13. Juni 2019 Bernhard Sander: Komplizierte Regierungsbildung auch nach den Wahlen

Wie weiter in Belgien?

Regierungschef Charles Michel bleibt geschäftsführend im Amt.

Wer wird künftig Belgien regieren? Diese Frage war in der Vergangenheit schon nicht einfach und die Wahlresultate – für die Abgeordnetenkammer auf Bundesebene sowie die Parlamente in den drei Regionen Flandern, Wallonien und Brüssel – lieferten keine klare Antwort. Die Kurzformel lautet: Die Wallonie rückt nach links, Flandern nach rechts.

Auf nationaler Ebene drohen damit wieder zähe und langwierige Koalitionsverhandlungen. Die Parteien der Mitte – Sozialdemokraten vor allem, aber auch die bisher bestimmenden Liberalen (MR) – haben deutlich verloren, während die Grünen und die linke PTB/PvdA in allen Landesteilen einen Zuwachs erleben. Überraschend stark schnitt insbesondere die rechtsextreme Partei Vlaams Belang (VB) ab. Sie gewinnt in der nationalen Abgeordnetenkammer 15 Sitze dazu und wird mit insgesamt neuen 18 Mandaten zur zweitstärksten Kraft im Königreich

Die amtierende Regierung wird die Geschäfte bis zur Neuformierung einer Koalition weiterführen. Dabei hatte sie schon gegen Ende der letzten Amtszeit ihre Mehrheit verloren. Diese »Schwedenkoalition« war bei der Demontage des fordistischen Sozialstaatskompromiss gestolpert. Zwar hatte man erfolgreich und gegen den Straßenprotest der drei Gewerkschaftsbünde die Kopplung der allgemeinen Löhne an die Preisentwicklung gelockert. Doch bei der Heraufsetzung des Rentenalters war der Protest nachhaltiger.

Hinzu kam die Mobilisierung für eine andere Klimapolitik, nachdem auch die Energieproduktion in Atomkraftwerken durch Baumängel und Stillstand diskreditiert war. 267.000 Belgier*innen hatten vor den Wahlen einen Aufruf für mehr Klimaschutz unterzeichnet.

Belgien, das als Gründungsmitglied immer wichtiges Führungspersonal für die EU, Blauhelme und diplomatische Dienste in den ehemaligen afrikanischen Kolonien bereitstellte, droht mit der erneut drohenden Nichtregierungsfähigkeit ebenso wie viele andere EU-Länder in seiner außenpolitischen Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt zu werden, was die EU in den Auseinandersetzungen mit der Trump-Administration schwächt.


Der Kampf um das Sozialmodell

Die Auseinandersetzungen um die Rente bildeten einen Schwerpunkt des Wahlkampfes. Die Regierung Michel I. hatte nach den letzten Parlamentswahlen beschlossen, das Mindestalter für die Renten bis 2030 stufenweise auf 67 Jahre anzuheben. Dies sorgte für Unmut, denn keine der Regierungsparteien hatte dies so in ihrem Wahlkampfprogramm vorgesehen. Die rechtsbürgerlichen Nationalisten von der Neu-Flämischen Allianz (N-VA) sind der Ansicht, dass mit dem vorgesehenen Anstieg des Rentenalters noch nicht alles in trockenen Tüchern ist. Angesichts dessen, dass die Lebenserwartung der Menschen weiter steigt, müsse auch das Rentenalter angehoben werden. Andernfalls sei das Renten- und Sozialsystem in Belgien auf Dauer und langfristig nicht zu finanzieren.

Im N-VA-Parteiprogramm, nicht aber im Wahlprogramm heißt es: »Demografische Projektionen zeigen, dass die Lebenserwartung in Belgien bis 2070 weiter steigen wird. Eine entscheidende Bedingung, um die Bezahlbarkeit unserer Pensionen zu behalten und die Solidarität mit den jungen Generationen zu garantieren ist, dass das gesetzliche Rentenalter der Lebenserwartung folgt.«

John Crombez und seine flämischen Sozialdemokraten SP.A plädieren im Gegensatz dazu, das Mindestrentenalter eher wieder zu senken und wollen dafür sorgen, dass Arbeitnehmer*innen nach einer Laufbahn von 42 Arbeitsjahren Anrecht auf eine volle Rente haben. Die weitere Forderung der SP.A, eine Mindestrente von 1.500 Euro zu garantieren, nennt der Parteivorsitzende von N-VA Bart De Wever »Populismus«. Auch die Gewerkschaften, die sich bis zuletzt um Ausnahmen von einem Renteneintritt erst ab 67 Jahren für bestimmte Beschäftigtengruppen bemühten, werfen De Wever und der N-VA vor, »eine Gesellschaft der Stärksten« schaffen zu wollen. Für den Vorsitzenden der christlichen Gewerkschaft ACV, Marc Leemans, ist dies ein Renten-Darwinismus nach dem Motto »survival of the fittest«.

Die flämischen Christdemokraten CD&V lehnen eine weitere Anhebung des Mindestrentenalters ab: „Wir müssen alle etwas länger arbeiten, um die Renten bezahlbar zu halten. Die Reformen, die wir abgesprochen haben, führen wir aus. Doch von einer weiteren Anhebung kann mit der CD&V keine Rede sein.“

Neben der Rente drehte sich der Wahlkampf auch um andere sozialpolitische Themen. Die Jagd auf Langzeitarbeitslose müsse beendet und Steuerschlupflöcher gestopft werden forderte PTB. Hier hatte nicht N-VA, sondern der Wirtschaftsminister Kris Peeters von den flämischen Christdemokraten den Ton vorgeben. Er veröffentlichte kurz vor den Wahlen Pläne, nach denen das Arbeitslosengeld künftig am Anfang aus einem Festbetrag und einem Drittel des letzten Bruttogehaltes berechnet werden soll. Vor allem Arbeitslose aus niedrigeren Lohngruppen würden dadurch zunächst profitieren, weil sie deutlich mehr Geld vom Arbeitsamt bekämen. Nach einem Jahr soll dann das Arbeitslosengeld im Vergleich zum heutigen System deutlich sinken. Dadurch würden die Mehrkosten kompensiert.

N-VA, die bereits 2014 damit angetreten waren, ihre nationalistischen Ziele zugunsten von Gesellschaftsreformen zurückzustellen, bediente sich in der letzten Legislaturperiode immer wieder rassistischer und anti-islamischer Argumentation. Die Zuspitzung des Parlamentswahlkampfes auf die sozialen Themen Rente, Arbeitslosigkeit usw. ist der Partei nicht gut bekommen. Sie verlor als treibende Kraft der Sozialdemontage – ebenso wie die Liberalen – deutlich (4% bzw. 3%). Vor allem in Flandern kam das Programm der N-VA nicht gut an (-6,8%). Die Sozialdemokraten konnten in beiden großen Bundesländern nicht davon profitieren, sondern sanken nochmals um je 2,2%. Die Glaubwürdigkeit lässt sich offenbar ungleich langsamer wiederherstellen, als sie durch Ämterfilz, Waffenlobbyismus und Beihilfe zum Sozialabbau verspielt wurde. Die großen Gewinner sind die Rechtsextremen vom Vlaams Belang (+8,3%) und die PvdA/PTB mit +4,9%.

In seinen Wahlkampfreden unterstrich der scheidende Ministerpräsident Charles Michel vom liberalen Mouvement Réformateur (MR), die MR wolle weder Separatismus noch Ultrasozialismus unterstützen. Für Empörung sorgte Michel, weil er anfänglich von einem »national-sozialistischen Cocktail« sprach. Dieser Cocktail spalte und lasse die Menschen verarmen, das sei schlimmer als der Brexit: »Diese linken Parteien, ihre Rezepte und ihr Diktat ›Zwingen und Besteuern‹, haben immer zu größerer Verarmung geführt, zu mehr Arbeitslosigkeit, zu mehr Schulden und vor allem zu weniger freier Entscheidung und zu weniger Emanzipation für den Bürger.«

An diesen Rezepten habe die Linke nichts geändert. »Sie versprechen alles«, wetterte Michel und warnte: »Ihre Kostenlosigkeit, das ist der fiskale Tsunami für die arbeitende Mittelschicht und für die Menschen, die gearbeitet haben.« Um die rote Politik zu verhindern, gebe es nur eine Möglichkeit: »Wir, die liberale Familie sind in Wahrheit der einzige Schutz gegen die linken Parteien, die immer ausgezeichnete Idee haben, das Geld der anderen auszugeben.« Die liberale Bewegung propagierte eine Steuerreform im Gegenwert von zehn Milliarden Euro. Auf nationaler Ebene würde der Nettolohn von Arbeitern und Angestellten um 1.000 Euro pro Jahr steigen.

Außerdem wolle die MR auch die Lohnnebenkosten weiter drücken: Nicht wie bisher nur beim ersten Angestellten, sondern für die ersten drei Jobs in einem Betrieb sollen die sozialen Lasten wegfallen. Damit sollen 250.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, versprach Michel. Diese Maßnahme würde mit knapp 190 Millionen Euro zu Buche schlagen.

Michel sprach sich gegen die Abschaffung des Systems der Firmenwagen aus. Im Zusammenhang mit dem Klimaschutz plädiert die MR für steuerliche Anreize, als Alternative zu Steuererhöhungen. Das Thema gehe alle an. Keine Partei habe ein Monopol auf den Klimaschutz, auch die Grünen nicht.

Die Abwanderung vieler Wähler*innenstimmen zu den Grünen konnte der Liberale damit allerdings nicht stoppen. Bei den Grünen hießen die Schlagworte »Klima, Kaufkraft und das Zusammenleben«. Sie hatten bereits vor dem Wahlkampf ein zehn Milliarden Euro umfassendes Investitionsprogramm zur Gestaltung des Klimawandels vorgelegt.


Linksrutsch vor allem in der Wallonie

Die sozialdemokratische PS von Ex-Premier Elio Di Rupo bleibt trotz einiger Skandale weiter die größte Partei in Wallonien und verliert »nur« 4,7% und bleibt mit jetzt 26,2% vorn.

Mit dem Slogan »Phänomenal Sozial« trat die Partei der Arbeit/PTB als einzige belgische Einheitspartei in allen Regionen des Landes an. Parteichef Mertens: »Wir wollen mindestens acht Abgeordnete ins belgische Parlament schicken, gerne auch mehr. Wir wollen mit mindestens einem Abgeordneten erstmals ins flämische Parlament einziehen und auch mit mindestens einem ins Europaparlament.«

Die Kandidierenden sind Zugbegleiterin, Busfahrer, Klimaaktivistin und andere sogenannte kleine Leute. Ihr Wahlprogramm konzentriert sich auf die Tagesbedürfnisse der verarmenden Schichten, aber eine »große Erzählung« sucht man vergebens. Ein Schwerpunkt des Wahlprogramms liegt im Gesundheitswesen. Besuche bei Fachärzten sollen kostenfrei gestellt werden. Die Krankenhäuser sollen keinen Einzelzimmerzuschlag mehr erheben dürfen und die Fachärzte sollen nicht mehr nach Fallpauschalen, sondern mit tariflichen Gehaltszuschlägen honoriert werden.

Auf die grüne Welle, mit der die Gesellschaft eine Umorientierung des Wirtschaftsmodus verlangt, antwortet PTB/PvdA mit einer Fülle von Detailforderungen. »Wir sind gegen eine Besteuerung der gefahrenen Kilometer (belgische Variante einer CO2-Steuer), aber für einen besseren und kostenlosen öffentlichen Verkehr.« Es geht auch um Wasserstoffantriebe und mehr Investitionen in die öffentlichen Verkehrssysteme. Die Rechnung dafür solle man an die Reichen schicken.


Enttabuisierung der Rechtsextremen

In Flandern war der Sieg des Vlaams Belang überwältigend. Der wichtigste Wahlkampf-Auftritt war die gewalttätige Randale, mit der 5.000 Rechtsextremisten Brüssel im Frühjahr nach der Unterzeichnung der UN-Flüchtlingskonvention durch die Minderheits-Regierung Michel II. überzogen, die von N-VA auch nach ihrem Ausstieg aus der Koalition weiter toleriert wurde. Im flämischen Parlament verfügen N-VA und VB nun über eine Sperrminorität bei der Regierungsbildung (58 Sitze gegen 66). Es ist – wie auch auf nationaler Ebene – nun die Rede davon, die politische Quarantäne gegenüber dem Vlaams Belang aufzuheben.

Wahlverlierer De Wever zog bereits eine rote Linie für die Verhandlungen auf Bundesebene: »Es kann keine Regierung ohne Mehrheit in Flandern gebildet werden. Das werden wir nicht zulassen.« Er hat auf Bundesebene eine Koalition mit den Sozialisten, die in der Region Brüssel und in der Wallonie stärkste Fraktion sind, ausgeschlossen.

Rot-Rot-Grün hätte im 150 Sitze zählenden Bundesparlament etwa ebenso viele Abgeordnete (62) wie die amtierende Schweden-Koalition ohne N-VA. Denkbar wäre eine Mitte-Links-Koalition von Sozial- und Christdemokraten unter Einschluss der Grünen, die von PTB toleriert würde (nach portugiesischem Vorbild) mit 79 Mandaten. Sie könnte den Cordon sanitaire ersetzen, den die Bürgerlichen möglicherweis kündigen, und der linken Absage an den politischen Neoliberalismus Rechnung tragen.

Der König wird in den kommenden Wochen wechselnde Informatoren beauftragen, die Regierungsbildung zu sondieren. Das kann dauern. Die sozialen Auseinandersetzungen müssten erheblich intensiviert werden, um den belgischen Korporatismus ohne funktionierende Regierung vor weiterer Sozialdemontage zu bewahren.

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