23. Dezember 2021 Hans-Jürgen Urban/Christoph Ehlscheid: Der Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition aus gewerkschaftlicher Perspektive

Zwischen Fortschrittsrhetorik und Parteienkompromiss

Der Mindestlohn wird erhöht, der Kohleausstieg soll »idealerweise« auf 2030 vorgezogen werden, die Rente wird stabilisiert, statt Hartz IV soll es ein Bürgergeld geben und auf Steuererhöhungen wird verzichtet. So sieht ein Koalitionsvertrag aus, der die Schnittmengen zwischen roter, grüner und gelber Politik beschreibt.

Wer sich dabei wo durchgesetzt hat, konnte man in den Kommentarspalten der Tageszeitungen ausführlich nachlesen. Und auch, dass die Koalitionäre dabei klug darauf geachtet haben, ihre zentralen Wahlaussagen im gemeinsamen Dokument zu platzieren. Doch die Koalition will mehr sein als eine Koalition des kleinsten gemeinsamen Nenners. Das untermauert sie mit wuchtigem, historischem Pathos: »Mehr Fortschritt wagen« steht über dem Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien. Die rhetorische Anknüpfung an die Formulierung Willy Brandts, mehr Demokratie zu wagen, ist alles andere als ein Zufall. Der mit der ersten sozialliberalen Koalition verbundene sozi­ale und demokratische Aufbruch soll nun um die ökologische Dimension erweitert werden. So viel zum Anspruch.


Historischer Regierungsauftrag: Sozial-ökologische Transformation

Gegen den so formulierten Regierungsauftrag ist nichts einzuwenden. Im Gegenteil: Über die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer klimapolitischen Wende besteht ein breiter gesellschaftlicher Konsens. Klimaaktivist*innen und Wissenschaftler*innen haben vor der Klimakatastrophe gewarnt und für einen nachhaltigen Umbau der Industriegesellschaft geworben; Gewerkschaften und Sozialverbände haben die ökologischen Umbauziele unterstützt und soziale Nachhaltigkeitsziele adressiert. So hat etwa die IG Metall für ihre Vorstellungen von einer ökologischen, sozialen und demokratischen Transformation der Gesellschaft auch im Wahlkampf geworben und mit einem bundesweiten Aktionstag am 29. Oktober 2021, an dem sich rund 50.000 Beschäftigte beteiligten, untermauert.[1] Dabei treibt die Industriebeschäftigten die Sorge um, dass viele Unternehmen auf Sicht fahren und keine Strategie für einen nachhaltigen Strukturwandel haben – Angst vor dem Verlust der Arbeit und sozialem Abstieg eingeschlossen. Unter diesen Bedingungen richten sich die gewerkschaftlichen Forderungen nicht nur an die Arbeitgeber. Auch die Erwartungen an die Politik sind hoch: Ökologische Nachhaltigkeitsrevolution vorantreiben und zugleich eine sozial sichere Brücke in die Arbeitswelt von morgen bauen, lautet der Auftrag. Doch an der Tragfähigkeit, an den im Koalitionsvertrag beschriebenen Brückenpfeilern, gibt es doch berechtigte Zweifel.

Hans-Jürgen Urban ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, Christoph Ehlscheid Leiter des Funktionsbereichs Sozialpolitik beim Vorstand der IG Metall.

[1] Vgl. zum Aktionstag der IG Metall am 29. Oktober 2021; bit.ly/3GHmheI.

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