28. September 2023 Redaktion Sozialismus.de: Zwischenbilanz der »Koalition der Vernunft«
Zwischen Vertrauensverlust und Abgesang auf die Demokratie
Die Hälfte ihrer Amtszeit hat die »Ampel«-Regierung hinter sich. Die politische Bilanz ist ernüchternd: Die »Koalition der Vernunft« hat etliche Reformen (Mindestlohn, Rentenanpassung, Bürgergeld, Einwanderungsgesetz, Maßnahmen gegen Klimawandel u.v.m.) auf den Weg gebracht.
Die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg und die Energiekrise haben diese Reformprozesse gewiss nicht begünstigt. Angesichts dieser Leistung ist das Urteil des Großteils der Bevölkerung überraschend: Fast drei Viertel der Deutschen sind unzufrieden mit der Arbeit der Politiker*innen aus SPD, Grünen und FDP. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov vertreten 73% diese Position. Laut einer weiteren Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach[1] zeigt sich nur jeweils etwa ein Viertel der Menschen in Deutschland mit der Arbeit von SPD (25%), Grünen (23%) und FDP (22%) »sehr oder eher« zufrieden. Mehr als sechs von zehn Befragten sind dagegen »eher oder sehr« unzufrieden mit der Leistung der Regierungsparteien.
Die Gründe für die erschreckend schlechte Bewertung der Reformpolitik sieht Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) darin, dass der Großteil der Bevölkerung den Übergang in eine neue Zeit der Geopolitik nicht wahrnimmt. Die Globalisierung seit den 1990er-Jahren hat ihre Verheißungen nur teilweise eingelöst. Millionen Menschen auf der Welt sind aus der Armut herausgeholt worden und in den Ländern des demokratischen Kapitalismus sind Lebensqualität und Wohlstand weiterentwickelt worden. Das Versprechen, allein mit harter Arbeit könne jede und jeder seine Existenz gestalten, ist obsolet geworden und hat ein Hoch des Rechtspopulismus ausgelöst, »wie wir ihn seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen haben«.[2]
Die unaufschiebbare Transformation in eine neue dekarbonisierte und digitale Betriebsweise erfordert auch Veränderungen in den individuellen Arbeits- und Lebensverhältnissen, die häufig Widerstand und Protest auslösen. Zudem wird die Halbzeitbilanz über die Reformschritte überlagert von »öffentlich inszeniertem Koalitionsstreit und vielen offenen Baustellen«. Im Kontrast zu einem vergleichsweise hohen Umsetzungsgrad werde die Ampel von vielen als »Streitkoalition« wahrgenommen. Diese Melange hat einen tiefsitzenden Vertrauensverlust bei den politischen Akteur*innen der Reformen von Gesellschaft und Natur ausgelöst.[3]
Diese verbreitete »Entfremdung« zwischen Wahlvolk und Regierung nutzt nicht etwa den konservativen Unionsparteien oder der Linkspartei, sondern wir sehen auch in der Berliner Republik einen deutlichen Aufwind für die völkisch-nationalistische AfD. Neben den ostdeutschen Bundesländern Brandenburg, Sachsen und Thüringen, wo im Herbst kommenden Jahres gewählt wird, ist Mecklenburg-Vorpommern das vierte Bundesland, in dem die AfD in Wahlumfragen aus den vergangenen Wochen mit 32% ganz vorne liegt.
Überraschend ist diese Entwicklung nicht.
[1] Renate Köcher, Das Vertrauen ist dahin. Halbzeitbilanz: Nur wenige trauen der Ampel noch zu, das Land voranzubringen, in: FAZ 21.September 2023.
[2] So seine Bewertung auf der Tagung des Transatlantic Forum on GeoEconomics 22. September in Berlin. Siehe dazu den Beitrag von Joachim Bischoff und Bernhard Müller über die AfD in diesem Heft.
[3] So auch das Ergebnis einer Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung: Vehrkamp, Robert und Theres Matthieß. »Mehr Koalition wagen – Halbzeitbilanz der Ampel-Koalition zur Umsetzung des Koalitionsvertrags 2021«. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 2023.