Claus-Jürgen Göpfert
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Kalle Kunkel
»Langer Atem – keine Geduld mehr«
Der Kampf um die Krankenhäuser als politischer Tarifkonflikt
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Erfahrungen, Kämpfe und Visionen in der weltweiten Ökumene
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Schuldenbremse
oder »goldene Regel«?

Verantwortungsvolle Finanzpolitik für die sozial-ökologische Zeitenwende | Eine Flugschrift
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Heiner Karuscheit
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20. Juni 2016 Joachim Bischoff / Hinrich Kuhls / Björn Radke

Abstimmung über den BREXIT als Zäsur

Die politische Auseinandersetzung in Großbritannien über einen Austritt aus der Europäischen Union ist hoch emotional. Mit dem Attentat auf die engagierte »Remain«-Aktivistin und Labour-Abgeordnete Jo Cox hat die aufgeladene Atmosphäre eine brutale Zuspitzung erfahren. Nach kurzer Unterbrechung wurde die Auseinandersetzung über einen Austritt wieder aufgenommen.

Vermutlich trifft der britische Historiker Niall Ferguson die Dimension der Entscheidung: »Wenn wir Briten tatsächlich für einen Austritt aus der EU stimmen, wäre das folgenschwer, für Großbritannien und für ganz Europa. Der sogenannte Brexit wäre nach der Finanz- und der Flüchtlingskrise der dritte Schock innert weniger Jahre. Es wäre ein Wendepunkt in der europäischen Geschichte.«

Eine wachsende Nervosität existiert nicht nur bei der britischen Regierung und dem politisch heterogenen Lager der Befürworter einer weiteren Mitgliedschaft, auch bei den EU-Institutionen und vielen Mitgliedsländern wächst die Spannung über den Ausgang der Abstimmung.

Ein Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union könnte die BürgerInnen – so haben Premierminister David Cameron und Finanzminister George Osborne noch einmal gewarnt – teuer zu stehen kommen, es müssten unter anderem die Steuern angehoben werden. Gestützt auf Berechnungen des unabhängigen Instituts für Finanzstudien IFS wird ein wahres Horrorszenario entwickelt: 30 Mrd. Pfund, also umgerechnet mehr als 37 Mrd. Euro, müsste die Regierung in den kommenden vier Jahren einsparen, um ein durch einen Brexit entstandenes Loch in den öffentlichen Finanzen des Landes zu füllen.

Zu diesem Defizit, bewirkt in den kommenden Jahren durch weniger Wirtschaftswachstum und geringere Steuereinnahmen, kommt hinzu, dass die Ausgaben für das Gesundheits- und Bildungswesen – beide befinden sich seit Jahren in einem desolaten Zustand – sowie der Rüstungssektor um voraussichtlich 2% zurückgefahren werden müssten – und selbst die staatliche Altersrente könnte von dem Sparkurs betroffen sein.

Mit diesem erneut vorgetragenen Horrorszenario erreichte die überwiegend konservativ geprägte Pro-EU-Kampagne Britain Stronger in Europe die Bevölkerung allerdings kaum. Als dominierendes Thema hat die Immigration die Debatte über ökonomische Fragen übertönt. Die starke Zuwanderung aus Osteuropa ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass die Labour-Regierung von Tony Blair den Arbeitsmarkt bei der EU-Osterweiterung 2004 sofort freiwillig vollständig für die neuen Mitglieder geöffnet hatte. Und die Regierung Cameron hatte versprochen, die immense Zuwanderung zu reduzieren, was ihr aber nicht gelungen ist. Die Rückkehr zu Wachstumsraten von vor der Krise hat viele Einwanderer auch in den letzten drei Jahren angezogen, etwa die Hälfte davon aus der EU.

Großbritannien hat sich von den wirtschaftlichen Folgen der Finanzkrise 2008 besser erholt als die meisten anderen europäischen Mitgliedsländer. Diese ökonomische Besserung hat den Lebensstandard regional und sektoral, aber recht unterschiedlich verändert, positiv am ehesten in London und Südengland. In vielen Regionen, vor allem in Nordengland, stellen sich die sozialen Probleme in alter Schärfe dar.

Vor diesem Hintergrund entwickelt das Thema Immigration seine Sprengkraft. Die Immigration aus Nicht-EU-Ländern, die Großbritannien inzwischen zunehmend einschränkt, wird erstaunlicherweise kaum thematisiert. Die Vorstellung, dass man die Einwanderung von Ausländern – gleich ob Arbeitsmigranten oder Studierende, gleich ob aus der EU oder von anderen Kontinenten – kontrollieren und beschränken könnte, ist der Hauptgrund, weshalb viele Briten aus der EU raus wollen.

Die möglichen Auswirkungen eines Austritts werden in der Argumentation seitens der konservativen Befürworter des Verbleibens in der EU immer wieder betont. Auch die britische Notenbank (Bank of England) ist kritisch und sieht vor allem Risiken. Ein Nein zur EU könne möglicherweise eine Rezession auslösen, zudem würde kurz- und mittelfristig der Außenwert des Pfunds stark fallen, die Inflation steigen und Arbeitsplätze abgebaut werden.

Die Politiker, die gegen einen Austritt sind, kommen – gestützt auf viele Studien – zu der These: Die ökonomischen Folgen wäre für die EU-27 weniger gravierend als für Großbritannien selbst.

Schiebt man das Horrorszenario beiseite, dann lassen sich folgende Aspekte festhalten:

  • London dürfte ein wichtiger Finanzplatz bleiben, aber einen Teil des Geschäfts an Plätze innerhalb der EU (Frankfurt, Paris, Luxemburg, Dublin) verlieren. Denn nur von dort aus hätten Finanzinstitute den vollen Zugang zum Binnenmarkt.
  • Mit einem Anteil am Bruttoinlandprodukt (BIP) der EU von 18% im Jahr 2015 ist Großbritannien die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU. Ein Brexit würde neben dem politischen auch das wirtschaftliche Gewicht der EU und ihre Attraktivität als Handelspartner reduzieren.
  • Fällt mit dem Austritt der Briten ein Nettozahler in den EU-Haushalt weg (der mehr einzahlt, als z.B. in Form von Regionalhilfen oder Agrarsubventionen zurückfließt), muss dies durch Einsparungen oder höhere Einzahlungen der übrigen Mitglieder kompensiert werden. London hat 2010 bis 2014 netto jährlich rund fünf Mrd. bis neun Mrd. Pfund beigetragen.
  • Weil die Mehrheiten der Bevölkerungsvoten im Vereinigten Königsreich regional sehr unterschiedlich sind, wird es möglicherweise erneut ein Referendum über die Rolle Schottlands geben.
  • Länder wie Irland und die Benelux-Staaten werden wegen ihrer engen wirtschaftlichen Verflechtungen mit Großbritannien stärker betroffen sein als Mitgliedstaaten im Süden und Osten Europas. Das niederländische staatliche Wirtschaftsforschungsinstitut CPB hat die bis 2030 wegen einer Reduktion des Handels zu erwartenden Einbußen für die Niederlande auf 10 Mrd. Euro oder 1,2% des BIP geschätzt.
  • Mit einem Brexit würden die politischen Gewichte in der EU verändert. Die Briten haben bisher entschieden eine neoliberale Ordnungspolitik unterstützt, d.h. einen liberalisierten und keinen sozialen Binnenmarkt, eine liberale Außenhandelspolitik sowie eine sparsame Haushaltsführung. Die Wirtschaftspolitik der EU könnte nach einem Austritt interventionistischer werden und ein stärkeres Gewicht auf Regulierung und eine Betonung der öffentlichen Wirtschaft legen.

Europa war lange Zeit eine der konfliktträchtigsten Regionen der Welt. Die europäische Integration hat die Kriege und Zerwürfnisse deutlich reduziert. Ein Austritt der Briten aus der EU könnte diesen Erfolg gefährden. Ein Brexit hätte zudem eine enorme Signalwirkung für das rechtspopulistische Spektrum. Durch ihn würden nicht nur die Versuche, die Desintegration innerhalb der EU-Institutionen voranzutreiben, forciert werden, sondern er wäre der Beginn einer weiteren Auflösung der EU. Überall auf dem Kontinent würden populistische Bewegungen versuchen, ihre Länder von der EU abzuspalten.


Wie sähe ein Brexit praktisch aus?

Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon 2009 ist der Austritt eines Mitgliedstaates aus der EU explizit möglich. Allerdings gibt der entsprechende Artikel 50 der EU-Verträge bloß grobe Leitplanken vor – Europa beträte mit einem Brexit also Neuland. Die britische Regierung müsste dem aus den EU-Regierungschefs bestehenden Europäischen Rat zunächst offiziell die Austrittsabsicht mitteilen.

Premierminister Cameron hat klargestellt, dass er den Willen der Bevölkerung respektieren werde. London würde so früh wie möglich die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens gemäß dem Artikel 50 des Lissabonner Vertrages aufkündigen. Der Zeitplan des Europäischen Rats sieht bisher vor, dass nach der offiziellen Mitteilung durch die britische Regierung die Konsequenzen Gegenstand der Sitzung des Europäischen Rats am 28. Juni sind.

Artikel 50 besagt, dass ab dem Austrittsgesuch das Vereinigte Königreich noch für maximal zwei Jahre Teil der Union sein wird. Die im Februar beschlossene Einigung zwischen Großbritannien und den anderen EU-Staaten kommt nicht zum Tragen. Innerhalb von zwei Jahren müsste die zukünftige Beziehung der Insel zur EU verhandelt werden. Wenn es zu keinem Abschluss kommt, erlischt die EU-Mitgliedschaft ohne besondere Regelung.

Der Austritt wäre der Beginn einer schmerzvollen, komplizierten und langwierigen Scheidung. Laut den Lissabonner Verträgen obliegt es den verbleibenden EU-Mitgliedern, die Bedingungen der Scheidung festzulegen. Der jetzige Premierminister Cameron würde vermutlich nicht mehr die Austrittsverhandlungen führen. Ob der neoliberal-konservative oder euroskeptisch-rechtspopulistische Flügel der Tories die Verhandlungsführung seitens des Vereinigten Königreichs dominieren wird, bleibt abzuwarten.

Ein Teil der verbleibenden EU-Mitglieder werden Großbritannien gegenüber Härte markieren, damit nicht weitere Mitgliedstaaten mit einem Austritt liebäugeln. Auch wenn für die Auflösung der vertraglichen Bindungen zunächst rund zwei Jahre veranschlagt sind: Die Aushandlung neuer Beziehungen und die Verabschiedung des Ergebnisses durch alle EU-Staaten und das Europäische Parlament würden vermutlich noch mindestens fünf Jahre in Anspruch nehmen. Treten befürchtete Austrittsdebatten in und mit anderen EU-Staaten ein, wird die Unsicherheit verstärkt.

Denn es ist unklar, was bei den verbleibenden Mitgliedern passiert. Ebenso wenig klar ist, ob es gelingt, ein breiteres Bündnis von politischen und gesellschaftlichen Kräften zu bündeln, um der entstandenen Herausforderung und der Rückwirkung auf die zentrifugalen Kräfte zu begegnen.


Brexit oder Remain: Die Folgen für die EU sind nachhaltig

Auch ein knappes Ja zur EU würde Probleme aufwerfen. Eine bloße Fortführung der bisherigen Logik wird die Akzeptanz der EU und der Euro-Zone nicht erhöhen. Im Prinzip müssten die Mitgliedsländer deutliche Anstrengungen unternehmen, um die offenkundigen Schwachstellen des europäischen Verbundes abzumildern. Das sind im Wesentlichen die Erhöhung des Wachstums, die Verminderung der Arbeitslosigkeit, der Ausbau der öffentlichen Investitionen und eine Eindämmung der wachsenden sozial-ökonomischen Unterschiede unter den Mitgliedsstaaten.

Ausgeschlossen werden kann nicht, dass es – wie auch immer das knappe Ergebnis aussieht – zu Friktionen auf den Märkten kommt. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat Notfallpläne in der Schublade, manche Ökonomen befürchten neue Turbulenzen in der Währungsunion. Die von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) ausgesprochene Warnung, dass »draußen draußen und drinnen drinnen« heiße, wird von vielen Politikern und Entscheidungsträgern geteilt. Jedes weitere Entgegenkommen für die Briten wäre für den weiteren Fortbestand der EU kritisch.

Das bisherige Kräfteverhältnis im Europäischen Rat und damit auch im EU-Ministerrat, in dem die Briten schon bisher eine bisweilen sperrige, aber immer wettbewerbs- und freihandelsorientierte Rolle einnehmen, verschöbe sich bei einem EU-Austritt spürbar zu Gunsten jener Länder, die in der EU tendenziell für Umverteilung und Protektionismus stehen.

Deutschland, das bei aller Unschärfe dieser Kategorisierung immer noch eher auf der Seite von Markt und Wettbewerb steht, dürfte dann auf größere Hindernisse stoßen. Ohne die Briten bekämen die Interventionisten eine deutliche Mehrheit von 39% gegenüber 26% der Freihandelsbefürworter. Für deutsche Vertreter einer neoliberalen Wirtschaftspolitik wäre der Brexit ein Rückschlag.

Nach der qualifizierten Mehrheitsregel, wonach 55% aller Länder (derzeit also 16 Staaten), die zudem 65% der EU-Gesamtbevölkerung stellen, eine Ratsentscheidung treffen können, dürften Deutschland und seine nordeuropäischen Gleichgesinnten ohne die Briten keine Sperrminorität zusammenbekommen – mit der Folge, dass sich die wirtschaftspolitische Ausrichtung der EU grundlegend verändern könnte.

Dass außerdem der britische Beitrag in den EU-Haushalt entfallen würde – er betrug 2014 netto knapp fünf Mrd. Euro –, gerät da fast zur Nebensache. Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung hält sich mit den direkten ökonomischen Wirkungen eines Brexit ohnehin nicht auf, sondern verweist auf die Gefahr eines politischen Dominoeffekts, etwa über ein Austrittsreferendum in Frankreich. Dass ein solches Szenario weit über rein ökonomische Effekte hinausginge, versteht sich von selbst.

EU-Präsident Jean-Claude Juncker gesteht ein, dass die EU-Kommission in Großbritannien sehr unpopulär ist: »Zu den Konsequenzen eines Brexit habe ich gesagt, dass der Deserteur nicht mit offenen Armen empfangen wird. Das steht für die Haltung der Kommission ebenso wie für die Einstellung anderer Regierungen. Und natürlich hätte das Folgen für das Wahlverhalten in anderen Staaten, die in eine Richtung gehen, die wir uns so nicht wünschen.«

Er unterscheidet zwischen jenen, »die gegen jede Form von Europäischer Integration sind«, und Skeptikern, die sich von Europa abwenden, »weil wir es versäumt haben, uns auf die großen Fragen zu konzentrieren, und uns gleichzeitig zu sehr in die Probleme der Staaten und Regionen einmischen... zu viel Europa endet damit, dass es Europa tötet. Genauso würde aber auch zu wenig Europa Europa töten.«

Unabhängig von dem Ergebnis des Referendums ist nicht nur die gesellschaftliche Spaltung des Vereinigten Königreiches manifest, auch Europa muss die Herausforderung zunehmender Kritik an der europäischen Verfasstheit zum Anlass für eine Reformagenda nehmen. Ein »Weiter so« wird die bestehenden Zentrifugalkräfte nur verstärken. In einer Erhebung des in Washington ansässigen Pew Research Center äußerten nur noch 50% der befragten Deutschen eine positive Meinung von der EU, das waren 8% weniger als noch im Vorjahr. In Frankreich sank die Zustimmung zur EU binnen Jahresfrist sogar um 17 Punkte auf 38%. In Großbritannien äußerten sich in der Pew-Befragung 48% negativ über die Union.

Für den Ansehensverlust sind offenbar die Unzufriedenheit über den Umgang mit der Flüchtlingskrise und mit der Wirtschafts- und Währungskrise verantwortlich. Unzufrieden mit der EU-Wirtschaftspolitik zeigten sich 65% der SpanierInnen, 66% der FranzösInnen, 68% der ItalienerInnen und 92% der GriechInnen. In Deutschland äußerten nur 38% ihr Missfallen.

Nicht einverstanden mit dem EU-Krisenmanagement angesichts des Flüchtlingszuzugs zeigten sich 67% der befragten Deutschen, 77% der ItalienerInnen, 88% der SchwedInnen und 94% der GriechInnen.

Im Aufwind sehen sich dagegen die Rechtspopulisten. Ein Brexit würde nach Ansicht der Vorsitzenden der rechtsextremen französischen Front National (FN), Marine Le Pen, die politischen Ziele der Rechtspopulisten in Europa befördern. Ein Austritt Großbritanniens aus der EU könne »der Beginn eines Europas à la carte«sein, sagte sie bei einer Veranstaltung der FPÖ in Wien.

Die EU müsse im Fall eines Brexits mit Großbritannien verhandeln und beweisen, ob sie zu strukturellen Veränderungen bereit sei, tönte auch der Chef der rechtspopulistischen FPÖ, Heinz-Christian Strache. Volksbefragungen wie das britische Referendum seien der einzige Weg, das Polit-Establishment in wichtigen Fragen »zu stoppen, aufzuhalten und zu korrigieren«. Unter dem Motto »Patriotischer Frühling« trafen sich in Wien Vertreter von neun rechtspopulistischen Parteien inklusive der AfD. Mittlerweile sei eine »große und stabile Parteien- und Parlamentarierfamilie herangewachsen« (Strache).


Gibt es progressive Antworten?

Die Konsequenz der Sozialdemokratie bei einem erfolgreichen Brexit besteht darin, gegenüber Großbritannien eine »harte Haltung« einzunehmen, so ließ sich der Fraktionsvize Axel Schäfer vernehmen. Vor allem müsse möglichen britischen Forderungen nach weiteren Zugeständnissen der EU ein Riegel vorgeschoben werden. Mit der »harten Haltung« soll der Domino-Effekt weiterer Austritte verhindert werden, zu dem europaskeptische Kräfte in anderen EU-Ländern durch den Brexit ermutigen werden könnten. Es bestehe die Gefahr, »dass alle nationalistischen Kräfte Auftrieb kriegen«.

Allein auf Abschreckung zu setzen, verkennt die vorhandenen Fliehkräfte der europäischen Krise. Die britische Labour-Party hat sich unter Jeremy Corbyn mit dem Motto »Bleiben und Reformieren« für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Sofern ein positives Votum gelingt, wollen der Gewerkschaftsbund TUC und die Labour-Party für eine Erneuerung der Politik mit dem Ziel der Beendigung neoliberaler Austerität kämpfen. Corbyn will mit seinen Vorschlägen eine Kursänderung der Wirtschaftspolitik bewirken, um die jahrzehntelange Austeritätspolitik durch eine Erneuerung der öffentlichen Infrastruktur im Verbund mit einer inklusiven Sozialpolitik in Britannien und in Europa abzulösen.

»Es ist ein starkes sozialistisches Argument in der Europäischen Union zu bleiben. Genauso wie es ein starkes sozialistisches Anliegen ist, progressive Reformen und Veränderungen durchzusetzen. Deshalb brauchen wir eine Labour-Regierung, um – auf europäischer Ebene – Arbeitsplätze und Kommunen in Britannien zu fördern, öffentliches Eigentum und öffentliche Dienste zu stärken, Arbeitnehmerrechte zu schützen und zu erweitern – und um zusammen mit unseren Bundesgenossen sowohl in Britannien als auch Europa so zu gestalten, dass sie für die arbeitende Bevölkerung besser funktionieren.«

Diese Perspektive Corbyns wird in der Linken in den Ländern Südeuropas geteilt, aber im Lande der europäischen Hegemonialmacht ist sie bis heute innerhalb der SPD nur von wenigen zur Kenntnis genommen worden. Und auch innerhalb der Linken jenseits der Sozialdemokratie wird sie als Anstoß für eigene Erneuerungsansätze nur verhalten aufgegriffen.

Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat angesichts der aktuellen Entwicklungen die »Mitte-Links-Parteien« dazu aufgerufen, ihre Kräfte zu bündeln. »In Europa müssen progressive Parteien und Bewegungen füreinander bündnisbereit und miteinander regierungsfähig sein«, mahnte der SPD-Chef. Das gelte auch für Deutschland. Das verlange einiges von den Sozialdemokraten und ihren denkbaren Partnern. »Doch der Gegner der Demokratie steht rechts. Deutschland braucht jetzt ein Bündnis aller progressiven Kräfte.«

Gabriel verlangte »mehr Kampfbereitschaft der demokratischen Linken«, um der Herausforderung durch rechte Kräfte zu begegnen. Zugleich forderte er die Intellektuellen in Deutschland auf, ihre Stimme zu erheben und »ihre gezierte und selbstverliebte Distanzierung von der ruppigen Welt der Parteiendemokratie abzulegen«.

Dieser Aufruf wird verpuffen, wenn dazu nicht auch ein Dialog mit den Vorschlägen Corbyns und den sozialistischen, sozialdemokratischen und linken Parteien und Regierungen in den Ländern auf den Weg gebracht wird, die um einen politischen Kurswechsel in Europa ringen. Derzeit sind die EU-Mitgliedsländer an der südlichen Peripherie (Griechenland, Portugal und Spanien) aufgrund ihrer kritischen Situation auf europäische Unterstützung angewiesen.

Wäre die deutsche Sozialdemokratie hier zu einem Umdenken bereit, wäre das ein erstes starkes Signal für die europäischen sozialdemokratischen und sozialistischen Kräfte, selbst auch eine sozialdemokratische Erneuerung einzuleiten. Und das könnte eine reale Chance für einen so dringenden Politikwechsel für eine Erneuerung Europas bedeuten.

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