26. Juni 2020 Klaus Bullan: Der Bildungsbericht 2020
Besorgniserregende Befunde
Mitten in der durch die Corona-Pandemie bedingten Schließung von Kitas, Schulen und Hochschulen wird der seit 2006 zweijährlich erscheinende Bildungsbericht 2020 veröffentlicht.[1]
Auch der Schwerpunkt ist aktuell: »Bildung in einer digitalisierten Welt« trifft auf eine durch die Erfahrungen und Probleme mit dem nur teilweise praktizierten digitalen Homeschooling angefeuerte Debatte.[2] Diese Erfahrungen sind noch nicht in den Bericht eingegangen, er bestätigt aber eine Reihe von Befunden aus der Zeit der Schließung der Bildungseinrichtungen.
Während an den Hochschulen die Nutzung digitaler Geräte durch die Studierenden fast flächendeckend auch in Lehrveranstaltungen genutzt wird und der Einsatz von Campus- und Lernmanagementsystemen an Universitäten zu über 90% verbreitet ist, sind die deutschen Schulen – auch im internationalen Vergleich – eher Entwicklungsgebiet. Obwohl die Schüler*innen digitale Medien außerhalb der Schule auch für Unterrichtszwecke häufig einsetzen, spielen sie in Deutschland im Unterricht eine eher untergeordnete Rolle.
Mehr als die Hälfte der Achtklässler*innen gibt an, digitale Medien in der Schule weniger als einmal monatlich oder nie zu nutzen, nur 4% täglich (vgl. Abb. H 3-7, S. 256) »Um Hausaufgaben vor oder nachzubereiten oder in der Freizeit zu lernen, finden insbesondere Videoangebote (wie z.B. YouTube) oder digitale Werkzeuge zur Interaktion (wie z.B. Chatdienste oder soziale Netzwerke) häufig Anwendung. In der Schule gibt etwas mehr als jeder und jede Zehnte an, digitale Medien mindestens einmal pro Woche zu nutzen, um mit anderen Schülerinnen und Schülern online zusammenzuarbeiten (12%), Referate und Aufsätze (15%) oder Präsentationen (13%) vorzubereiten. Demnach unterscheiden sich die Lernwelten der Schülerinnen und Schüler in Deutschland inner- und außerhalb der Schule deutlich. Ein Blick nach Dänemark zeigt, dass dort der Einsatz digitaler Medien selbstverständlicher Teil des schulischen Alltags ist und digitale Medien von einem Großteil der Jugendlichen außerhalb der Schule für schulbezogene Zwecke genutzt werden.« (256f.)
Das ist zum einen auf Ausstattungsmängel zurückzuführen, denn im internationalen Vergleich klagen die Schulen hierzulande häufiger über fehlende oder unzureichende Ausstattung mit Computern und leistungsfähigen Internetverbindungen. Hinzu kommt, dass unter den Lehrkräften an deutschen Schulen eine größere Skepsis gegenüber der Wirksamkeit des Einsatzes digitaler Medien vorhanden ist. Dabei spielt vermutlich zum einen eine kritische Abgrenzung gegenüber unreflektierter »Technikgläubigkeit« in pädagogischen Prozessen ein Rolle, was sich an der größeren Ablehnung gegenüber digitalen Medien an Kitas und Grundschulen feststellen lässt.
Zum anderen ist auch die mangelnde Kenntnis vieler Pädagog*innen von digitalem Medieneinsatz an Schulen dokumentiert: »Bislang kommt der Vermittlung von pädagogischem und anwendungsbezogenem Wissen über digitale Technologien in der Ausbildung des pädagogischen Personals nur im Bereich der beruflichen Ausbildung eine Bedeutung zu, für die frühe Bildung sowie die allgemeinbildenden Schulen jedoch eher nicht. So haben bislang nur fünf Länder einheitliche Vorgaben erlassen, dass im Lehramtsstudium für den Primar und den Sekundarbereich I Veranstaltungen zum Erwerb von Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien anzubieten sind.« (S. 19)
Auffälligstes Ergebnis des Bildungsberichts 2020 ist, dass die weitere Steigerung der höheren Schulabschlüsse erstmals seit längerer Zeit zurückgeht und dass die Anzahl der Schüler*innen, die die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen, wieder ansteigt.
Zwar geht die Zahl der Schulen, die höherwertige Bildungsabschlüsse anbieten, wie Gymnasien und Schulen mit drei Bildungsgängen, noch immer nach oben zulasten der Schulen, in denen nur der erste oder zweite Bildungsabschluss (Hauptschulabschluss bzw. Realschulabschluss) erreicht werden kann. Aber auch wenn dadurch die Weichen nicht mehr so früh wie zuvor gestellt werden und die hohen Bildungsaspirationen der Eltern darin zum Ausdruck kommen: Der erfolgreiche Abschluss ist nicht gesichert.
»Bemerkenswert ist daran vor allem, dass der über viele Jahre als unaufhaltsam erscheinende Trend zu höherer Bildung an seine Grenzen gekommen ist. Die Gymnasialquoten nach dem Grundschulübergang stagnieren zuletzt fast überall oder sind sogar rückläufig ... Die bei den Abschlüssen schon jetzt beobachtbare Stagnation oder Rückläufigkeit der Absolventenquote mit mittlerem Abschluss und Hochschulreife … dürfte sich vor diesem Hintergrund in den kommenden Jahren weiter fortsetzen und entsprechende Folgewirkungen auf die Vorbildung und Teilnahmezahlen in den nachfolgenden Bildungsbereichen haben.
Hinzu kommt, dass sich auch am unteren Ende des Qualifikationsspektrums der langjährige Positivtrend umgekehrt hat. Seit 2013 verlassen Jahr für Jahr wieder mehr Jugendliche die Schule, ohne mindestens den Hauptschulabschluss erreicht zu haben ... Diese absolute wie auch relative Zunahme ist zwar eher gering, aber stetig und keinesfalls als unmittelbare Folge der punktuell sehr hohen Zuwanderung in den Jahren 2015 und 2016 zuzuschreiben. Für einen wachsenden Teil der Schülerschaft gelingt es offensichtlich nicht überall, ein Mindestniveau im Erwerb von Basiskompetenzen … und Abschlusszertifikaten … sicherzustellen.« (S. 148)
Beide Entwicklungen sind Ausdruck davon, dass es in dieser Gesellschaft für einen großen Teil der jungen Leute immer schwieriger wird, das Aufstiegsversprechen durch Bildung zu realisieren. Das Abitur wird einerseits immer mehr zur Eintrittskarte in ein erfolgreiches Berufsleben, denn es ist nicht nur für den Hochschulzugang, sondern auch für viele Ausbildungen im dualen System faktisch die Voraussetzung.
Wenn jetzt der Anteil der Abiturient*innen – und auch derjenigen mit mittlerem Bildungsabschluss – zurückgeht, ist das ein Warnsignal und vertieft die soziale Spaltung in der Gesellschaft, denn die Quote derjenigen an den Hochschulen, deren Eltern keine Akademiker*innen sind, wird dadurch weiter abnehmen.
Die wieder steigende Zahl derjenigen, die die Schule ohne einen Abschluss verlässt, ist angesichts der schon vor Corona fehlenden Ausbildungsplätze besonders für geringer qualifizierte Jugendliche besorgniserregend. Schon zuvor waren Jugendliche mit Migrationshintergrund aufgrund fehlender Ausbildungsplätze überwiegend im »Übergangssystem« der beruflichen Bildung zu finden. Dieser Trend wird sich jetzt verstärken.
Ganz anders sieht das der Sprecher der Autoren des Bildungsberichts: »Da scheint es eine zwangsläufige Grenze zu geben, und das ist auch gut so – es können nicht alle besser als der Durchschnitt sein«, kommentierte Kai Maaz vom Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Information. Die Entwicklung spiegele »womöglich eine gewisse Erdung der Gesellschaft« (Handelsblatt vom 23.6.2020).
Wenn die »zwangsläufige Grenze« dadurch gezogen wird, dass die Akademikerkinder Abitur machen und studieren, während die übrigen sich bestenfalls mit einer betrieblichen Ausbildung und schlechtestenfalls mit prekärer Arbeit oder Arbeitslosigkeit begnügen müssen, dann ist eine »Erdung der Gesellschaft« erreicht, in der es nicht für jeden und jede angenehm ist, zu leben.
Der Bildungsbericht zeigt auch erneut auf, dass es eine große Gruppe gefährdeter Jugendlicher und Kinder gibt, die entweder aus armen, aus formal gering gebildeten oder aus Familien mit Migrationshintergrund kommen, oder bei denen mehrere dieser Merkmale zutreffen. »Nach wie vor ist in Deutschland ein gerade im internationalen Vergleich enger Zusammenhang zwischen familialen Lebensverhältnissen, Bildungsbeteiligung sowie Zertifikats und Kompetenzerwerb nachweisbar.« (S. 40)
29% aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren sind von mindestens einer dieser Problemlagen betroffen, in bestimmten Bundesländern, z.B. in Bremen, liegt dieser Anteil deutlich höher und bei alleinerziehenden Haushalten sind fast 60% von mindestens einer Risikolage betroffen. Diese Schüler*innen benötigen besonders ein gut ausgebautes inklusives Bildungssystem.
Aufgrund der nach wie vor im internationalen Vergleich völlig unzureichenden finanziellen Ausstattung des Bildungswesens in Deutschland – der Anteil der Bildungsausgaben am BIP lag in der Bundesrepublik 2016 bei 4,2%, im OECD Schnitt bei 4,5% und in der EU bei durchschnittlich 5,0% – trifft der Mangel an frühkindlichen Bildungs- und Betreuungsangeboten und der Mangel an Ganztagsschulplätzen diese Kinder und Jugendlichen besonders hart. 357.000 Plätze für unter Dreijährige an Kitas fehlen, 15% der Eltern, die einen solchen Platz nachfragen, gehen leer aus (vgl. S. 89). In vielen Bundesländer liegt das Angebot an Ganztagsplätzen an Grundschulen um 20-25% unter dem Bedarf der Familien (vgl. S. 122).
Ein zügiger Ausbau des Bildungswesens, um den Investitionsstau aufzulösen, allen Kindern und Jugendlichen qualitativ hochwertige Ganztagsangebote in Kita und Schule anzubieten und das dafür notwendige Personal auszubilden und zu finanzieren, ist gerade in Zeiten von Corona besonders wichtig, um allen Kindern und Jugendlichen Chancen auf eine selbstbestimmte Zukunft zu bieten. Auch der Bildungsbericht 2020 zeigt, wie die Berichte in den Jahren zuvor, dass davon noch lange nicht die Rede sein kann.
Anmerkungen
[1] Autorengruppe Bildungsberichterstattung: Bildung in Deutschland 2020. www.bildungsbericht.de, alle Seitenangaben in Klammern beziehen sich darauf.
[2] Siehe hierzu ausführlicher: Klaus Bullan, Desaster digitale Schule, in Sozialismus.de, Heft 7-8/2020, S. 24ff.