27. Dezember 2012 Joachim Bischoff
2013: Japan als Vorbild in der Kapitalismuskrise?
Nach seinem Sieg bei der Parlamentswahl ist Shinzo Abe von der Liberaldemokratischen Partei (LDP) erneut zum Premier gewählt. Damit ist die Rechtswende in Japan fortgesetzt worden. Der neue Premier kündigt – neben einem verschärften Rüstungskurs – eine kräftige politische Kurskorrektur vor allem in der Wirtschafts- und Finanzpolitik an.
Der Grund für diese erfolgreiche politisch-populistische Restaurationsbewegung: Japan steckt bereits zum vierten Mal seit der Jahrtausendewende in einer Rezession. Die japanische Ökonomie laboriert an einer hartnäckigen Deflation, einer Spirale aus fallenden Preisen und sinkender Investitionsbereitschaft. Schon fast ein halbes Jahr weist die Handelsbilanz des Landes ein Defizit auf. Das ist die längste Periode seit 1980. Der neue japanische Premierminister beschuldigt die amerikanischen und europäischen Regierungen und Notenbanken, die Währungskurse zulasten des japanischen Yen zu manipulieren.
Der Umtauschkurs des Yen trifft die exportorientierten Großunternehmen Japans empfindlich, was in der weiteren Konsequenz die Gesamtökonomie schwächt, denn die japanische Wirtschaft weist schon längere Zeit keine relevanten Wachstumsraten auf. Der Zinssatz der japanischen Zentralbank befindet sich auf dem Nullniveau und insofern sind die konjunkturpolitischen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Im zurückliegenden Wahlkampf spielte die Überwindung der Stagnation oder leichte Deflation die wohl wahlentscheidende Rolle. Zwischen Juli und September schrumpfte die Wirtschaft auf das Jahr gerechnet um 3,5%. Zudem ist allein die Staatsschuldenquote mit über 200% des BIPs deutlich höher als etwa in Griechenland. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt sich für das japanische BIP-Wachstum pessimistisch. Sie erwartet für 2013 nur noch ein minimales Wachstum von 0,7%.
Japan wagt also für das kommende Jahr einen neuen Versuch mit geldpolitischen Maßnahmen. Die Stagnation der Wirtschaft soll mit einer geldpolitischen Offensive überwunden werden. Der neue Ministerpräsident Shinzo Abe von der rechtskonservativen Mehrheitspartei hat sich mit seinen Forderungen bereits durchgesetzt: Die Bank of Japan (BoJ) weitete das Anleihenkaufprogramm um 10 Bio. Yen (90,1 Mrd. Euro) aus und deutete zudem an, dass sie ihr Inflationsziel von derzeit einem Prozent erhöhen könnte. Japans letztes staatliches Ausgabenprogramm nach dem Tsunami im März 2011 führte nur kurzfristig zu einem Wiederaufbauboom. Gleichzeitig erhöhte sich aber die Staatsschuld weiter.
Seit Anfang der 1990er Jahre kämpfen Regierungen und die Bank of Japan gegen die Folgen des Platzens einer schweren Vermögenspreisblase an. Vom Platzen dieser »bubble« hat sich das Land bis heute nicht erholt. Laut dem japanischen Volkswirt Richard Koo sind die Preise für Gewerbeimmobilien seitdem um knapp 85% gefallen. Die Deflation (also ein fallendes Preisniveau) hat das Land nun seit 15 Jahren im Griff. Der japanische Aktienindex spiegelt die anhaltende Depression. Vom Höchststand bei knapp 40.000 Punkten ist er auf unter 9.000 abgestürzt und pendelt seither um die 9.000 Punkte.
Die hochverschuldeten Unternehmen haben sich nach dem Platzen der Blase bei den Investitionen zurückgehalten und vor allem ihre Schuldenquote gesenkt. Die Privathaushalte neigen seither gleichfalls zum zähen Sparen. Der Privatsektor fiel damit als Impulsgeber für eine Belebung der Kapitalakkumulation aus. Ein Absturz in eine rezessive Abwärtsspirale wurde über die Staatsausgaben verhindert und zwar über Jahre hinweg. Das Ergebnis schlägt sich allein bei den öffentlichen Schulden in einer Quote von weit mehr als 200% in Relation zum Bruttoinlandsprodukt nieder, der höchste Verschuldungsgrad aller kapitalistischen Hauptländer – und nur tragbar, weil die Auslandsschulden gering sind und die Gläubiger meist in Japan sitzen.
Seit dem Platzen der Vermögenspreisblasen 2007/2008 spielen sich in den USA, in Großbritannien, Spanien, Portugal und Irland ähnliche Szenarien ab wie in Japan. Auch in Griechenland waren die Hauspreise an der Fehlentwicklung der Ökonomie mitbeteiligt. Nach dem Platzen der Blase begann der Privatsektor (Unternehmen und Bürger), sich drastisch zu entschulden. Bankenprobleme kamen, wie in Japan, zwangsläufig dazu.
Die Konsequenz wird daher sein: Die betroffenen Staaten werden noch jahrelang als ökonomische Stabilisatoren fungieren müssen, was die Verschuldung weiter antreibt. Deutschland ist als Exportland und über den Euro natürlich mit betroffen. Andererseits aber profitieren wir als Krisengewinnler. Denn die Südeuropäer machen nicht, was die Japaner taten (und die Amerikaner tun): Sie geben ihr Geld nicht nur ihren Staaten, sondern investieren in deutsche Bundesanleihen. Ohne Währungsrisiko, zu Minimalzinsen, obwohl sie im eigenen Land deutlich mehr bekämen. Der Wirtschaftsweise Lars P. Feld beziffert den Zinsvorteil für die deutschen Etats in den vergangenen beiden Jahren auf 20 Mrd. Euro. Dabei müssen sich weder die deutschen Unternehmen noch die Privathaushalte massiv entschulden. Sie sitzen auf Geld, das investiert werden kann. Das muss man bedenken, wenn man die Gesamtsituation Europas einordnen will.
Nüchtern betrachtet haben Japan, USA und auch die europäischen Hauptländer kein Problem mit der hohen Verschuldung. Wenn die Zinsen bei Null liegen, gibt es wenig Probleme bei der Refinanzierung. Das kann Jahrzehnte so weitergehen, wenn die realen Zinsen negativ sind und keine Verwerfungen aus der Politik (siehe »fiscal cliff« in den USA) den fragilen Zustand gefährden. Beunruhigend bleibt die Aufblähung der Bilanzen der Notenbanken der USA, Großbritanniens, Japans und der Euro-Zone. Und beunruhigend bleibt, dass mit dem Nullzinsniveau faktisch das Steuerungszentrum für die Anlage von anlagesuchendem Kapital außer Kraft gesetzt ist.
Die Bilanzsumme der EZB beträgt gegenwärtig über 30% des Bruttoinlandprodukts (BIP) der Euro-Zone. Sollte das von EZB-Chef Draghi verkündete Programm der unlimitierten Käufe von Staatsanleihen (OMT) umgesetzt werden, würde sich ein weiterer Anstieg der Bilanzsumme ergeben. Die Bilanz der japanischen Notenbank entspricht ebenfalls rund einem Drittel des BIP des Landes; sie wird durch das 90 Bio. Yen betragende Kaufprogramm auf über 40% steigen. In der Größenordnung eines Viertels des BIP liegt die Bilanz der Bank von England; bestehende Kaufprogramme werden sie weiter aufblähen. Mit den beabsichtigen Käufen von Wertpapieren wird die Bilanz der US-Notenbank 2013 von relativ bescheidenen 17% auf 26% expandieren. Anfang 2008 hatten die Bilanzen der britischen und amerikanischen Notenbanken lediglich rund 7% des BIP entsprochen; die EZB kam bereits auf rund 15%.
Eine Entwarnung aus der fragilen Deflationskonstellation gibt es nicht. Die Akteure lauern auf einen Ausstieg aus der Politik von Nullzinsen, der Ausweitung der Notenbankbilanzen und der Neuverschuldung, doch gleichzeitig verharren alle in der Schockstarre: bloß die fragile Konstellation nicht gefährden. Es gibt Befürworter eines Kurswechsel der Notenbankpolitik, doch sie sind nicht an den Hebeln der politischen Macht. Die Kritiker der »Stabilitätspolitik« sehen die Zeit überreif für einen Kurswechsel der Geldpolitik, damit die Wirtschaftsregionen USA, Großbritannien, Japan und Euro-Zone zu einem expansiven Wirtschaftswachstum zurückfinden, das einen Abbau der Schulden erleichtert.
Wachstum alleine dürfte allerdings zum Abbau der hohen Verschuldung nicht ausreichen. Das Verhältnis der gesamten Kapitalmarktschulden zum globalen BIP beträgt ca. 350% : Einem BIP von 62 Bio. US-Dollar stehen Kredite und Schulden von 200 Bio. US-Dollar gegenüber. Eine Schuldenreduktion nur mit höheren Wachstumsraten wäre eine langwierige Angelegenheit; es müssen andere Formen der finanziellen Repression (Umschuldung) hinzukommen.
Der in der Weltwirtschaft ablaufende, vielschichtige Deleveraging-Prozess wird vorerst weiter für Deflationstendenzen sorgen. Eine Abkehr von der Nullzinspolitik bleibt für die nächst überschaubare Zeit Zukunftsmusik. Im Fokus stehen derzeit weiter die Anleihenkäufe, um die längerfristigen Zinsen zu drücken. Die FED kauft ab dem neuen Jahr für monatlich 40 Mrd. US-Dollar Hypothekenpapiere und für 45 Mrd. US-Dollar Staatsanleihen. Dies entspricht laut FED-Chef Bernanke der Unterstützung, die bereits im September beschlossen wurde. Hier zeigt sich eine zentrale Schwierigkeit dieser unkonventionellen Politik: Die FED-Bilanz wird weiter aufgebläht. Sie dürfte Ende 2013 insgesamt 4 Bio. US-Dollar erreichen. Dieser Betrag ist fünf Mal so hoch wie vor Ausbruch der Finanzkrise. Der Ausstieg aus der extrem lockeren Geldpolitik wird jedoch auch später nicht einfacher, wenn die Bilanz immer weiter wächst.
Wenn die US-Notenbank das ganze Jahr über das Tempo der Anleihenkäufe durchzieht, wird sie am Schluss für 540 Mrd. US-Dollar Staatsobligationen gekauft haben. Das Defizit des Bundeshaushaltes wird je nach Ausgang der Verhandlungen um das »fiscal cliff« auf bis zu eine Bio. US-Dollar geschätzt. Der Eindruck der monetären Finanzierung des Staates ist gefährlich, weil er Zweifel säht, wie ernst es dem FED mit der Preisstabilität wirklich ist.
Der Respekt der Notenbanken vor einer deflationär-depressiven Abwärtsspirale ist groß. Eine solche Konstellation wäre extrem gefährlich für den Reichtum der Nationen: Die Deflation hemmt den Konsum, die Investitionen und letztlich das Wirtschaftswachstum.
Wegen ihrer krisenbedingt ultraexpansiven Geldpolitik der vergangenen Monate sind die Notenbanken praktisch handlungsunfähig: Sie können nicht mehr einfach die Geldschleusen öffnen, um die Preise wieder in die Höhe zu treiben, denn die Schleusen stehen bereits weit offen. Solange die politischen Eliten mitspielen, wird dieser Zustand verlängert werden, bis irgendeine politisch-ökonomische Kleinigkeit verdeutlicht: Der Kaiser (sprich der Kapitalismus) ist bewegungsunfähig.