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27. November 2020 Joachim Bischoff/Bernhard Müller

Armutsbericht: Corona-Pandemie verschärft die Armut

Foto: DIE LINKE NRW/flickr.com (CC BY-SA 2.0)

Kaum zu glauben: Etliche Zeitgenossen denken und schreiben: »Der Armutsbericht zeichnet ein hässliches Bild von Deutschland: Fast jeder sechste Einwohner habe nicht genug für ein angemessenes Leben. Ein schwer zu ertragendes Urteil angesichts eines Staates, der eine Rund-um-Absicherung für jeden bereithält.« [1]

Ein häßliches, erfundenes Bild? Der aktuelle Paritätische Armutsbericht [2] mit Daten zur regionalen Verteilung, zur Entwicklung und zur Struktur der Armut aus dem Jahr 2019, also noch vor der Corona-Pandemie, zeigt Deutschland als ein in wachsender Ungleichheit tief zerrissenes Land. [3] »Immer mehr Menschen leben ausgegrenzt und in Armut, weil es ihnen an Einkommen fehlt, um den Lebensunterhalt zu bestreiten und an unserer Gesellschaft gleichberechtigt und in Würde teilzuhaben. Volkswirtschaftliche Erfolge kommen seit Jahren nicht bei den Armen an und in den aktuellen Krisen-Rettungspaketen werden die Armen weitestgehend ignoriert. Was wir seitens der Bundesregierung erleben, ist nicht mehr nur armutspolitische Ignoranz, sondern bereits bewusste Verweigerung«, kritisiert Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands.

So hat die Armutsquote in Deutschland mit 15,9% (rechnerisch 13,2 Mio. Menschen) einen neuen Höchststand seit der Wiedervereinigung erreicht. Der Anstieg der Armut in 2019 erfolgte dabei praktisch flächendeckend.

 

Entkopplung von Wirtschaftsentwicklung und Armut

Der Anstieg der Armut im langfristigen Trend ist umso bemerkenswerter, weil im selben Zeitraum die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland äußerst positiv war. Bis auf 2009, dem Jahr der Wirtschaftskrise, wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in jedem Jahr nominal wie real. Während also auf der einen Seite der gesamtgesellschaftlich erwirtschaftete Wohlstand zunahm, stieg parallel dazu die Armut. »Ganz offensichtlich haben sich wirtschaftliche Entwicklung und Armutsentwicklung entkoppelt. Der Wohlstand dieses Landes findet nicht seinen Weg zu den Armen.«

Diese Entwicklung ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die sozialen Sicherungssysteme nicht entsprechend an die wirtschaftliche Entwicklung angepasst wurden. Die »Agenda 2010« und die Politik der nachfolgenden Bundesregierungen haben im Gegenteil mit ihrer Neujustierung der sozialen Sicherungssysteme und der Instrumente des Arbeitsmarkts – von der Rente, über das Arbeitslosengeld bis hin zu den Mindestsicherungsleistungen – aktiv das Downsizing des Sicherungsniveaus betrieben und zugleich einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa geschaffen. Der coronabedingte Einbruch der Wirtschaftsleistung macht eine Neujustierung nicht einfacher, denn sie unterstellt eine Rekonstruktion der Wertschöpfung (BIP pro Kopf), ohne die eine deutliche Aufstockung der Mindestsicherungsleistungen weiterhin eine massiv gespaltene Gesellschaft erzeugt: Das Bild vom hässlichen Deutschland wird verfestigt.

 

Wer ist besonders von Armut betroffen?

Auch 2019 waren Alleinerziehende, Erwerbslose, Menschen mit niedriger Qualifikation und Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit besonders von Armut betroffen. Die Armutsquoten für diese Gruppen liegen deutlich über 30%, nicht selten über 40% und zum Teil sogar bei knapp 60%. Aber auch Kinder und junge Menschen unter 25, Alleinstehende, Familien mit drei oder mehr Kindern und Menschen mit Migrationshintergrund haben deutlich häufiger ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze als der Durchschnitt. Mehr als jede fünfte Person aus diesen Gruppen lebt in Armut.

Im Langfristvergleich zwischen 2006 und 2019 fällt auf, dass in nahezu allen demografischen Gruppen die Armut zugenommen hat. »Bemerkenswert ist hier, dass die Armutsquote von Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit oder mit Migrationshintergrund deutlich weniger stark zugenommen hat als im Durchschnitt. War das Armutsrisiko beider Gruppen ab 2012/2013 noch angestiegen, sinkt es seit 2017 wieder. Die Armut in Deutschland ist gleichermaßen eine Armut von Deutschen und Nicht-Deutschen.«

Die stärkste, sehr kontinuierliche und im Trend dramatische Zunahme von Armut ist bei Rentner*innen und Pensionär*innen festzustellen: Lag ihre Armutsquote 2006 noch bei 10,3%, waren es 2019 bereits 17,1%. Dies bedeutet einen besorgniserregenden Anstieg um 66%.

 

Sozialstruktur der Armut

Alleinerziehende, Erwerbslose, Migrant*innen und Menschen mit schlechter oder ohne Ausbildung sind zwar besonders von Armut betroffen, machen aber keineswegs das Gros der Armen aus. So verfügen über 62% der über 25-jährigen Armen über ein mittleres oder sogar hohes Qualifikationsniveau. Die Mehrzahl der Armen (54%) hat keinen Migrationshintergrund, 73% besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit. Und nur knapp 8% sind überhaupt erwerbslos. Dagegen ist ein Drittel aller erwachsenen Armen erwerbstätig, während 30% in Rente oder Pension sind und noch einmal 30% nicht erwerbstätig sind und dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. »Diese Erkenntnis widerspricht nicht nur den geläufigen Debatten um Armut, sondern sie ist auch folgenschwer für politische Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut.«

 

Regionale Verteilung der Armut

Regional betrachtet wuchs die Armut 2019 im Vergleich zum Vorjahr praktisch flächendeckend. Positive Entwicklungen, die zuletzt in den ostdeutschen Bundesländern zu beobachten waren, sind gestoppt. Armutsgeografisch zerfällt Deutschland in zwei Teile: Im gut gestellten Süden haben Bayern und Baden-Württemberg eine gemeinsame Armutsquote von 12,1%. Der Rest der Republik, vom Osten über den Norden bis in den Westen, kommt zusammen auf eine Quote von 17,4%. Außerhalb von Bayern und Baden-Württemberg lebt durchschnittlich mehr als jede*r Sechste unterhalb der Armutsgrenze.

Den schlechtesten Wert weist, weit abgeschlagen, Bremen aus, wo mittlerweile jede*r Vierte zu den Armen gezählt werden muss, gefolgt von Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Nordrhein-Westfalen mit Quoten zwischen 18,5 und 19,5%. Am anderen Ende zeigen Bayern und Baden-Württemberg mit 11,9 und 12,3% mit Abstand die niedrigsten Werte.

Das problematischste Bundesland bleibt Nordrhein-Westfalen. Nicht nur, dass es deutlich überproportional von Armut betroffen ist und zu den fünf Ländern mit der höchsten Armutsdichte zählt. Hinzu kommt die Dynamik: »Seit Einsetzen des langfristigen Aufwärtstrends in 2006 ist die Armutsquote in Nordrhein-Westfalen zweieinhalbmal so schnell gewachsen wie die gesamtdeutsche Quote. Armutstreiber in Nordrhein-Westfalen ist das Ruhrgebiet mit einer Armutsquote von 21,4%. Das größte Ballungsgebiet Deutschlands muss damit zweifellos als Problemregion Nummer 1 gelten.«

 

Folgen der Corona-Pandemie

Der Verband warnt vor einer drastischen Verschärfung der Armut in 2020 angesichts der aktuellen Corona-Pandemie. Besonders betroffen seien geringfügig Beschäftigte sowie junge Menschen, die corona-bedingt schon jetzt von wachsender Arbeitslosigkeit betroffen sind. »Corona hat jahrelang verharmloste und verdrängte Probleme, von der Wohnraumversorgung einkommensschwacher Haushalte bis hin zur Bildungssegregation armer Kinder, ans Licht gezerrt. Eine zunehmende Zahl von Erwerbslosen stößt auf ein soziales Sicherungssystem, das bereits vor Corona nicht vor Armut schützte und dessen Schwächen nun noch deutlicher zutage treten«, so Ulrich Schneider.

Der Paritätische fordert die Umverteilung vorhandener Finanzmittel zur Beseitigung von Armut. »Deutschland hätte es in der Hand, seine Einkommensarmut abzuschaffen und parallel für eine gute soziale Infrastruktur zu sorgen. Es klingt banal und wird bei vielen nicht gern gehört: Aber gegen Einkommensarmut, Existenzängste und mangelnde Teilhabe hilft Geld«, so Schneider. Konkret seien eine bedarfsgerechte Anhebung der Regelsätze in Hartz IV und der Altersgrundsicherung (nach Berechnungen der Paritätischen Forschungsstelle auf mindestens 644 Euro), die Einführung einer Kindergrundsicherung sowie Reformen von Arbeitslosen- und Rentenversicherung nötig.

Alles deute darauf hin, dass die Auswirkungen der Corona-Krise Armut und soziale Ungleichheit noch einmal spürbar verschärfen werden. Der Verband wirft der Bundesregierung eine »armutspolitische Verweigerungshaltung« vor und fordert unter der Überschrift »Gegen Armut hilft Geld« eine sofortige Anhebung der finanziellen Unterstützungsleistungen für arme Menschen sowie armutsfeste Reformen der Sozialversicherungen.

 

Weitere Polarisierung bei Einkommen und Vermögen

Auf die durch die Corona-Pandemie sich verstärkende soziale Ungleichheit geht auch der aktuelle WSI-Verteilungsbericht 2020[4] ein. Danach waren die Einkommen in Deutschland bereits vor der Krise ungleich verteilt. Zwar war in den letzten Jahren ein leichter Rückgang bei den verschiedenen Indices zur Einkommensungleichheit zu beobachten, dieser war aber vor allem auf einen Anstieg der mittleren Einkommensgruppen zurückzuführen.

»Die Einkommen des untersten Dezils blieben 2017 noch unter denen von 2010 und auch die Einkommen des zweiten Dezils sind in diesem Zeitraum weniger stark gestiegen als die der oberen Einkommensgruppen. Der Vergleich der Sozialprofile der Einkommensarmen bzw. -reichen im Jahr 2017 verdeutlicht, dass insbesondere Arbeitslose, Personen ohne Hochschulabschluss, Singles und Alleinerziehende sowie Erwerbspersonen mit Migrationsbiografie deutlich häufiger von Einkommensarmut betroffen waren. Hingegen sind Selbstständige, Angestellte und Paare ohne Kinder deutlich häufiger einkommensreich als der Durchschnitt.«

Die Corona-Krise hat dann aber nicht alle Gruppen gleichermaßen getroffen, wie die WSI-Forscher*innen zeigen. Insbesondere Personen, die bereits vor der Krise nur über niedrige Einkommen verfügten, hatten durch die Krise häufiger Einkommenseinbußen. Im Gegensatz dazu sind Beschäftigte mit hohen Einkommen weniger von der Krise betroffen. »Somit ist auf Basis dieser Entwicklung anzunehmen, dass die Ungleichheit der Einkommen durch die Krise weiter zunehmen wird. Das bedeutet auch, dass insbesondere den sehr einkommensschwachen Gruppen während der Krise wohl noch weniger Einkommen zur Verfügung stehen wird. Zudem deutet sich an, dass auch die mittleren Einkommensgruppen, die vor der Krise stärkere Einkommenszuwächse verzeichnen konnten, diese durch die Krise zumindest teilweise wieder einbüßen müssen.«

Diese Entwicklung der Einkommen hat logischerweise auch Konsequenzen in der Verteilung der Vermögen. Bereits heute sind Vermögen wesentlich ungleicher verteilt als Einkommen, da das reichste Prozent der Bevölkerung 35% des Gesamtvermögens besitzt. Dieses Vermögen stammt größtenteils (40%) aus Betriebsvermögen und aus nichtselbstgenutzten Immobilien (25%) und wird somit in ertragssteigernde Anlagen wie in Vermietung und Unternehmen investiert.

So weisen aktuelle Untersuchungen darauf hin, dass das Vermögen der Superreichen nach einem kurzen Einbruch zu Beginn der Krise weiter gestiegen ist, da durch die Krise das Vermögen in der Gesundheits- und der Tech-Branche überproportional stark angestiegen ist (UBS/PwC 2020). »Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Studie der Allianz, die davon spricht, dass das Vermögen ›immun‹ gegen die Krise sei (Allianz 2020). Nicht profitieren von dieser positiven Entwicklung auf den Finanzmärkten können vor allem Personen, die kein Vermögen besitzen oder sogar verschuldet sind. Dabei handelt es sich überproportional häufig um Personen mit Migrationshintergrund und Arbeiter*innen (Schröder et al. 2020), also um die Personen, die durch die Krise besonders starke Einkommensverluste zu verzeichnen hatten. Somit scheinen sich die Ungleichheitsentwicklungen, die beim Einkommen zu beobachten sind, beim Vermögen noch weiter zu verstärken.«

Um verhindern, dass die Lücke zwischen Arm und Reich weiter auseinanderklafft, fordern die WSI-Forscher*innen, politisch dort anzusetzen, wo diese Ungleichheiten entstehen und unterscheiden dabei zwischen kurzfristigen Maßnahmen, die die Einkommenseinbrüche der benachteiligten Gruppen während der Krise abfedern sollen, und langfristige Maßnahmen, die den langfristigen Rückgang der Einkommens- und Vermögensungleichheit fördern.

Zu den kurzfristigen Schritten, um die Folgen der Corona-Krise auf die Einkommensarmut abzufangen, zählen:

  1. Anhebung des Kurzarbeitsgeldes: Vor allem um die Einkommenseinbußen der Beschäftigten im Niedriglohnsektor abzufedern, sollte hier zusätzlich zu den gesetzlichen Regelungen zur Aufstockung des Kurzarbeitsgeldes ein Mindest-Kurzarbeitsgeld definiert werden, dass die Existenz auch während der Krise sichert. Dieses Mindest-Kurzarbeitsgeld sollte sich wie zum Beispiel in Frankreich am Mindestlohn orientieren und sollte somit die Grenze von 1.200 Euro nicht unterschreiten.
  2. Gewährleistung institutioneller Kinderbetreuung: Da insbesondere Geringqualifizierte nur selten von zu Hause aus arbeiten können, muss die institutionelle Kinderbetreuung gewährleistet sein, damit gerade diese Eltern ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen können. »Darüber hinaus bedarf es einer Kompensation der Einkommenseinbußen von Familien, insbesondere in den niedrigeren Einkommensgruppen. Ein denkbares Instrument wäre die erneute Auszahlung eines erhöhten Kinderbonus. Da dieser mit dem Kinderfreibetrag verrechnet wird, käme dieser vor allem unteren und mittleren Einkommen zugute.«
  3. Qualifizierungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten: Durch die Krise hat die Digitalisierung einen großen Schub erfahren, sodass sich auch langfristig die Nachfrage nach einzelnen Jobs ändern wird. Insbesondere Tätigkeiten geringqualifizierter Beschäftigter könnten damit langfristig verloren gehen. Hierbei kommt insbesondere das Arbeit-von-morgen-Gesetz bzw. das Qualifizierungschancengesetz zum Tragen, das Betrieben in Kurzarbeit durch eine (zumindest teilweise) Übernahme der Weiterbildungskosten die Qualifizierung der Beschäftigten erleichtert. Allerdings gilt es hier die Voraussetzungen zeitweise anzupassen, um das Potenzial der Weiterbildung während der Kurzarbeit besser auszuschöpfen zu können.
  4. Erhöhung des Hartz IV-Regelsatzes: Die aktuellen Regelsätze des ALG II(Harz IV) sind in der jetzigen Ausgestaltung nicht armutsfest. Es empfiehlt sich daher eine sofortige Erhöhung der Regelsätze auf ein bedarfsgerechtes Niveau unter einer dauerhaften Anhebung der Vermögensfreibeträge.
  5. Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I: Mit einer Verlängerung der Bezugsdauer der ALGI über das Jahr 2020 hinaus bis zum Ende der Krise könnten jene vor weiteren Einkommensverlusten geschützt werden, die aufgrund des krisenbedingten Rückgangs von Neueinstellungen aktuell keine neue Arbeit aufnehmen können.

Um die Kluft zwischen Arm und Reich langfristig zu reduzieren, sind nach Ansicht der WSI-Autor*innen insbesondere folgende Maßnahmen notwendig:

  1. Verringerung des Niedriglohnsektors durch Anhebung des Mindestlohns. Um die Einkommensarmut zu reduzieren, müssen die Löhne im Niedriglohnsektor erhöht bzw. der Niedriglohnbereich weitestgehend abgeschafft werden. Hierfür muss der Mindestlohn schrittweise angehoben werden. Die Höhe des Mindestlohns beschreibt hierbei eine existenzsichernde Lohnuntergrenze, die nach EU-Konventionen 60% des Medianlohns von Vollzeitbeschäftigten entspricht, und momentan bei ca. 12 Euro liegt. »Weiterhin sollte bei der Reformierung des Mindestlohngesetzes neben diesem relativen Schwellenwert auch dieser existenzsichernde Mindestlohn als absolute Lohnuntergrenze gesetzlich verankert werden.«
  2. Stärkung der Tarifbindung: Der Ausbau der Tarifbindung spielt eine wesentliche Rolle bei der Reduktion des Niedriglohnbereichs. Denn insbesondere Beschäftigte mit geringem Monatsentgelt arbeiten deutlich seltener in Betrieben, die nach Tarifvertrag entlohnen. Eine Stärkung des Tarifvertragssystems würde demnach insbesondere dem Niedriglohnsektor zugutekommen. Hierzu sollten das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung erleichtert und Tariftreuevorgaben bei öffentlichen Aufträgen gestärkt werden.
  3. Besteuerung von Kapitalerträgen und Reformierung der Erbschaftssteuer: Um ein weiteres Ansteigen der Vermögenskonzentration zu vermeiden, müssen Kapitalerträge stärker besteuert werden. Daher sollten sie in die Einkommenssteuer integriert werden und somit progressiv anstatt wie bisher pauschal besteuert werden. Zudem sollten sehr hohe Erbschaften stärker besteuert werden.
  4. Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen von Migrant*innen und Ausbau des Angebots an Qualifizierungsangeboten. Zudem müssen potenzielle Diskriminierungsprozesse stärker in den Blick genommen und beseitigt werden.
  5. Bedarfsorientierte Beratung für Bedürftige: Um die Ungleichheiten der Einkommen zu reduzieren, ist neben finanzieller auch soziale Unterstützung nötig. Dies schließt zum Beispiel auch eine unbürokratische Hilfestellung bei Schulden oder Suchtproblemen ein.

Die Vorschläge des Paritätischen und des WSI zur Anhebung der Grundsicherungsleistungen, zur Stärkung der Position der Lohnarbeit und zur Eindämmung der sozialen Spaltung und Armut müssen verbunden werden mit Maßnahmen zur Stärkung von Industrie- und Dienstleistungssektor, die die Folgen des coronabedingten Einbruchs der Wirtschaftsleistung mildern und die notwendigen Transformationen dieser Sektoren (Digitalisierung, Dekarbonisierung) unterstützen. Darüber hinaus geht es auch um ein umfangreiches Programm für Investitionen in die soziale Infrastruktur.

Die Skandalisierung der Armut in Deutschland wird keineswegs getragen von einer Ignoranz des Sozialstaates. Im Gegenteil: Nur wenn mit der gesellschaftlichen Ökonomie auch eine Korrektur der Verteilungsverhältnisse eingeleitet wird, kann die umfassende Erneuerung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses gelingen. Verbandschef Schneider und seine vielen Mitstreiter*innen in der hierzulande breit aufgestellten Sozialindustrie unterschlagen nicht im Mindesten die enorme Unterstützungsleistung der Solidargemeinschaft gegenüber den Alten, Kranken und Schwachen.

Die von der »Welt« angegriffenen »Umverteilungsprediger« ignorieren keineswegs die Finanzlast derjenigen, die das Ganze bezahlen müssen. In Deutschland ist die Steuer- und Abgabenquote für Arbeitnehmer*innen hoch, dies ist der Preis für einen umfassenden Sozialstaat, an dessen Finanzierung sich die hohen Einkommensbezieher*innen und Vermögenden zu wenig beteiligen. Ein weiterer, überfälliger Ausbau der sozialen Sicherheit unterstellt die Behebung der Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung.

 

Anmerkungen:

[1] Dorothea Seims, Chefökonomin, Hässliches Deutschland? Dieses Bild ist vollkommen falsch, veröffentlicht am 20.11.2020 in Welt.de.
[2] Der Paritätische Gesamtverband, Gegen Armut hilft Geld. Der Paritätische Armutsbericht 2020,  November 2020. Die folgende Darstellung stützt sich auf diesen Bericht.
[3] Vgl. dazu auch: Joachim Bischoff/Bernhard Müller, Auf wessen Schultern? Die Corona-Pandemie befördert die soziale Ungleichheit, Supplement der Zeitschrift Sozialismus Heft 11/2020.
[4] Bettina Kohlrausch, Aline Zucco und Andreas Hövermann, Verteilungsbericht 2020. Die Einkommensungleichheit wird durch die Corona-Krise noch weiter verstärkt, WSI Report Nr. 62, November 2020. Die folgende Darstellung stützt sich im Wesentlichen auf diesen Bericht

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