23. Mai 2020 Joachim Bischoff: Der Volkskongress berät in Beijing
China im Kampf gegen die Folgen der Pandemie
Mit zusätzlichen Milliardenausgaben und neuen Schulden will die Volksrepublik China gegen die wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Pandemie ankämpfen. Das kündigte Premierminister Li Keqiang am Freitag zum Auftakt des Volkskongresses in Beijing an. Vorgesehen sind zusätzliche Staatsausgaben zur Wiederbelebung der Wirtschaft sowie ein verstärkter Ausbau der Infrastruktur.
»Dies sind außergewöhnliche Maßnahmen für ungewöhnliche Zeiten«, rechtfertigte der Regierungschef die Neuverschuldung. Experten schätzen, dass das Konjunkturprogramm sich auf mindestens 4% der Wirtschaftsleistung belaufen könnte. Vor den rund 2.900 Abgeordneten in der Großen Halle des Volkes eröffnete der Regierungschef den Volkskongress mit dem Rechenschaftsbericht der Regierung. Im Mittelpunkt standen der Wirtschaftsplan für die zweitgrößte Volkswirtschaft und die Hilfen zur Ankurbelung der Konjunktur, die durch die Corona-Krise schwer beschädigt worden ist.
Anders als sonst üblich benannte der Premier in diesem Jahr »wegen der großen Unsicherheiten« durch die Corona-Krise kein Ziel für das zukünftige Wachstum der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt. Im vergangenen Jahr war die Wirtschaft mit 6,1% gewachsen, im ersten Quartal 2020 ging sie bereits um 6,8% zurück.
Li Keqiang kündigte zusätzliche Staatsausgaben in Höhe von rund 128 Mrd. Euro an, mit denen die Wirtschaft wieder belebt werden soll. Außerdem soll der Ausbau der Infrastruktur verstärkt werden, was durch eine Ausweitung des Umfangs regionaler Anleihen von 2,15 auf 3,75 Billionen Yuan finanziert werden soll. Und die Regierung will sicherstellen, dass kleine und mittelgroße Unternehmen (KMU) einen deutlich besseren Zugang zu Krediten erhalten, um deren Finanzierungskosten zu senken. Weitere Abgaben- und Steuersenkungen im Umfang von 500 Mrd. Yuan seien geplant. Dieses Paket zur Überwindung der Corona-Krise ist keineswegs überdimensioniert.
Die ökonomischen Verwerfungen dürften sich auch in einer Erhöhung der Arbeitslosigkeit niederschlagen. Nach der Zielvorgabe für die städtische Arbeitslosenquote von 5,5% im vergangenen Jahr geht die Regierung davon aus, dass im laufenden Jahr eine Zielmarke von 6% akzeptiert werden müsse. Statt der ursprünglich geplanten Ausweitung von elf Millionen städtischen Arbeitsplätzen sollen nur noch neun Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden. Der politische Anspruch der chinesischen Partei- und Staatsführung zielt darauf, die Arbeitslosigkeit gering zu halten und trotz der Rückschläge das Projekt der Überwindung der Armut zu vollenden. Experten schätzen, dass der Rückschlag infolge der Pandemie mit dem Wegfall von rund 20 Millionen Arbeitsplätze in Chinas Städten beträchtlich ausgefallen ist.
Vor allem die rund 149 Millionen Selbständigen oder die 175 Millionen Wanderarbeiter*innen dürften von dieser Entwicklung massiv betroffen sein. Sie dürften neben den 233 Millionen Erwerbspersonen, die in kleinen und mittelständische Firmen arbeiten, die Hauptlast des gesellschaftlichen Lockdowns zu tragen haben.
Chinas Ökonomie im Corona-Abwärtstrend
Unzureichende soziale Absicherung
In vielen Fällen werden die Betroffenen die Krise ohne Einkommen überbrückt haben, denn arbeitsmarktpolitische Instrumente wie Kurzarbeitergeld gibt es in China nicht. Die noch unzureichenden sozialstaatlichen Regulierungen sind bislang eine der strukturellen Schwächen des Landes. Insgesamt haben Arbeitnehmer*innen in den Städten laut den offiziellen Zahlen in den ersten drei Monaten 2020 3,9% weniger Einkommen zur Verfügung gehabt als im ersten Quartal 2019. In ländlichen Gebieten belief sich der Rückgang gar auf 4,7%. In den vergangenen Jahren hatten sie sich noch über kräftige Zuwächse freuen dürfen.
Unter der mangelnden Kaufkraft leidet besonders der personalintensive Dienstleistungssektor (z.B. Reisebüros, Beherbergungsgewerbe oder Restaurants), dessen Anteil an der Wirtschaftsleistung inzwischen höher als 50% ist. In der Konsequenz halten sich die in diesen Sektoren oft dominierenden KMU und Selbständige zurück, Arbeitskräfte (wieder) einzustellen, weshalb die Lage am Arbeitsmarkt angespannt bleibt.
In China wird der Konsum kaum durch Sozialleistungen vorübergehend stabilisiert. So hatten im vergangenen Jahr nur 46% der in den Städten Beschäftigten Anspruch auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung. Für Wanderarbeiter*innen belief sich der Anteil 2017 auf gerade einmal 17%. Darüber hinaus sind die Leistungen gering die Antragsverfahren bürokratisch, weshalb Chines*innen oft darauf verzichten. Dennoch hat die Arbeitslosenversicherung im ersten Quartal rote Zahlen ausgewiesen. Die Einnahmen sind gegenüber der Vorjahresperiode um 21% zurückgegangen, während die Ausgaben um 150% gestiegen sind – insgesamt ein Defizit von annähernd 34 Mrd. Yuan (ca. 4,4 Mrd. Euro).
Welche Bedeutung der dritte Sektor für den chinesischen Arbeitsmarkt hat, zeigt der Umstand, dass die Mehrzahl der Wanderarbeiter*innen inzwischen in der Gastronomie, im Groß- und im Einzelhandel sowie in der Hotellerie arbeitet – im vergangenen Jahr beschäftigten diese Sektoren rund 55 Millionen Wanderarbeiter*innen. Davor waren das verarbeitende Gewerbe sowie die Baubranche noch deren wichtigste Arbeitgeber.
Es verdichten sich zwar die Anzeichen, dass die chinesische Wirtschaft im Mai wieder an Fahrt aufgenommen hat. Ökonomen rechnen deshalb damit, dass sich die Situation am Arbeitsmarkt leicht entspannen wird. Allerdings dürften die Auswirkungen der Covid-19-Krise noch lange zu spüren sein.
Sorgen um den Nachwuchs
Besondere Sorgen bereitet der Parteiführung die große Zahl an jungen Chines*innen, die in diesem Jahr die Hochschulen verlassen werden. Noch Ende der 1990er Jahre besaß gerade einmal eine von zehn Personen im Alter zwischen 18 und 22 Jahren einen Hochschulabschluss. 2016 belief sich der Anteil bereits auf vier von zehn Personen dieser Altersstufe.
Immer mehr Chinesen mit Hochschulabschluss (in Mio. Personen)
In den kommenden Wochen werden 8,74 Millionen junge Chines*innen die Hochschulen verlassen und auf den Arbeitsmarkt drängen. Erste Schätzungen gehen davon aus, dass mehr als zwei Millionen von ihnen keine Stelle finden werden. Die Regierung hat bereits reagiert und eine »100-Tage-Kampagne« initiiert, etliche Absolvent*innen sollen weiterstudieren, 400.000 sollen Lehrer*in werden. Auch die Volksbefreiungsarmee sowie die Staatsbetriebe werden in die Pflicht genommen, zudem sollen KMU bei Personaleinstellungen Zuschüsse erhalten. Schließlich wird auch darauf gesetzt, dass aus etlichen von ihnen erfolgreiche Unternehmer*innen werden.
Zukünftige Anforderungen
Gegenwärtig und in der näheren Zukunft werde »China vor Herausforderungen stehen wie nie zuvor«, stellte Premier Li Keqiang heraus. Das Land verfüge jedoch über eine »starke wirtschaftliche Grundlage«, ein »enormes Marktpotenzial und Hunderte Millionen intelligenter und fleißiger Menschen«. Auch dank der starken Wachstumsimpulse, die von der Regierung gesetzt werden, werde die Volksrepublik die Herausforderungen bewältigen können.
Mit dem Konjunkturprogramm und den zusätzlichen Mitteln für die Regionen soll auch der Ausbau der Infrastruktur vorangetrieben werden. Im Zentrum der Maßnahmen steht die landesweite Installation des neuen Mobilfunkstandards 5G, um die Digitalisierung vorantreiben zu können. Zudem spielt die Urbanisierung in den Überlegungen eine wichtige Rolle.
Inzwischen arbeitet die Industrie wieder zu 80-95% des Vorkrisenniveaus. Während einige Fabriken ihre Produktion erst wieder hochfahren, waren einige hochautomatisierte Unternehmen wie Hersteller von Speicherchips fast nicht vom Lockdown betroffen. Andere Bereiche kommen erst langsam wieder auf Touren, dazu zählen auch exportorientierte Unternehmen, die zudem unter dem Einbruch der globalen Konjunktur leiden. Dies wird sich allein durch chinesische Anstrengungen nicht verbessern lassen.
Auch beim Konsum gibt es Anzeichen einer Erholung. Hoch ist z.B. die Nachfrage nach Autos, was neben Nachholeffekten auch damit zusammenhängt, dass sich viele Pendler*innen im eigenen Auto sicherer als in öffentlichen Verkehrsmitteln fühlen. Und der Umsatz mit Smartphones lag im März 2020 bereits wieder über dem des Vorjahresmonats.
Chinas Regierungschef erwähnte in seiner Rede vor dem Volkskongress, dass KMU einstweilen keine Beiträge in Arbeitslosen-, Renten- und Unfallversicherung entrichten müssen. Zudem entfällt für den öffentlichen Verkehr, Restaurants, Hotellerie, Tourismus, Unterhaltung, Kultur und Sport die Mehrwertsteuer. Darüber hinaus müssen KMU und Selbständige erst 2021 ihre Unternehmenssteuern zahlen. Li schätzt, dass dadurch die Kosten der Firmen um insgesamt 2.500 Mrd. Yuan gesenkt werden.
Das beschlossene Paket macht deutlich, welche Bedeutung die Privatwirtschaft inzwischen für die chinesische Ökonomie hat. Die KMU beschäftigen rund 233 Millionen Menschen und es gibt inzwischen annähernd 150 Millionen Selbständige, die von der Covid-19-Krise hat getroffen wurden.
Li Keqiang kündigte zudem eine weitere Lockerung der Geld- und Kreditpolitik an. So sollen die Mindestreservesätze sowie die Zinsen gesenkt werden. Die People’s Bank of China hatte in der jüngeren Vergangenheit mehrmals betont, über genügend Spielraum zu verfügen, um auf die Krise zu reagieren.
Chinas neue Rolle in der Welt
Chinas Regierungschef vermied in seiner Rede vor den Delegierten aggressive Töne gegenüber den USA. Es soll mit der amerikanischen Regierung an der Umsetzung des Phase-I-Abkommens gearbeitet werden, mit dem der Handelskonflikt beigelegt werden soll. Li Keqiang versprach weitere Reformen und eine Öffnung der Wirtschaft. So soll die Negativliste, die ausländischen Firmen angibt, welche Branchen für sie tabu sind, signifikant reduziert werden. Und die Unternehmen sollen in China unabhängig von ihrer Herkunft fair behandelt werden.
Vor dem Hintergrund, dass aus dem Weißen Haus eher wieder härtere Töne angeschlagen werden, ist die Zurückhaltung bemerkenswert. Denn Trumps »America First«-Regierung orientiert sich zunehmend nach innen (entziehen zugleich wichtigen multilateralen Institutionen wie der WTO und mitten in einer Pandemie der Weltgesundheitsorganisation ihre Unterstützung) und setzt auf Handelsprotektionismus. Sie stützt sich dabei auf zunehmende nationalistische Vorurteile innerhalb der amerikanische Bevölkerung: Nach einer neuen Meinungsumfrage des Pew Research Center sehen 66% der US-Bürger*innen China inzwischen sehr kritisch, 6% mehr als im letzten Sommer und der höchste Wert, seit das Pew diese Frage vor 15 Jahren in seine Umfrage aufgenommen hat.
Dass umgekehrt auch die chinesische Bevölkerung der USA kritischer gegenübersteht, hängt damit zusammen, dass die amerikanische Propaganda nicht gut ankommt, der Ausbruchs von Covid-19 sei im Nationalen Labor für Biosicherheit in Wuhan herbeigeführt worden. Die chinesische Regierung greift diese nationalistische Stimmung allerdings nicht auf, sondern setzt den Kurs des Jahrzehnts der Neuausrichtung fort – von Exporten und Investitionen auf konsumgestütztes Wachstum, von der Fertigung auf Dienstleistungen, von Ersparnisüberschüssen auf die Absorption von Ersparnissen und von importierter auf heimische Innovation.
Dieser Kurs hat auch dazu geführt, dass der Volksrepublik eine andere Rolle in Welt zukommt – durch seine Seidenstraßeninitiative, die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank und Lufttransporte medizinischer Versorgungsgüter in von der Pandemie heimgesuchte Länder in Europa und anderswo.
China setzt den eigenständigen Kurs fort. Li Keqiang kündigte neben dem Konjunkturprogramm auch eine Stärkung des Militärs an. Trotz der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie sowie des Handelskonflikts mit den USA soll der Verteidigungshaushalt im laufenden Jahr um 6,6% steigen, etwas geringer als 2019 mit 7,5%. Ein Hintergrund dürften die Spannungen zu mehreren Nachbarstaaten sowie Amerika wegen Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer sein.
Überraschend wird auf der Tagung des Volkskongresses auch ein umstrittenes Sicherheitsgesetz für Hongkong beraten, das von Teilen der Bevölkerung in der Sonderverwaltungszone als Einschränkung der Autonomie und größerer politischer Freiheitsrechte als in der Volksrepublik insgesamt gesehen wird.
Der chinesische Traum
Die Kommunistische Partei Chinas feiert im Jahr 2021 ihren 100. Geburtstag. Sie hatte sich das Ziel gesetzt, die Wirtschaftsleistung im Land so zu erhöhen, dass insbesondere die Armut massiv zurückgedrängt wird. Durch die Corona-Pandemie und die Zerrüttung des Verhältnisses mit den USA sind diese Zukunftspläne sicherlich gefährdet. Vor allem in der Gestaltung des Arbeitsmarkts ist ein Rückschlag zu verarbeiten. Das Gesamtziel sollte die Schaffung eines »ökologisch ausgewogenen und lebenswerten Umfeldes« sein. Es bleibt abzuwarten, wie der Parteichef und Präsident der Volksrepublik Xi Jinping am Ende der Tagung des Volkskongresses die veränderten Rahmenbedingungen der Zukunftspläne beurteilt. Bisher waren die zentralen die Ziele des »chinesischen Traums«:
- Bis 2020 sollte sich die reale Wirtschaftsleistung im Vergleich mit 2010 verdoppeln, um die Armut zu besiegen und allen Bürger*innen einen bescheidenen Wohlstand zu sichern.
- Bis 2035 sollte die Ökonomie in allen wichtigen Technikbranchen zu einem Innovationsführer aufsteigen. Die chinesischen Firmen sollen die bisherigen Weltmarktführer aus dem Westen und aus Japan zunächst ein- und anschließend überholen. Darüber hinaus sollte das Land bis 2035 ein Rechtsstaat sein, in dem keiner über dem Gesetz steht. Wichtige Felder sind weiter der Umweltschutz und die Bedürfnisse der wachsenden Mittelklasse.
- Im nächsten Fünfzehnjahreszeitraum von 2035 bis 2049 sollte China dann »modern, stark und wohlhabend« zu einer Gesellschaft transformiert werden, die im weltweiten Wettbewerb als besonders innovativ wahrgenommen wird.