20. November 2024 Joachim Bischoff und Björn Radke: Nach der 50. Bundesdelegiertenkonferenz
Aufbruch in eine grüne Zukunft ?
Robert Habeck wird die deutschen Grünen in die nächste Bundestagswahl führen. Der Wirtschaftsminister wurde im hessischen Wiesbaden mit 96% der Delegiertenstimmen offiziell zum Spitzenkandidaten der Grünen bestimmt. »Ich bewerbe mich, euch im Wahlkampf anführen zu dürfen«, sagte Habeck an die Delegierten gewandt.
Er habe im Sommer über seinen Rückzug nachgedacht. Die vergangenen Jahre in der Regierung seien nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Er wolle angesichts der Herausforderungen aber nicht kneifen und weiterhin Verantwortung tragen. »Und wenn es uns ganz weit trägt, dann auch ins Kanzleramt.«
Die Grünen haben politisch extrem belastende Monate hinter sich – und einen polarisierenden Bundestagswahlkampf vor sich. Anders als 2021, als sie zeitweise in den Umfragen führten und der Einzug ins Kanzleramt möglich schien, kämpfen sie dieses Mal gegen viel Unmut und auch Hass. Ihre Umfragewerte bewegen sich zwar langsam wieder in Richtung Zweistelligkeit. Jetzt wird die Partei auf etwa 11% taxiert. Dennoch ist selbst bis zum Ergebnis der letzten Bundestagswahl (14,8%) noch eine holprige Strecke zurückzulegen.
Drei Tage hielten Die Grünen ihre 50. Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) unter dem Motto »Der Start sind wir« ab. Der Termin lag schon seit längerem fest und hätte einen anderen Verlauf genommen, wäre es nicht zum Koalitionsbruch der Ampel eine Woche vorher gekommen. Den Parteitag eröffnete die scheidende Bundesgeschäftsführerin Emily Büning mit der positiven Nachricht, dass seit dem Bruch der Ampelregierung über 9.000 Mitgliedsanträge bei der Partei eingegangen sind. Im Verlauf der drei Tage stieg diese Zahl noch um 2.000 und damit auf über 143.000 Mitglieder. Damit war auch eine positive Tendenz aus der bundesdeutschen Gesellschaft gesetzt. Büning gab die Richtung vor: »Dieser Parteitag ist der Start in einen nie dagewesen Wahlkampf. Wir haben wenig Zeit, aber wir sind bereit!«
Es musste ein komplett neuer Bundesvorstand gewählt werden. Der alte hatte nach einer Reihe von empfindlichen Wahlniederlagen in Ostdeutschland im September erklärt, nicht mehr erneut kandidieren zu wollen. Die erste Ansage für eine veränderte inhaltliche Ausrichtung der Partei machte Annalena Baerbock. In ihrer Rede erinnerte sie an die Errungenschaften der Regierungsjahre der Ampel – so schwer die Kompromisse auch waren. »Wenn wir uns um innere Sicherheit und soziale Sicherheit kümmern, dann kümmern wir uns erst recht um Klimasicherheit. Denn sie ist das zentrale Sicherheitsthema unserer Zeit.«
Im Anschluss forderte Habeck zum nachdenklichen Widerstand gegen diese Ausgrenzung auf. »Wir müssen diese drei Tage nutzen, um über die nächsten drei Monate dieses Wahlkampfs nachzudenken. Unsere Aufgabe ist, den Unterschied zu markieren und Antworten zu geben, die andere nicht geben können.« Am Ende des Abends haben die Delegierten den Antrag des Bundesvorstands »Verantwortung in dieser Zeit« angenommen, der als »Ermunterung« zu verstehen ist.: »In einer Zeit, in der so viele die Verheißung im Gestern suchen, halten wir Kurs, zeigen eine positive Zukunftsvision auf und geben Hoffnung. […] Seien wir in hoffnungsarmen Zeiten der Hoffnungsort für alle, die daran glauben, dass es besser werden kann und besser werden wird. Dafür suchen wir Zukunftschancen im Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern und im politischen Wettbewerb.«
Im entsprechenden Antrag wird Habeck allerdings nicht »Kanzlerkandidat« genannt. Stattdessen wird der 55-Jährige als »Kandidat für die Menschen in Deutschland« bezeichnet. Gemeint ist damit aber dasselbe. Habeck habe das Zeug zu einem guten Bundeskanzler, heißt es in dem Text. »Ich bewerbe mich, euch im Wahlkampf anführen zu dürfen«, sagte Habeck an die Delegierten gewandt. Er habe im Sommer über seinen Rückzug nachgedacht. Er wolle angesichts der Herausforderungen aber nicht kneifen und weiterhin Verantwortung tragen. »Und wenn es uns ganz weit trägt, dann auch ins Kanzleramt.«
Verzagt wirkten die Grünen trotz de Umfragewerte an ihrem Parteitag keineswegs. Redner*in um Redner*in verwiesen auf die präzedenzlos hohe Zahl von Parteieintritten seit dem Ende der Regierungskoalition. Die Grünen sehen die Eintrittswelle als Indiz dafür, dass sie gebraucht werden. An den eingereichten Anträgen konnte man zugleich ablesen, dass es an der Basis brodelt. Und dass zu viele Grüne den aus Habecks Sicht fatalen Schluss ziehen könnten, es sei die Regierungspolitik, die der Partei bei ihren Wähler*innen schade. Der nun ebenfalls angekündigte Abgang und gleichzeitige Parteiaustritt des Vorstands der grünen Jugendorganisation weist ebenfalls in diese Richtung. Ihnen passt die ganze Politik nicht mehr.
Die Parteitagsmehrheit wollte mit der Führung den Aufbruch. Dass sie regieren wollen, steht außer Frage. Von Sehnsucht nach Opposition war nichts zu spüren, auch nicht bei der Parteilinken. Dem Widerstand gegen die Häme aus den rechtskonservativen und rechten populistischen Parteien setzten die Aktivist*innen ein wohl überlegtes »jetzt erst Recht!« entgegen. Für die meisten Wähler*innen von CDU und CSU sind zwar die Grünen zum Feindbild worden. CSU-Chef Markus Söder hat sich in dieser Frage deshalb schon eindeutig positioniert und eine Zusammenarbeit kategorisch ausgeschlossen. Und auch der CDU-Parteivorsitzende und Kanzlerkandidat der Union Friedrich Merz äußerte sich mehrfach skeptisch: Es gebe keine Partei im »demokratischen Spektrum der breiten Mitte«, die im Augenblick bei Unions-Mitgliedern und -Anhänger*innen so schlecht ankomme, sagte er. »Die Grünen lösen das aus mit ihrer Art der Politik, mit ihrer ständigen Bevormundung, mit ihrer Regulierungswut und ihrer Technikfeindlichkeit.«
Die Grünen lassen das Stimmungstief hinter sich
Habeck ging auf die Zweifel daran ein, ob eine Kanzlerkandidatur angesichts der schlechten Umfragewerte seiner Partei nicht anmaßend, wenigstens aber aussichtslos sei. Dennoch hoffen Habeck und die Grünen, in den knapp hundert Tagen bis zur Wahl am 23. Februar die Stimmung noch einmal zum eigenen Vorteil wenden zu können. Die Wähler*innen seien schließlich in ihrer Entscheidung volatil. Die Grünen setzen neben Kernthemen wie Klimaschutz darauf, dass die Angst vor Trump, Putin, AfD und Co. potenzielle Sympathisant*innen mobilisiert.
Habeck inszenierte sich und die Grünen in seiner Bewerbungsrede deshalb als Versicherung dafür, dass Deutschland und Europa Garanten der liberalen Demokratie blieben. Diese werde schließlich von außen und innen angegriffen, sagte Habeck warnend und verwies auf das Erstarken des Autoritarismus in der Welt, aber auch des Populismus in Deutschland.
Habeck geht nicht unbelastet in den Wahlkampf. Besonders das von ihm vorgelegte sogenannte Heizungsgesetz sorgte im vergangenen Jahr für einen Einbruch sowohl seiner wie auch der Beliebtheitswerte seiner Partei.
Wie von der Parteiführung erhofft und erwartet, wirkte der vorgezogene Wahltermin disziplinierend auf die Partei. Wäre erst im September gewählt worden, wäre die Kritik am Regierungshandeln grüner Minister*innen wohl deutlich schärfer ausgefallen. So blieb der programmatische Ballast gering, den die Linken dem innerparteilich als Pragmatiker geltenden Spitzenmann gerne auf die Schultern geladen hätten.
Der Parteitag war auch geprägt von der Verabschiedung der alten Bundesvorsitzenden Ricarda Lang, auf die Luisa Neubauer von »Friday for future« eine Laudatio hielt. Mit einer ernsten Rede, doch ohne Bitterkeit, hat sich Ricarda Lang auf dem Bundesparteitag der Grünen als Co-Vorsitzende verabschiedet. »Wir erleben eine tiefe Krise des demokratischen Systems«, sagte sie mit Blick auf die Stimmenzuwächse für die AfD bei den zurückliegenden Landtagswahlen. »Es reicht nicht, gegen Rechtsextremismus zu sein.« Notwendig sei auch, »das Leben von Menschen zu verbessern«. Es sei falsch, nach Misserfolgen zu sagen, man müsse seine Politik nur überzeugender verkaufen, mahnte sie. Und: »Wir sind nicht die Staubsaugervertreter der Demokratie.« Den Zynikern gehöre nicht die Zukunft, sie hätten zuletzt im politischen Raum dennoch viel Raum eingenommen.
Sie forderte eine klare Kommunikation für die Menschen und auch das Eingeständnis eigener Ratlosigkeit. Die Grünen dürften nicht nur den Zusammenhalt in der Gesellschaft einfordern, sondern müssten konkret sagen, wie es funktionieren könne für die Menschen. Auch beim Klimaschutz dürften die Grünen nicht so tun, als gebe es nur Gewinner, ohne über die Kosten zu reden. »Dann werden wir an Vertrauen verlieren«, sagt Lang. »Wir Grüne können uns das mit der Mitte der Gesellschaft in die Haare schmieren, solange wir als Elitenprojekt wahrgenommen werden.«
Weg von der Ein-Punkt-Partei
Die Wahl der neuen Bundesvorsitzenden verlief dann auch ohne Überraschungen. Franziska Brantner erhielt bei einer Gegenkandidatin 78,15% der Stimmen. »Wir ducken uns nicht weg bei Gegenwind, bei Anfeindungen«, sagte Brantner. Sie forderte Investitionen in Deutschland. »Den Gürtel enger zu schnallen bringt halt nichts, wenn die Hose schon fehlt«, sagte die Parlamentarische Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium von Robert Habeck. Aber auch sie betonte: »Wir sind die Partei, die die soziale Frage ernst nimmt«, sagte Brantner. »Es gibt nicht: hier die Klimafrage und dort die soziale Frage. Das ist eins.« Die Grünen ließen sich nicht von einer pseudosozialistischen Spitzenverdienerin Sahra Wagenknecht sagen, sie hätten die kleinen Leute vergessen. Der Co-Vorsitzende Felix Banaszak, aus Duisburg-NRW, kam bei vier Gegenkandidaten auf 92,88%.
Die neuen Bundesvorsitzenden machten klar, wohin die Reise beim anstehenden Winterwahlkampf gehen wird. Die Grünen wollen nicht nur mit ihrem Kernthema Klimaschutz punkten, sondern auch ihr Image als Partei der Besserverdienenden loswerden. Der Bundestagsabgeordnete aus Duisburg, »ein Kind des Ruhrgebiets«, wie er selbst sagt, verwies auf Stahlwerker, die inzwischen mit einer grünen Weste demonstrierten, weil sie auf eine grüne Zukunft in Deutschland hofften. Neu im Bundesvorstand ist auch Pegah Edalatian als Politische Bundesgeschäftsführerin der Grünen (81% der Stimmen), die Emily Büning ablöst. Sven Giegold, ebenfalls Parlamentarischer Staatssekretär im Hause Habeck, hatte sich um den Vizevorsitz beworben und wurde mit 80,81% der Stimmen gewählt. Heiko Knopf ist aus dem Landesverband Thüringen und der einzige Ost-Vertreter im Bundesvorstand.
Es wurden noch Anträge debattiert und abgestimmt. Darunter auch ein Antrag, der von der Grünen Jugend unterstützt wurde, die Schuldenbremse abzuschaffen. Dieser wurde mit Mehrheit zugunsten eines Textes abgelehnt, in dem es heißt: »Um das Gemeinwohl zu stärken, bedarf es ausreichender finanzieller Mittel. Diese sind notwendig, um in Bildung, Infrastruktur und soziale Dienstleistungen zu investieren und so den Wohlstand für alle zu sichern. Ein entscheidender Schritt ist die Reform der Schuldenbremse. Angesichts des Investitionsstaus der letzten Jahre müssen wir jetzt handeln und kluge Investitionsentscheidungen treffen, damit wir den nachfolgenden Generationen ein modernes, funktionierendes und klimaneutrales Land ermöglichen. Wir schlagen für diese investiven Ausgaben eine Reform der Schuldenbremse und einen Deutschland-Investitionsfonds vor.«
Beachtlich ist auch der verabschiedete Antrag zur »Reformierung der Erbschaftssteuer«. Dort heißt es: »Wir wollen mit einer grünen Erbschaft- und Schenkungsteuerreform die gravierenden Gerechtigkeitslücken im vorhandenen System schließen und so höhere Einnahmen erzielen. Hierbei soll die Besteuerung sehr großer Vermögen im Fokus liegen, sodass Vermögen zukünftig in relevantem Maße zur Staatsfinanzierung beitragen.«
Im Antrag »für eine Migrations- und Asylpolitik der humanitären Vernunft« heißt es: »Allzu oft werden in letzter Zeit politische Erwartungen geweckt, die Politik gar nicht erfüllen kann. Wir wollen uns dem nicht anschließen, sondern Leid und Chaos einer Politik der Humanität, Ordnung und einem rechtsstaatlichen Umgang mit Fluchtmigration entgegensetzen, der verhindert, dass bereits marginalisierte Gruppen weiter benachteiligt und entrechtet werden. Das Asylrecht kann praktisch nicht einfach abgeschafft werden, ein Aufnahmestopp oder systematische Zurückweisungen sind weder rechtlich noch praktisch in einer Demokratie umsetzbar und schon deswegen nicht Ziel grüner Politik.« Dem schlechten Abschneiden der Grünen in vor allem in den ländlichen Räumen soll zukünftig mit einer stärkeren Fokussierung auf die Stärkung der ländlichen Kreisverbände begegnet werden.
Vier Punkte und Aufbruchstimmung
Der dritte Tag stand ganz im Zeichen des kommenden Wahlkampfs mit der Nominierung Robert Habecks als Spitzenkandidat. Schon in den Tagen vorher wurde eine Imagekampagne auf den sozialen Medien gestartet, die dann auf dem Parteitag den vorläufigen Höhepunkt bildete. Dort wurde er nach seiner umjubelten Bewerbungsrede mit 96,5% zum Spitzenkandidaten gewählt. Die Aufbruchstimmung unter den Delegierten war mit Händen zu greifen.
Habeck führte in seiner Rede vier Bedrohungen für die Freiheit aus, die es zu erkennen und zu bekämpfen gelte. Erstens sei das die Bedrohung durch außen von autoritären Machthabern und allen voran dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Es sei »ein Kampf um die Freiheitsrechte, die Europa ausmachen«. Zweitens die Gefahr durch Populisten: »Der Spaltpilz des Populismus ist eingedrungen und breitet sich aus. Er findet seinen Nährboden in allem, was schwierig ist: in der Wirtschaftslage, Klimakrise, dem Krieg in der Ukraine, dem Umgang mit Flucht und Migration. In allem, was sich verändert.« Drittens drohe die Klimaerwärmung Freiheit und Sicherheit zu gefährden. »Mich treibt an, was vielleicht auch Sie, auch Euch antreibt: dass wir friedlich zusammenleben, in Freiheit. Dass wir Klima und Natur schützen, dass wir vor der nächsten Hitzewelle und Hochwassern besser gewappnet sind. Dass Unternehmen genügend Aufträge bekommen.« Als vierten Punkt nannte er die Resignation, die dazu führen könnte sich zurückzuziehen und aufzugeben.
Mit Blick auf die Zeit der Ampelkoalition und eigene Fehler sprach er auch das Gebäudeenergiegesetz an. Er sieht die Partei im Wahlkampf extrem herausgefordert: Besonders das von ihm vorgelegte sogenannte Heizungsgesetz sorgte im vergangenen Jahr für einen Einbruch sowohl seiner wie auch der Beliebtheitswerte seiner Partei. »Ich weiß, dass auch ich Vertrauen verloren habe.« Er versuchte in seiner Rede, diese Schwäche in eine Stärke zu verwandeln. Ja, das Gesetz sei zunächst kein gutes gewesen. Durch einen Schritt zurück sei es dann aber ein gutes geworden, sagte Habeck und inszenierte sich damit als Lernender und Zuhörender. Seine Antwort sei aber: »Jetzt nicht zu kneifen.« Er zitierte zur Begründung einen Satz, den er auch seinen Söhnen beim Erlernen des Schwimmens gesagt habe. »Du musst dich bewegen, sonst gehst du unter.« Dies nahm er für sich und seine Kandidatur in Anspruch.
Mit dieser Rede haben Robert Habeck, aber auch das neue Team, auf dieser BDK neue Akzente gesetzt und vor allem Zuversicht vermittelt, die von den Delegierten begeistert aufgenommen worden ist. Trotz der schlechten Wahlergebnisse der letzten Monate, des Umfragetiefs, dem Umbruch in der Parteiführung ist die positive Botschaft dieser BDK deutlich: Wir sind der Zukunft zugewandt mit einer progressiven linken Mitte-Orientierung. Sollte es der SPD nicht gelingen ihre aufkeimende Personaldebatte um den Kanzlerkandidaten schnell zu beenden, wird die Partei am Wahltag scheitern und die Grünen die bessere und realistischer Option einer progressiven Mitte-Links-Formation sein.