24. September 2021 Klaus Bullan: Das neue OECD »Bildung auf einen Blick«
Bildung in Zeiten von Klimawandel und Pandemie
Zweierlei ist an der diesjährigen Untersuchung der OECD: »Bildung auf einen Blick«[1] besonders hervorzuheben: Erstmals werden die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (»Sustainable Development Goals« – SDG) bis 2030, auf die sich die Staaten der UNO 2015 nach langem Prozess geeinigt hatten, zum Mittelpunkt der Bildungsberichterstattung der OECD gemacht.
Das vierte Ziel dieser 17 Ziele umfassenden Agenda befasst sich mit Bildung: »Gemäß diesem allgemeinen Schwerpunkt konzentriert sich der SDG-Indikator in Bildung auf einen Blick 2021 auf den Stand bei Zielvorgabe 4.5, ›bis 2030 geschlechtsspezifische Disparitäten in der Bildung [zu] beseitigen und den gleichberechtigten Zugang der Schwachen in der Gesellschaft, namentlich von Menschen mit Behinderungen, Angehörigen indigener Völker und Kindern in prekären Situationen, zu allen Bildungs- und Ausbildungsebenen[zu] gewährleisten‹.« /20/ Chancengerechtigkeit steht also im Zentrum des diesjährigen Blicks der OECD auf die Bildung.
Zweitens wird der diesjährige Bericht ergänzt durch eine Sonderuntersuchung, die sich mit den Folgen des Corona-Lockdowns in allen Teilnehmerstaaten beschäftigt. Hier umfasst der Beobachtungszeitraum die Zeit von Anfang 2020 bis Mai 2021, während »Bildung auf einen Blick« auf den Daten von 2019/2020 basiert.
»Die Coronakrise (Covid-19) hat die Bildungssysteme auf der ganzen Welt vor signifikante Herausforderungen gestellt, insbesondere was die Chancengerechtigkeit betrifft, da sich Jugendliche mit sozioökonomisch ungünstigem Hintergrund beim Fernunterricht oder bei der Rückkehr in die Schulen nach deren Wiedereröffnung eher mit Schwierigkeiten konfrontiert sehen (OECD, 2021[2]). In dieser Ausgabe von ›Bildung auf einen Blick‹ liegt ein Schwerpunkt auf dem Thema Chancengerechtigkeit.« /38/
Zugang zu inklusiver, gleichberechtigter und hochwertiger Bildung für alle zu gewährleisten (SDG 4), ist auch im Jahr 2021 in keinem Land der OECD erreicht:
- An frühkindlichen Bildungs- und Betreuungsangeboten nehmen ein Jahr vor der Einschulung zwar 95% aller Kinder teil, es gibt aber erhebliche Unterschiede zwischen den Staaten. Insbesondere die Teilnahme von Kindern aus Haushalten mit geringen Einkommen ist nicht gewährleistet. /Vgl. 34/
- Geschlechtergerechtigkeit ist nicht hergestellt: Mädchen und Frauen schneiden in fast allen Ländern bei den Leseleistungen in der Schule, beim Abschluss im Sekundarbereich II, bei den Studierenden und den Hochschulabschlüssen besser ab. Dagegen sind sie in den MINT-Fächern, den Promotionen, Hochschullehrer:innenstellen und vor allem bei der Vollzeiterwerbsquote und den Einkommen deutlich benachteiligt.
- Die soziale Gerechtigkeit bezüglich der Lernergebnisse und Bildungsabschlüsse ist in allen untersuchten Staaten nicht gegeben: »Im Durchschnitt der OECD-Länder ist der Anteil Schüler, die Stufe 2 in PISA erreichen, für Schüler des untersten Quartils des PISA-Index des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Status (ESCS) rund 30% geringer als für Schüler des obersten Quartils.« /36/
- Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind in fast allen Staaten beim schulischen Lernen benachteiligt: »Im Durchschnitt der OECD-Länder ist der Anteil derjenigen, die beim Lesen die Stufe 2 in PISA erreichen, für Schüler mit Migrationshintergrund rund 20% geringer als für nicht zugewanderte Schüler.« /36/
- Im Sekundarbereich II ist die Bildungsbeteiligung in fast allen Ländern unzureichend. Im Durchschnitt gehen 7% der Jugendlichen nicht (mehr) zur Schule. Allerdings liegt bei einem Viertel der Staaten – einschließlich der Bundesrepublik Deutschland – dieser Anteil über 10%. Im Grundschul- und SEK I Bereich ist wegen der Schulpflicht eine sehr hohe Schulbesuchsquote erreicht.[2]
»Ein Abschluss im Sekundarbereich II ist zu einer Mindestanforderung geworden, um heute in Wirtschaft und Gesellschaft zurechtzukommen. Junge Menschen, die die Schule vor einem Abschluss im Sekundarbereich II verlassen, haben nicht nur Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt, sondern sind tendenziell auch weniger gut in ihrem sozialen Umfeld vernetzt als Gleichaltrige mit höherem Bildungsstand (OECD, 2019[6]).« /48/
15% aller 25-34-Jährigen in der OECD haben noch immer keinen solchen Abschluss, obwohl sich die Quote gegenüber der Bevölkerung im Alter von 25-64 Jahren, von denen 21% keinen Abschluss haben, deutlich verbessert hat. Zahlreichen Staaten ist es in den letzten Jahren gelungen, die Abschlussquoten deutlich zu erhöhen. Die Bundesrepublik Deutschland zählt nicht dazu. Mit 13% ohne Abschluss bei den Jüngeren stagniert dieser Wert gegenüber der Bevölkerung zwischen 25 und 64 Jahren, für die dieser Wert bei 14% liegt.
Deutschland gehört auch zu den Staaten, bei denen die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen unter denjenigen, die über keinen SEK II-Abschluss verfügen, besonders ausgeprägt ist: 43% aller Erwachsenen in dieser Gruppe verdienen weniger als die Hälfte des Medianeinkommens – nur in Norwegen ist diese Verteilung noch extremer. Das unterstreicht, dass die Bedeutung der Bildungsabschlüsse für das Einkommen in der Bundesrepublik besonders wichtig ist.
Gleiches gilt für die Vermögensverteilung: »In zahlreichen der OECD-Länder mit verfügbaren Daten ergibt sich beim Vergleich unterschiedlicher Bildungsstände nur ein kleiner Unterschied in der Vermögensungleichheit. Nur in Dänemark, Deutschland und Österreich ist das Verhältnis von Mittelwert zu Median für Haushalte, deren Haushaltsvorstand über einen Bildungsstand unterhalb Sekundarbereich II verfügt, mindestens doppelt so hoch wie das Verhältnis für Haushalte, deren Haushaltsvorstand über einen höheren Bildungsstand verfügt. Am ausgeprägtesten ist die Vermögensungleichheit in Dänemark und Deutschland, wo das mittlere Nettovermögen der Haushalte, deren Haushaltsvorstand über einen Bildungsstand unterhalb Sekundarbereich II verfügt, über 10-mal so hoch ist wie das Medianvermögen.« /104f./
Nach wie vor ist außerdem der Anteil der Studierenden und der Studienabschlüsse in der Bundesrepublik geringer als im OECD-Durchschnitt und gegenüber vergleichbaren Staaten deutlich geringer. Obwohl auch in der Bundesrepublik in den letzten Jahren die Studierendenzahlen stark zugenommen haben, war dieser Anstieg im Durchschnitt der OECD Staaten von wesentlich höherem Niveau ausgehend noch größer.
Obwohl der Anteil der öffentlichen Ausgaben im Tertiärbereich in der Bundesrepublik Deutschland deutlich höher ist als im Länderdurchschnitt, weil nur an privaten Hochschulen Studiengebühren von den Studierenden zu entrichten sind, bleiben die öffentlichen Ausgaben für Bildung in der Bundesrepublik weiterhin deutlich gegenüber vergleichbaren europäischen Staaten zurück. Nur 9,2% der staatlichen Ausgaben werden in der BRD für Bildung ausgegeben, im OECD-Durchschnitt sind das 10,7%, in Staaten wie den Niederlanden, Schweden, Norwegen, Korea und Neuseeland liegen die Anteile bei 12-13%.
Das erklärt zu einem großen Teil die massiven Mängel in der Ausstattung der Bildungseinrichtungen hierzulande. Deutschland investiert 4,3% des BIP in Bildung (ohne Forschung und Entwicklung), der OECD-Durchschnitt liegt bei 4,9%, Staaten wie Norwegen, das Vereinigte Königreich und die USA investieren 6% und mehr in Bildung. /Vgl. 299/
Corona verschärft soziale Schieflage
Corona hat weltweit die Probleme im Bildungsbereich und die soziale Schieflage weiter verschärft. Kita-, Schul-, und Hochschulschließungen haben seit Anfang 2020 die meisten Länder im OECD-Vergleich mehr oder weniger massiv betroffen.
Ein Überblick der Sondererhebung zu den Corona-Folgen der OECD[3] zeigt, dass von durchschnittlich ca. 300 Schultagen in den OECD-Ländern durch vollständige oder teilweise Schließungen etwa die Hälfte der Schulzeit beeinträchtigt wurde. Deutlich wird auch, dass die Staaten sehr unterschiedlich betroffen waren: Die Spanne reicht von über 250 Tagen in Litauen, Polen und Mexiko bis unter 50 Tagen in Neuseeland, Finnland und Korea. Auffälliger Befund ist außerdem, dass die Länge der Schulschließungen nicht korreliert mit der Höhe der Corona-Inzidenzzahlen in den einzelnen Ländern.
In der Bundesrepublik Deutschland waren die Schulen von Anfang 2020 bis Mai 2021 an 186 Tagen von vollständiger oder partieller Schließung (Wechselunterricht, Lockdowns bei Infektionsverdacht) betroffen. Insbesondere im Jahr 2021 war Deutschland hinter Lettland das Land, in dem sowohl Grund- als auch Sekundarschulen besonders stark von (Teil)Schließungen betroffen waren.
Dass das massive Probleme vor allem für diejenigen Kinder und Jugendlichen mit sich bringt, die von der sozialen Herkunft her benachteiligt sind, weil sie keine ausreichenden materiellen und bildungsmäßigen Ressourcen für den »Fernunterricht« haben, sondern auf den Unterricht in der Schule viel mehr angewiesen sind, als Schüler:innen aus bessergestellten Haushalten, gilt für die Bundesrepublik ebenso wie für die anderen OECD Staaten.[4]
Hinzu kommt, dass der Übergang in das Berufsleben in der Pandemie besonders prekär geworden ist: »In wirtschaftlich schwierigen Zeiten wird der Übergang vom (Aus-)Bildungssystem zum Erwerbsleben, der nie einfach ist, zum wirklichen Problem. In der Folge der Finanzkrise von 2008 stieg die Jugenderwerbslosenquote beinahe 2-mal so stark wie die Erwerbslosenquote der Erwachsenen (Bell and Blanchflower, 2011[3]). In einigen Ländern scheint sich dieses Szenario mit dem Anstieg der Jugenderwerbslosigkeit in den ersten Monaten des Jahrs 2020 zu wiederholen. In den Vereinigten Staaten stieg z.B. die Erwerbslosenquote junger Menschen (15- bis 24-Jährige) von 7,8% im Februar 2020 auf 27,4 % im April 2020, in Kanada im gleichen Zeitraum von 10,4 % auf 27,3 %. In vielen Ländern entwickelten sich die Erwerbslosenquoten nach dem Höhepunkt wieder rückläufig, blieben jedoch auf einem höheren Stand als zu Jahresbeginn … Umfangreiche Untersuchungen haben außerdem gezeigt, dass ein Berufseinstieg während einer Rezession dauerhafte wirtschaftliche und soziale Auswirkungen auf Beschäftigungsmöglichkeiten, Bezahlung, Zuversicht und Wohlergehen hat«. /64/[5]
Die Pandemie hat die soziale Benachteiligung und die Abhängigkeit der Bildungserfolge vom sozialen Status der Herkunftsfamilie, die weltweit gegeben, aber in der Bundesrepublik Deutschland besonders ausgeprägt ist, weiter verschärft. Der Weg hin zu mehr Bildungsgerechtigkeit, eins der von der UNO verkündeten nachhaltigen Entwicklungsziele bis 2030, wird so noch schwerer zu erreichen sein:
»Zu viele Menschen aus benachteiligten Verhältnissen nehmen seltener an Bildung teil, erzielen seltener gute Ergebnisse, finden seltener eine geeignete Beschäftigung und betreiben seltener lebenslanges Lernen. Dadurch entwickeln sie auch seltener die Fähigkeiten, die für den Erfolg in unserer sich wandelnden Wirtschaft erforderlich sind. Im Durchschnitt der OECD-Länder dauert es voraussichtlich 5 Generationen, bis ein Kind aus einer benachteiligten Familie das durchschnittliche nationale Einkommen erreicht.« /12/
Anmerkungen
[1] OECD, Bildung auf einen Blick 2021.
[2] Zu berücksichtigen ist hier, dass nur OECD-Staaten und Aufnahmeaspiranten beteiligt sind. In vielen anderen Ländern vor allem in Afrika, Lateinamerika und Asien ist auch der Schulbesuch für jüngere Kinder oft nicht gewährleistet.
[3] OECD: The state of global education – 18 Month into the pandemic, September 2021.
[4] Für die Bundesrepublik vgl. auch: Klaus Bullan: Jugend, Corona, Alltagsbewusstsein in: Sozialismus.de, Heft 1/2021.
[5] Vgl. hierzu: Otto König/Richard Detje, Ausbildungsmarkt auf historischem Tiefpunkt, in: Sozialismus.deAktuell vom 14.9.2021.