut und die sozialen Sicherungssysteme unterminiert.

Zudem werden die Eigentumsrechte der Arbeitnehmer bei derartigen Vorstellungen kaum berührt. Auf diesem entscheidenden Feld der Ökonomie mangelt es der neuen Linken an einem klaren und weiterreichenden Konzept, wie es von den frühen Reformern in bestimmten Aspekten bereits angedacht war. Da die Eigentumsform die Schlüsselfrage der ökonomischen Struktur sowie der Herrschaftsverhältnisse einer Gesellschaft ist, sahen sie weder im Privat- noch im Staatseigentum, sondern im Arbeitnehmer- bzw. Sozialeigentum die überlegene Form des Eigentums.

Auch im modernen Finanzmarktkapitalismus hat letztlich der Eigentümer oder der Besitzer von Produktionsmitteln das Recht zur Produktion und Verteilung des Produktionswertes: der Privatunternehmer bei Privateigentum, der Staat bei Staatseigentum sowie die Belegschaft bei Arbeitnehmereigentum. Die Realwirtschaft bleibt dabei der Kern aller Ökonomie. Linke Politik und Ökonomie muss sich daran messen lassen, in welchem Maße sie dazu beiträgt, durch eine grundlegende demokratische Reform der Betriebsverfassung die Eigentumsrechte der Arbeitnehmer zu stärken.

3 Zudem sehen die programmatischen Vorstellungen der neuen Linken in der Mitbestimmung eine wichtige Bedingung dafür, dass die Wirtschaft demokratischen Prinzipien entspricht. In diesem Zusammenhang wird unterstrichen, dass die Gewerkschaft eine unverzichtbare Gegenmacht zu den privatwirtschaftlichen Unternehmerinteressen darstellt. Schließlich wird die sozialstaatliche Regulierung als Voraussetzung einer auf das Gemeinwohl gerichteten Entwicklung gesehen.

Ausgehend von diesen Positionen sind die demokratischen Eigentums- und Mitbestimmungsrechte in der Praxis der eigentliche Kern des Sozialstaates, denn die Wirtschafts- und Sozialpolitik wird letztlich vom Eigentümer der Produktionsmittel bestimmt. Die neue Linke steht somit vor der komplizierten Aufgabe, gegen den neoliberalen Zeitgeist eine breite Aufklärung über Machtverhältnisse durchzuführen und die Mehrheit der Gesellschaft für umfassende demokratische und soziale Reformen zu gewinnen, wozu das Eigentumsrecht ebenso gehört wie ein modernes Mitbestimmungsrecht in den Unternehmen, da sie wichtige Voraussetzungen sind, um die Demokratisierung der Wirtschaft und Gesellschaft auf eine feste Grundlage zu stellen.

4 Die Erneuerung des Sozialstaates ist, wie bereits erwähnt, der zentrale Gedanke der wirtschafts- und sozialpolitischen Programmatik der neuen Linken. Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und soziale und ökonomische Stabilität sind wesentliche Elemente dieser Wirtschaftspolitik.

Doch es ist letztlich, wie wir wissen, nicht der Staat, der dafür die Grundlagen schafft. Es sind vielmehr die Entscheidungen und Prozesse an der ökonomischen Basis, in den Unternehmen, die letztlich über Wachstum und Wohlstand bestimmen. Die Entscheidungen über Investitionen, Arbeitsplätze und Produktion, über Lohn und Gewinn der Unternehmen bilden die Grundlage für den Sozialstaat. Diese Sicht der Dinge unterscheidet sich wesentlich vom Theorieansatz bei Keynes. Doch beide Seiten sind zu verknüpfen. Insofern sind die Entscheidungsspielräume der Unternehmen nicht zu beschneiden, sondern zielgerichtet zu erweitern. Der Staat hat vor allem dafür den Rahmen zu setzen.

Fazit

1. Das Scheitern des Staatssozialismus sowie der Niedergang des Sozialstaates bedeuten für die Linke eine gravierende Niederlage und den Abschied von überlebten theoretischen und politischen Dogmen der Vergangenheit. Zu Letzteren zählte vor allem der verbreitete Glaube, die Arbeiterklasse könne den Kapitalismus zu Grabe tragen. Es hat sich aber herausgestellt, wie manche Ökonomen betonen, dass der Kapitalismus die Arbeiterklasse zu Grabe getragen hat. Doch aus dieser Niederlage ging die neue Linke und die moderne Arbeitnehmerschaft hervor.

2. Um aus dieser Krise wieder herauszukommen, hat sich die neue Linke die Erneuerung des Sozialstaates zum Ziel gesetzt, verbunden mit einer transformatorischen Perspektive, die über den Kapitalismus hinausweist.

3. Das setzt linke Ökonomie voraus, die im Ansatz nicht nur einen demokratischen Staat, sondern auch eine demokratisierte ökonomische Basis umfasst. Auf dieser Grundlage kann linke Politik nicht nur alternativ, sondern auch nachhaltig sein.

4. Linke Ökonomie ist demokratisch und sozial und schließt private Ökonomie nicht aus.

Literatur
Fritz Behrens/Arne Benary, Zur ökonomischen Theorie und Politik in der Übergangsperiode, Wirtschaftswissenschaft, 3. Sonderheft, Berlin 1957
Fritz Behrens, Ware, Wert und Wertgesetz, Berlin 1961
Fritz Behrens, Abschied von der sozialen Utopie, Berlin 1992
Joachim Bischoff, Zukunft des Finanzmarkt-Kapitalismus, Hamburg 2006
John Maynard Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, München/Leipzig 1936
Gründungsdokumente der Partei DIE LINKE, Dortmund, 24./25.3.2007

Hans-Georg Draheim, Leipzig, ist Wirtschaftswissenschaftler. Schwerpunkt: Konjunkturanalysen und Beiträge zur deutschen Wirtschaft sowie zur wirtschaftspolitischen Debatte der Linken. Letzte Veröffentlichung in Sozialismus: "Wirtschaftsalternativen" in Heft 2/2006 sowie Joachim Bischoff/Hans-Georg Draheim, Sozialismus im 21. Jahrhundert, Supplement 1/2003.

Zurück