1. März 2013 Redaktion Sozialismus
Das Menetekel »Italien«
Die politischen Eliten sind europaweit entsetzt: Wie konnte das italienische Wahlvolk einen verdienten Sanierer wie Mario Monti mit elektoraler Missachtung einfach abservieren? Weshalb ist es so schwer nachvollziehbar, dass eine seit längerem vollkommen aus dem Ruder gelaufene Staatsverschuldung wie in Italien mit 128% des Bruttosozialprodukts harte Haushaltsmaßnahmen erfordert?
Wieso versteht eine Mehrheit südlich der Alpen nicht, dass Wohlstand auf Wettbewerbsfähigkeit und hoher Produktivität beruht? Was bilden sich die Leute eigentlich ein, erklärten EU-Gegnern ihre Stimme zu geben, statt sich der großen Unterstützung aus Brüssel und Berlin dankbar zu erweisen? Hatte es nicht in Griechenland mit der Wahl von Andonis Samaras geklappt, in Portugal mit Pedro Passos Coelho, in Spanien mit Mariano Rajoy und zuletzt in Zypern mit der Wahl von Nikos Anastasiades als neuem Präsidenten? Weshalb nicht in Italien mit einem breit getragenen Mitte-Links-Bündnis von Monti und Bersani?
Das Entsetzen dokumentiert, wie weit sich führende Zirkel im politischen Feld von der sozialen Realität eines Landes, das sie nicht wie ihr eigenes jederzeit auf dem demoskopischen Bildschirm haben, entfremden können. In Berlin mögen sich ja eine Kanzlerin, ein Finanzminister und ein Wirtschaftsminister einreden, zur Austeritätspolitik gäbe es »keine Alternative«. Immerhin gehören sie der Regierung eines der ganz wenigen Mitgliedsländer des Euro-Clubs an, die es geschafft haben, den Einbruch der Großen Krise 2008/2009 wieder auszugleichen.
In Italien ist die Situation eine ganz andere: Dort liegen Produktion und Dienstleistungen fünf Jahre nach dem Beginn des Absturzes knapp 8% unter Vorkrisenniveau – mit weiter fallender Tendenz in diesem Jahr. In diesen fünf Jahren sind 1,5 Mio. Arbeitsplätze abgebaut worden und die Jugendarbeitslosigkeit auf 37% angestiegen. Welchen Sinn macht es da, die Lebensarbeitszeit unter dem Diktat der Schuldenbremse bis zu der von jedem Euro-Staat geforderten Rente mit 67 zu verlängern? Die »Entriegelung« des Arbeitsmarktes gehört zu einer der großen »Strukturreformen«, die gemeint sind, wenn von einem den Fiskalpakt ergänzenden Wettbewerbspakt in Europa die Rede ist. Doch in Italien ist die Zahl der befristeten Beschäftigungsverhältnisse mittlerweile größer als die der unbefristeten – da gilt selbst elementarster Kündigungsschutz nichts mehr.
Wer verstehen will, weshalb die Stimmung in einem Land, aus dem einst die glühendsten Verfechter der »Idee Europa« kamen, gekippt ist, sollte sich die Verträge und Vereinbarungen anschauen: Danach soll die öffentliche Verschuldung ab 2015 jedes Jahr um 5% des BIP (!) zurückgefahren werden, um den Schuldenstand von 126% auf – nach Maastricht-Vertrag zulässige – 60% zu senken. In Montis Wahlprogramm war dies einer der Kernpunkte. Selbst für größte Optimisten, die ab kommendem Jahr eine nachhaltige wirtschaftliche Revitalisierung erwarten, dürfte es eine unrealistische Annahme sein, dass Italiens Wirtschaft danach Jahr für Jahr um mindestens 5% wächst. Wenn das aber so ist, lautet die Botschaft, dass die italienische Bevölkerung jedes Jahr – langfristig – ärmer wird.
Gut, für Angela Merkel ist das kein Argument, vielleicht für Peer Steinbrück auch nicht. Die Kanzlerin hatte anlässlich der Wahlen in Griechenland durchaus Verständnis geäußert, dass ein verordnetes Leben in Armut keine Euphorie in Sachen Austeritätspolitik auslöse, aber TINA ... keine Alternative. Christliche Werte, Ethik – nur wenn sie zur corporate governance passen. Doch zur Abgehobenheit der politischen Klasse gehört, dass sie selbst – zugegebenermaßen irritierende – Mahnungen des Internationalen Währungsfonds beiseite legt: Dieser hatte berechnet, dass die von der EU in den Status der Zehn Gebote erhobene Sparpolitik – »Du sollst dich nicht verschulden« – technisch gesprochen einen Multiplikator von 1,5 hat. Im Klartext: Ein Euro, der durch Haushaltskürzungen gestrichen wird, führt kurz- und mittelfristig zu einem Nachfrageausfall von eineinhalb Euro. Das heißt: Man wird nicht nur ärmer, sondern gräbt sich noch tiefer in das Krisental hinein.
In diesem Teufelskreis gefangen, mussten Montis Steuererhöhungen vernichtend wirken. Nun gut, die offizielle Steuerquote von 45% steht auf dem Papier, aber es sind die Berlusconis, die sie rabiat zu umgehen wissen – warum ihnen nicht nacheifern? Steuererhöhungen bei einer Preissteigerungsrate von 3% bedeuten weitere Kaufkraftverluste – in der ökonomischen wie in der Armutsbilanz. Zumal wenn man die Steuern auf Immobilienbesitz heraufsetzt – in Italien leben 80% der Bevölkerung in eigenen vier Wänden. Montis Immobiliensteuer ist keine Reichen-, sondern eine Massensteuer und entsprechend verhasst.
Das politische Votum in Italien ist eine Abfuhr für alle Versionen einer Politik der wettbewerbsorientierten Strukturreformen. Man muss die rückläufige Wahlbeteiligung und die Stimmen für Montis politisches Bündnis im Zusammenhang sehen. Strukturreformen bedeuten für die große Mehrheit der Bevölkerung massive Verluste beim Lebensstandard und eine Erhöhung der sozialen Unsicherheit und dies mit der vagen Aussicht, dass in weiter Zukunft die Ökonomie wieder wettbewerbsfähig sei. Das politische Votum bedeutet aber zweitens eine massive Abfuhr für das überlieferte parteipolitische System, in dem Parteien und ihre Mandatare überwiegend ihre eigene Bereicherung verfolgen.
Das Movimento Cinque Stelle mit seinem charismatischen »Leader« Grillo als populistisch aufgewerteten, professionell allerdings tatsächlich schlechten Komiker abzutun, wird den Grillini nicht gerecht. Die fünf Sterne der Bewegung stehen für saubere Umwelt, sauberes Wasser, Kampf gegen Staatsverschuldung, Bekämpfung der Korruption und für direkte Demokratie. Die Bewegung der fünf Sterne zielt auf die Abschaffung des diskreditierten parteipolitischen Systems; die Privilegien der Parteien und der Abgeordneten sind zum Hass-Objekt aufgestiegen. Das Movimento lehnt die Parteienfinanzierung ab und möchte die Vertreter des Repräsentativsystems aus der Fehlentwicklung der Systems der Berufspolitik herausholen. Auch wir übersehen die europakritische Anlage der Fünf-Sterne-Bewegung nicht; aber die von den europäischen Eliten eingeforderte Privatisierung öffentlicher Unternehmen und der und der Zangengriff von Fiskal- und Wettbewerbspakt ist für die Diskreditierung der europäischen Idee verantwortlich.
Jedes vorschnelle Urteil über das Movimento irrt, wenn man die sozialen Kerne oder Sterne ignoriert. Wie bei den »Piraten« auf dem bundesdeutschen Feld sind wir mit einer Bewegung von bewussten politischen Amateuren konfrontiert: Hier wurden Abgeordnete mit einem Durchschnittsalter von 33 Jahren in dreistelliger Zahl in das Abgeordnetenhaus und den Senat katapultiert; das Movimento trägt in Sizilien und Padua, wo es die wichtigen Punkte einer Reformregierung toleriert, den Widerstand gegen Privatisierung z.B. der öffentlichen Wasserversorgung; und aus der Anschauung der Perspektivlosigkeit der Jugend ist die Forderung nach einem bedarfsorientierten Grundeinkommen entstanden. Die Anti-Politik der Grillini ist nicht Rückzug aus der Politik, sondern der »Krieg« gegen Parteipolitik. Was die Piraten hierzulande sogleich in deutscher Gründlichkeit vereinsmeierischer Selbstauflösung beerdigt haben, ist der gleichsam überstrahlende Punkt der Fünf-Sterne-Bewegung: umfassende (Internet-)Transparenz gegen die Selbstmandatierung des herrschenden Parteiensystems. Man muss das nicht für richtig und zukunftsfähig halten – man muss es als soziale Realität verstehen.
Und die Linke? Die Partito Democratico hat gegenüber den letzten Parlamentswahlen im Abgeordnetenhaus weit mehr als ein Drittel ihrer Wählerbasis verloren – knapp 3,5 Mio. Wählerinnen, geblieben sind ihr 8,6 Mio. Das wird nur getoppt von Berlusconis Popolo Della Libertá, der bald so viele WählerInnen verloren hat wie ihr verblieben (6,3 Mio. gegenüber 7,3 Mio.). So viel zu vermeintlichen Wahl»siegern«.
Der fortschreitende Niedergang einer zur Sozialdemokratie transformierten Mehrheitspartei einer einstmals (euro-)kommunistischen Linken – die Partito democratico – wird gleichsam aufgewertet durch eine nichtreformistische Linke, die nur noch als Anhängsel (Sinistra e libertá – 3,2%) oder in pulverisierter Form (Rivoluzione civile) existiert. Das Land, in dem einst Antonio Gramsci die brillantesten Analysen über Hegemoniegewinne in der Zivilgesellschaft im faschistischen Kerker entfaltet hatte, in dem Palmiro Togliatti noch unter der Knute des Stalinismus mit der »Wende von Solerno« auf den »italienischen Weg« ging und Enrico Berlinguer die Lehren aus Pinochets Massaker in Chile für die Mehrheitspolitik der Linken im Westen zog, ist seit langem Schnee von gestern.
»Rifondazione« – Neugründung – war die Losung der 1990er Jahre in Italien. Zwischenzeitlich wurde gehandelt, an wen die Stafette weitergereicht wurde – mal schien es die französische, mal die deutsche, zuletzt die griechische Linke zu sein. Das ist zu kurz gesprungen. Erneuerung – wenn es sie gibt – steht als eine gesamteuropäische Herausforderung an. Eine nationalistische Revitalisierung der Linken ist eine – selbst im Populismus verfangene – Untergangsstrategie. Zur Wahrheit gehört auch: Eine politische Linke, die eine progressive polit-ökonomische, bestenfalls auch noch kulturell ausgewiesene Landkarte Europa ausbreiten könnte, muss man suchen – und wohl neu gründen.