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8. April 2023 Hinrich Kuhls: Zum 25. Jahrestag des Karfreitagsabkommens

Das lange Warten auf die Friedensdividende in Nordirland

Am Karfreitag 1998 unterzeichneten die Verhandlungsparteien das Abkommen von Belfast, das Good Friday Agreement.[1] Das Vertragswerk beendete den längsten gewaltsamen Konflikt in einer europäischen Region nach dem Zweiten Weltkrieg.

Mehr als 3.700 Menschen wurden getötet und mehr als 47.000 verletzt. Zum 25. Jahrestag des Friedensabkommens heben die Laudator*innen die zurückgewonnene Gewaltfreiheit hervor. Dennoch bleibt der Weg bis zur Wiedervereinigung Irlands dornenreich.

An den Feierlichkeiten ab dem 10. April nehmen neben den Staatsspitzen der Republik Irland und des Königreichs Großbritannien und Nordirland auch die höchsten Repräsentanten der beiden Garantiemächte des Vertrags – der Vereinigten Staaten von Amerika und der Europäischen Union – teil, allen voran US-Präsident Joe Biden. Er hatte seine Teilnahme an die Bedingung geknüpft, dass die britische Regierung, die derzeit von einer mehrheitlich rechtspopulistisch agierenden Konservativen Partei gestellt wird, ihre völkerrechtswidrigen Schritte zur einseitigen Änderung des vor drei Jahren unterzeichneten Brexit-Vertrags einstellt. Mit der einvernehmlichen Revision des EU-Austrittsvertrags im Windsor-Rahmenabkommen, mit dem das Irland-Nordirland-Protokoll des Vertrags geändert wurde, ist die Vorbedingung der US-Administration und der Führung der Demokratischen Partei der USA eingelöst worden.[2]

Nach der Phase der Eskalation aufgrund der Diskriminierung der katholischen Bevölkerung durch die politischen Unionisten seit Ende der 1970er Jahre, entwickelte sich ein schwieriger und brüchiger Friedensprozess, der schließlich 1998 mit dem Karfreitagsabkommen zwischen der Republik Irland und dem Vereinigten Königreich zu Ende gebracht wurde. Das Abkommen beinhaltete insbesondere die Bereitschaft zur Entwaffnung der paramilitärischen Einheiten der (Provisional) Irish Republican Army (IRA), der Ulster Defence Association (UDA) sowie der Ulster Volunteer Force (UVF). Darüber hinaus wurde im Karfreitagsabkommen ein einvernehmlicher Weg zur Vereinigung von Nordirland und der Republik Irland festgelegt.

Das Abkommen basiert auf den drei Grundsätzen der Partnerschaft, der Gleichheit und des gegenseitigen Respekts. Um die Demokratie an einem Ort des Konflikts zu untermauern, wurden neue Institutionen für politische Entscheidungsfindungen und Regierungshandeln in Nordirland geschaffen: die Britisch-Irische Kommission, die Nordirland-Irland-Kommission und die mit Teilautonomie ausgestattete Legislative und Exekutive für Nordirland. Nach einem Vierteljahrhundert hat das Abkommen das Leben der Menschen in Nordirland verändert, für die meisten ist es immer noch der Kern des täglichen Lebens.

Mit dem Karfreitagsabkommen konnte der ethnisch-religiös konnotierte identitäre Konflikt zwischen der katholisch-irischen und der protestantisch-unionistischen Bevölkerung eingehegt werden. Heute rechnen sich 40% der nordirischen Bürger*innen weder der irischen noch der britischen Identität zu. Alle nordirischen Bürger*innen haben zudem das Recht, ihre Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen nicht nur mit dem Pass des Vereinigten Königreichs, sondern auch mit einem Pass der Republik Irland zu dokumentieren. Von den 1,9 Mio. Einwohner*innen haben 46,6% einen britischen Pass, 5,5% einen britischen und irischen, während 26,5% ausschließlich einen Pass der Republik Irland besitzen, und sich damit zugleich als Bürger*in der Europäischen Union ausweisen.

Die zentrale Errungenschaft des Karfreitagsabkommens ist die Transformation eines gewaltsamen identitären Konflikts in eine Auseinandersetzung auf politischen Feldern. Der durch das Abkommen geschaffene verfassungsrechtliche Rahmen für die nordirischen Institutionen erfordert ein aktives und konsensuales Handeln aller politischen Akteure. Die Verweigerungshaltung der britisch-nationalistischen Mehrheitspartei der Unionisten, der Democratic Unionist Party (DUP), führt nun dazu, dass die Feierlichkeiten zum 25-jährigen Jubiläum der nordirischen Verfassung ohne nordirische Legislative und Exekutive stattfinden: statt aktiver Beteiligung der demokratischen Institutionen nur das Parlamentsgebäude in Stormont als Kulisse.

Zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses waren Irland und das Vereinigte Königreich bereits seit einem Vierteljahrhundert Mitglieder der Europäischen Union. Beide Staaten waren 1973 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beigetreten. Auch wenn in beiden Staaten die einzelnen Schritte der Übertragung von Souveränitätsrechten auf die supranationale Europäische Union umstritten waren, so war der wirtschaftliche Fortschritt auf der irischen und britischen Insel weitgehend unbestritten, sowohl in der Wählerschaft als auch in den wechselnden Regierungen. Der wirtschaftliche Rückstand Nordirlands gegenüber dem Rest des Königreichs blieb jedoch bestehen.


Störenfriede

Rechtspopulismus und Nationalismus sind die stärksten Störenfriede des Ausgleichsprozesses In Nordirland. Jahrzehntelange neoliberale Austeritätspolitik hat – wie in anderen europäischen Volkswirtschaften – auch in Großbritannien zu Abstiegsängsten der Mittelschichten geführt. Sie bildeten die Grundlage für die erfolgreiche Agitation einer breiten Allianz von nationalistischen Konservativen und Rechtspopulisten gegen die Europäische Union als supranationalen Staatenbund.

Programmatisch war der Angriff auf die EU von der Modernen Rechten in den USA und Großbritannien gemeinsam vorbereitet worden. Der konservative Abgeordnete Sir Bill Cash, Verfassungsjurist und langjähriger Vorsitzender des europapolitischen Ausschusses des britischen Unterhauses, hatte bereits im Jahr 2000 den europäischen Integrationsprozess als Gefahr für die USA bezeichnet. Zur gleichen Zeit hat John Bolton, der spätere Sicherheitsberater von Ex-US-Präsident Donald Trump, in einem Grundsatzartikel die Aufgaben des »Amerikanismus« im Kampf gegen den »Globalismus« im Rahmen einer neuen Geopolitik skizziert. Der gemeinsame Blick der Modernen Rechten in den USA und Großbritannien auf die Entwicklungsperspektiven der EU als supranationaler Staatenbund in einer neuen Weltordnung ist also keineswegs neu. Die Zurückdrängung des Multilateralismus zugunsten einer Rückkehr zu nationalstaatlichen Entwicklungspfaden mit bilateralen Außenhandelsverträgen steht auf ihren Fahnen, die Unterminierung der Handlungsfähigkeit internationaler Institutionen ist ihr taktisches Mittel.

Der Brexit ist ein epochaler Triumph der Rechtspopulisten und der Feinde des Multilateralismus. Mit der Abspaltung des Vereinigten Königreichs von der EU ist es ihnen gelungen, die mit supranationaler Souveränität ausgestattete Europäische Union nachhaltig zu schwächen, nicht nur die Wirtschafts- und Währungsunion sowie die Zollunion, sondern auch die politische Union. Auch nach der erneuten Konfliktbeilegung zwischen EU und UK im Windsor-Rahmenabkommen hält die gegenwärtige britische Regierung an ihrem Anti-Multilateralismus fest: Das neue Asylgesetz mit den vorgesehenen Abschiebungen von Asylsuchenden steht in eklatantem Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention, die jedoch expliziter Bestandteil des Karfreitagsabkommens ist.

Karfreitagsabkommen und Brexit-Vertrag sind nicht kompatibel. Das Windsor-Rahmenabkommen, mit dem das Irland-Nordirland-Protokoll im März revidiert worden ist, vereinfacht den innerstaatlichen Warenhandel zwischen Großbritannien und Nordirland, und trägt so dem Gebot des Karfreitagsabkommens Rechnung, dass die Errichtung jedweden Grenzregimes auf der irischen Insel zu unterlassen ist. Doch die Neuerung »Stormont-Bremse«, die einer qualifizierten Minderheit nordirischer Abgeordneter die Möglichkeit gibt, sich der Übernahme neuer Normen des EU-Binnenmarkts in Nordirland zu widersetzen, enthält denselben Konstruktionsfehler, der das Irland-Nordirland-Protokoll des EU-Austrittsvertrags prägt.

Denn die Überprüfung des Nordirland-Protokolls und die Entscheidung über seine Fortführung, die erstmals 2024 ansteht, haben die britische Regierung und die EU-Institutionen bereits im Austrittsvertrag in die Hände des nordirischen Parlaments gelegt. Damit entscheiden nicht die souveränen Vertragsparteien über den Fortbestand ihrer Zollmodalitäten und Binnenmarktabgrenzungen, sondern ein zum doppelten Konsens verpflichtetes Parlament eines allenfalls teilsouveränen politischen Gemeinwesens, dessen Bevölkerungsgruppen sich ganz unterschiedlichen »Souveränitäten« verpflichtet fühlen.

Für den Grundkonflikt, der durch die Überlagerung des Karfreitagsabkommens durch den Brexit entstanden ist, gibt es zwei Lösungsalternativen. Entweder ein positives Votum in einem Referendum über die Wiedervereinigung Irlands,[3] oder die Neuverhandlung nicht des Brexit-Austrittsvertrags, sondern des Handels- und Kooperationsabkommens zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich mit dem Ziel einer neuen EU-UK-Zollunion.


Gedenkveranstaltungen

Das Europäische Parlament hat zu Beginn seiner Sitzung am 29. März des 25. Jahrestages des Karfreitagsabkommens von Belfast gedacht. In der 45-minütigen Debatte sprachen Parlamentspräsidentin Roberta Metsola, der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. In einer Reihe von Beiträgen im Namen der Fraktionen des Parlaments hoben die Abgeordneten das Karfreitagsabkommen als eine historische Entwicklung hervor, die für Frieden und Versöhnung in Nordirland unverzichtbar bleibe. Die EU habe auch heute noch eine Rolle bei der Überwindung der politischen Sackgasse in Nordirland zu spielen.

Erst dem letzten Redner der Veranstaltung, Chris MacManus von der gesamtirischen Partei Sinn Féin, blieb es als Sprecher der Fraktion Die Linke (GUE/GNU) vorbehalten, den Rückblick mit einem kritischen Blick auf die aktuelle politische Situation in Nordirland zu verbinden:

»Mit diesem historischen Abkommen wurde im Norden Irlands ein neuer verfassungsrechtlicher Rahmen geschaffen, der endlich Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschenrechte garantiert. Das Karfreitagsabkommen ist ein Friedensprozess und ein politischer Prozess. Es ist ein Dokument, das lebt und atmet. Es ist ein Rahmen, der sicherstellt, dass die Menschen in Irland – im Norden wie im Süden – entscheiden werden, ob sie sich vereinigen, oder ob der Norden an Großbritannien gebunden bleibt.

Ich hoffe, dass die Menschen in diesem Jahrzehnt gefragt werden, ob sie Teil eines neuen Irlands sein wollen – einer modernen, zukunftsorientierten Gesellschaft, die auf Frieden, Gleichheit und sozialem Fortschritt innerhalb der Europäischen Union basiert. Die meisten Probleme der letzten Jahre sind darauf zurückzuführen, dass die Tory-Regierungen es versäumt haben, mit strikter Unparteilichkeit zu handeln, wie es das Abkommen vorsieht. Das Abkommen wird weiterhin nicht eingehalten. Wer sich ständig auf eine politische Seite schlägt, tut niemandem einen Gefallen. Es verzögert lediglich den notwendigen Fortschritt.

Für diejenigen, die die Grundsätze des Karfreitagsabkommens ablehnen, habe ich eine einfache Botschaft: Gleichheit nützt allen. Wir sollten in der Lage sein, unsere Nachbarn nicht länger als unsere Feinde zu betrachten. Versuche, verschiedenen Gruppen von Menschen Rechte zu verweigern – Gleichheit der Eheschließung, reproduktive Rechte, Sprachenrechte –, schaden dem wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt des Nordens. Wir sollten alle zum Wohle aller Menschen zusammenarbeiten, und deshalb muss die Exekutive in Nordirland unverzüglich ihre Arbeit wieder aufnehmen für den Aufbau einer Wirtschaft, die allen zu Gute kommt, und für den Aufbau einer Gesellschaft, die für alle funktioniert und in der niemand zurückgelassen wird.«

Bei den Feierlichkeiten in Belfast mit internationaler Beteiligung werden andere Töne zu hören sein. Im Mittelpunkt der Rede des US-Präsidenten im Dáil, der zweiten Kammer des Parlaments der Republik Irland, dürfte nicht der soziale Fortschritt auf der irischen Insel und insbesondere in Nordirland stehen, sondern die wirtschaftliche Kooperation, die nach der Revision des Brexit-Vertrags wieder an Fahrt gewinnen soll. Biden ist nach John F. Kennedy im Juni 1963, Ronald Reagan im Juni 1984 und Bill Clinton im Dezember 1995 der vierte US-Präsident, der den irischen Abgeordneten seine Aufwartung macht. Den Abschluss der Feierlichkeiten bildet ein dreitägiges Symposium an der Queen’s University in Belfast, an dem neben den damaligen Unterzeichnern des Abkommens auch der damalige US-Präsident Bill Clinton und die ehemalige US-Außenministerin Hilary Clinton teilnehmen.

Durch den EU-Austrittsvertrag und den anschließenden Versuchen der Tory-Regierung in London, rechtswidrig einseitige Maßnahmen bezüglich des Irland-Nordirland-Protokolls zu ergreifen, ist der internationale Druck, der schon zuvor auf dem Karfreitagsabkommen lastete, enorm gestiegen. Biden bezeichnete das Windsor-Rahmenabkommen als »einen wesentlichen Schritt, um sicherzustellen, dass der hart erarbeitete Frieden und Fortschritt« erhalten bleibt. Vor und nach der Unterzeichnung des Rahmenabkommens fanden Verhandlungsgespräche in Washington statt.

Dem Besuch des irischen Regierungschefs, Leo Varadkar, folgten Mitte März die Gespräche mit dem Vorsitzenden der DUP, Jeffrey Donaldson. Zuvor hatte der ehemalige irische Regierungschef, Bertie Ahern, monatelang hinter verschlossenen Türen mit der gesamten DUP-Führung verhandelt. Ahern und der damalige Labour-Premierminister Tony Blair hatten 1998 das Friedensabkommen unterzeichnet.

Ende März war auch die designierte RegierungschefinFirst Minister«) Nordirlands und stellvertretende Vorsitzende der Sinn Féin, Michelle O'Neill, in Washington. Sie forderte die US-Regierung auf, für neue Investitionen in der Region zu werben. Im Gegensatz zur DUP-Führung steht sie hinter dem Windsor-Rahmenabkommen. Bidens Sonderbeauftragter für die Wirtschaft in Nordirland, Joe Kennedy III, habe zunächst auf das Windsor-Abkommen gewartet, bevor er sich ernsthaft an die Arbeit gemacht habe. »Ich möchte, dass er die Werbetrommel rührt, ich möchte, dass er Investitionen ankurbelt«, sagte O’Neill bei einer Veranstaltung der Britisch-Irischen Handelskammer.

Nach dem Ende der Blockade der Exekutive wird O'Neill als First Minister das Wirtschaftsministerium und die Nordirische Agentur für Auslandsinvestitionen besser ausstatten. Durch Kooperationsvereinbarungen mit der Industrie sollen Produktivität und Ausbildung verbessert und Cluster gebildet werden, in denen der Fokus auf die Wirtschaft der gesamten Insel gelegt wird.

Trotz aller Gespräche und Bemühungen zwischen der Unterzeichnung des Windsor-Rahmenabkommens und den Gedenkfeiern hält die DUP an ihrer Blockade der politischen Institutionen in Nordirland fest. Umso wichtiger ist vor diesem Hintergrund die erneute gemeinsame politische Erklärung im Windsor-Rahmenabkommen, das Abkommen von 1998 mit »voller Verpflichtung zu schützen«.


Ein neuer Demos wartet

»Aber was soll hier geschützt werden?«, fragt Katy Hayward, Professorin für Politische Soziologie an der Queen’s University in Belfast und langjährige Kommentatorin der Entwicklung in Nordirland. Aus ihrer Antwort soll hier abschließend ihre kritische Bilanz[4] etwas ausführlicher zitiert werden:

»Das Belfast/Karfreitagsabkommen ist in einem traurigen Zustand. In vier der letzten sechs Jahre ist das nordirische Parlament nicht zusammengetreten. Um das Abkommen von 1998 zu ›schützen‹, müssen seine Mitgaranten mehr tun, als es nur zu stützen. Die Briten, die Iren, die EU und die USA sind willkommene und notwendige Wächter des Abkommens von 1998 und tragen weiterhin die Verantwortung dafür, dass sich die Menschen in Nordirland das Abkommen aktiv zu eigen machen können.

Die Northern Ireland Life and Times Surveys (NILT) 2021/22 – die zuverlässigste Umfrage zu den gesellschaftlichen Einstellungen in der Region – haben ergeben, dass zwei Drittel der Befragten das Abkommen von 1998 als beste Grundlage für die politische Ordnung Nordirlands sehen, auch wenn die meisten von ihnen (44 % aller Befragten) der Meinung sind, dass es reformiert werden muss. Nur 11% der Befragten sind der Meinung, dass das Abkommen von 1998 ›wesentlich geändert‹ werden sollte, und nur 5% sind der Meinung, dass es ganz abgeschafft werden sollte.[5]

Besorgniserregend ist, dass in der Altersgruppe der unter 25-Jährigen der Anteil derer, die eine grundlegende Änderung oder Abschaffung des Abkommens wünschen, am höchsten ist. Ein solcher Mangel an Vertrauen und Hoffnung in das Abkommen bei der ›Generation Agreement‹ sollte Anlass zur Sorge sein. Wenn die jungen Menschen in Nordirland vom Fundament des Friedens und der Demokratie desillusioniert sind, sind die Aussichten für den Aufbau einer besser funktionierenden Gesellschaft umso düsterer.

Was muss sich ändern? Laut NILT-Umfragen wünscht sich eine deutliche Mehrheit (60%) eine Bill of Rights für Nordirland und die Einrichtung eines Civic Forum, eines Bürgerforums, mit Vertretern aus Wirtschaft, Gewerkschaften und dem gemeinnützigen Sektor. Beides ist im Abkommen vorgesehen, um die Rechte der Bürger zu schützen und mehr demokratische Teilhabe zu ermöglichen. Es ist bezeichnend, dass die Gesellschaft heute immer noch darauf wartet.

Seit fast 15 Jahren bezeichnet sich die Mehrheit der Befragten (rund 40%) in den NILT-Umfragen nicht als ›nationalist‹ oder ›unionist‹, sondern als ‚›neither‹. Solche nicht-binären oder hybriden Identitäten spiegeln sich in den jüngsten Ergebnissen der nordirischen Volkszählung wider, in der vier von zehn Befragten ihre nationale Identität als etwas anderes als nur britisch oder nur irisch beschrieben.[6]

Das wird auch der Grund sein, dass – wie die NILT-Umfragen zeigen – nur eine Minderheit die bestehenden Mechanismen unterstützt, die den nationalistischen und unionistischen Mitgliedern in Parlament mehr Macht geben als denjenigen, die sich der Gruppen der ›Anderen‹ zurechnen – derzeit 18 der 90 Abgeordneten. Die Mehrheit (58%) spricht sich dafür aus, die konfessionsbezogenen Regeln bei wichtigen Abstimmungen durch gewichtete Mehrheitsregeln zu ersetzen, die den Stimmen der ›anderen‹ das gleiche Gewicht geben wie den der nationalistischen und unionistischen Abgeordneten.

Nur eine Minderheit (37%) befürwortet das Koalitionszwangsmodell für die Exekutive, das es der größten unionistischen und der größten nationalistischen Partei ermöglicht, die Arbeit der Exekutive zu blockieren. Und eine noch kleinere Minderheit (19%) unterstützt den ›Petition of Concern‹-Mechanismus, der es 30 Abgeordneten aus zwei oder mehr Parteien ermöglicht, die Gesetzgebung durch ein Veto der Unionisten oder Nationalisten zu blockieren. Die Möglichkeit für eine Minderheit von Abgeordneten, sich dem Willen der Mehrheit zu widersetzen, sei es in Form von ›konfessionsgezogenen Schutzmaßnahmen‹ oder durch die Anwendung der ›Stormont-Bremse‹, die auf dem Petition of Concern-Mechanismus basiert, ist aber gerade der Kern der Behauptung der britischen Regierung, dass das Windsor-Rahmenabkommen das ›Demokratiedefizit‹ in Nordirland behebe.

Es gibt jedoch andere, näherliegende Wege, um den fragilen Zustand der Demokratie in Nordirland nach dem Brexit zu verbessern.

Zunächst zu den bekannten Formulierungen des Abkommens: Sie werden allesamt weitaus enger ausgelegt als ursprünglich intendiert. ›Partnerschaft, Gleichheit und gegenseitiger Respekt‹ sollen die ›Grundlage der Beziehungen ... zwischen diesen Inseln‹ bilden. Der ›Schutz der bürgerlichen, politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte‹ soll für die ›jeweiligen Hoheitsgebiete‹ des Vereinigten Königreichs und Irlands in ihrer Gesamtheit gelten. Die Befugnisse der souveränen Regierung, die für Nordirland zuständig ist, sollen mit ›strikter Unparteilichkeit im Namen aller Menschen in der Vielfalt ihrer Identitäten und Traditionen‹ ausgeübt werden.

Zusammengefasst: Die radikalsten Elemente des Abkommens von 1998 sind die Erwartungen, die an die damaligen Unterzeichnerstaaten gerichtet sind. Und was bedeutet das für Nordirland?

Eigentlich immer noch die Umsetzung der Essentials: Dass der Zugang zu ›ausschließlich demokratischen und friedlichen Mitteln zur Beilegung von Differenzen in politischen Fragen‹ nicht von der Bereitwilligkeit der beiden größten Parteien abhängen darf, ihn nicht zu blockieren. Dass die gewählten Vertreter ihre Sitze einnehmen und Entscheidungen treffen. Dass die gewählten Vertreter die Sprache der Gewalt weder hofieren noch dulden. Dass diejenigen, die Machtpositionen missbrauchen, nicht im Amt bleiben. Dass evidenzbasierte Strategien für die Themen, die wichtig sind – öffentliche Gesundheit, ethnische Gleichberechtigung, Umweltschutz –, den Wandel vorantreiben, statt ihn einzumotten. Und dass öffentliche Institutionen mit einer bewussten Integrationspolitik der Gesellschaft ein Leben in nachhaltigem Frieden ermöglichen.

›Schutz des Karfreitagsabkommens‹ muss 25 Jahre nach seiner Unterzeichnung seine Weiterentwicklung und nicht seine Konservierung bedeuten. Ein neuer Demos wartet.«

Anmerkungen:

[1] Belfast Good Friday Agreement, Northern Ireland Assembly, Archive Site.
[2] Vgl. Hinrich Kuhls: 25 Jahre Friedensprozess in Nordirland. Vom Belfaster Vertrag zum Windsor-Rahmenabkommen, Sozialismus.de, Heft 4/2023 (April).
[3] Zu den Implikationen einer Wiedervereinigung Irlands im Rahmen der EU vgl. Mark Bassett & Colin Harvey: Making the Case for Irish Unity in the EU. An Independent Legal and Academic report Commissioned by The Left in the European Parliament. Belfast & Brüssel: Queen's University & GUE/NGL, November 2022.
[4] Katy Hayward: It’s time to fix the Good Friday/Belfast Agreement, The World today (Chatham House), 31.3.2023.
[5] Northern Ireland Life and Times Survey (NILT), 2021 Results.
[6] Northern Ireland Statistics and Research Agency, 2021 Census: Main statistics identity tables.

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