17. Februar 2020 Otto König/Richard Detje: Venezuela – »nationaler Dialog« und Parlamentswahlen in 2020
Das Scheitern der »Operation Guaidó«
»2020 und in den Jahren darauf wird die Welt Zeuge einer Wiedergeburt Venezuelas werden«, hat Juan Guaidó jüngst in einem Gastbeitrag für den britischen Economist geschrieben. Voraussetzung sei die Überwindung der »illegitimen« Herrschaft Nicolás Maduros.
Dazu hätten er und seine Mitstreiter die Unterstützung der Mehrheit der westlichen Demokratien. Und eben »die Kraft der Hoffnung«. Fakt ist hingegen: Der ehemalige oppositionelle Parlamentspräsident, der sich vor einem Jahr auf einer Kundgebung in Caracas selbst zum Übergangspräsidenten Venezuelas ernannt hat, ist mit seinem Vorhaben gescheitert.
Schon in den Tagen nach der Selbstinthronisierung im Januar 2019 zeigte sich, dass sein Putschversuch nicht Ausdruck eines spontanen Aufstands einer breiten Bevölkerungsmehrheit in Venezuela war, sondern Teil eines von der USA unterstützten »Regime change«. Innerhalb weniger Stunden wurde er von den USA und den rechts-konservativen Regierungen Lateinamerikas anerkannt, danach folgten Deutschland und die meisten EU-Staaten. Seitdem lautet die Botschaft: Rund 50 Staaten sehen in ihm den rechtmäßigen Präsidenten.[1]
Zur Erinnerung: Im Mai 2018 hatte Nicolás Maduro die Präsidentschaftswahl klar gewonnen – auch deshalb, weil die meisten rechten Oppositionsparteien die Wahl boykottierten. Danach behaupteten die USA, die EU und Berlin im Gleichklang, dass die Wahlen nicht frei und fair gewesen seien. Tatsächliche Belege dafür gibt es bis heute nicht. Im Übrigen wurde dieses Manöver im Oktober 2019 erneut beim Putsch der weißen Elite gegen den demokratisch gewählten indigenen Präsidenten Evo Morales in Bolivien angewandt. Wie zur Bestätigung der Vorgänge erklärte der US-amerikanische Außenminister Mike Pompeo vor kurzem auf einer Veranstaltung der Texas A&M University: »Ich war CIA-Direktor. Wir logen, wir betrogen, wir stahlen. Wir hatten ganze Trainingskurse dazu. Das erinnert mich an den Ruhm des amerikanischen Experiments.« (Telepolis v. 27.4.2019)
Die rechts-konservativen Oppositionskräfte Venezuelas nutzten eine windig-willkürliche verfassungsrechtliche Argumentation: Sie erklärten das Amt des Präsidenten schlicht für »vakant«. In diesem Fall trete Artikel 233 der venezolanischen Verfassung in Kraft. Dieser legt fest: Der Parlamentspräsident wird übergangsweise Staatschef, wenn der reguläre Inhaber das Amt nicht übernehmen oder ausüben kann, etwa durch Tod oder Rücktritt. Doch das war nicht der Fall. Maduro war weder zurückgetreten noch verstorben, sondern hatte am 10. Januar 2019 sein Amt angetreten.
Im zurückliegenden Jahr gelang es Guaidó weder, die Mehrheit des venezolanischen Militärs auf seine Seite zu ziehen, noch führte der Wirtschaftskrieg der USA zu einem institutionellen und sozialen Zusammenbruch des Landes. Selbst auf den Straßen kann Guaidó kaum noch mobilisieren. Warum sollten die Venezolaner*innen auch einem Politiker folgen, der nicht nur eine US-Militärintervention in seinem eignen Land mit der damit verbundenen Inkaufnahme eines Bürgerkriegs offen befürwortet, sondern auch den Wirtschaftssanktionen, die der Zivilbevölkerung die Luft zum Leben abschnürt, zustimmt bzw. selbst ungeniert fordert.[2] Selbst das Wall Street Journal beklagte, die Trump-Administration habe mit ihrem »übermäßigen Optimismus« den »unmittelbar bevorstehenden Sturz« Maduros doch ein wenig zu früh vorhergesagt, denn dieser scheine die Lage trotz der wirtschaftlichen Schwächung Venezuelas durch US-Ölsanktionen und trotz aller Versuche, das Land international zu isolieren, »fest unter Kontrolle« zu haben.
Tatsache ist, dass die Wirtschaft, darunter vor allem die Ölproduktion, und damit die Versorgungslage in Venezuela in einem absolut desolaten Zustand sind. Die Regierung hatte bereits unter Chávez auf ein extraktivistisches, auf Ressourcenausbeute basierendes Wirtschaftsmodell gesetzt, das auf einem vergleichsweise hohen Ölpreis basierte. Nachhaltige Investitionen in die verstaatlichte Ölindustrie und andere Wirtschaftszweige blieben entweder aus oder erwiesen sich als Fehlschläge, auf die man mit neuen kurzatmigen Programmen reagierte. Eine planmäßige, die Produktivität langsam wieder steigernde Wirtschaftsentwicklung blieb aus. In diesem Verfallsprozess gingen die USA davon aus, dass durch eine harte Embargopolitik das Regime Maduro vollends zerbrechen würde.
Ende November berichtete die Nachrichtenagentur Reuters, dass die Ölproduktion im Vergleich zum Vormonat um 20% gestiegen sei. Ob dies auf eine Umkehrung des freien Falls in der ersten Jahreshälfte hindeuten könnte, oder ob es sich nur um eine Folge kurzfristig wirksamer außerordentlicher Maßnahmen handelt, muss gegenwärtig offen bleiben.
Allerdings hat die Regierung weitere Maßnahmen ergriffen, die ihr Zeit verschaffen könnten: darunter Mitte 2019 Änderungen beim Gesetz über illegalen Währungsumtausch und die Zulassung des freien Dollarverkehrs. Seitdem sind hunderte »Bodegones« (Devisenshops) entstanden, in denen gegen Dollar vor allem US-Importwaren zollfrei gekauft werden können. Der Dollar gelangt vor allem per Überweisungen von Exil-Venezulanern ins Land (4 Mio. Menschen haben das Land seit 2013 verlassen) – im vergangenen Jahr sollen es über 4 Mrd. $ gewesen sein, was ca. 3% der Wirtschaftsleistung Venezuelas entsprechen würde. »Das Wirtschaftsinstitut Ecoanalitica schätzt, dass bereits mehr als die Hälfte der Transaktionen in Venezuela in Dollar stattfindet.« (Neue Zürcher Zeitung Online, 17.2.2020).
Dadurch hat sich der Mangel an lebenswichtigen Gütern (Lebensmittel, Medikamente) etwas abgeschwächt, die astronomische Inflation ist mit der Dollarisierung der Wirtschaft zurückgegangen und die Erwartung, dass es zu neuen Investitionen kommt, ist gestiegen. Laut Prognose des Ökonomen Francisco Rodríguez könnte die venezolanische Wirtschaft im Jahr 2020 um bis zu vier Prozent wachsen (Portal Amerika 21 v. 7.1.2020). Der IWF ist da skeptischer. Seine Herbstprognose 2019 geht davon aus, dass sich der Einbruch des BIP langsam abschwächt: nach -35% im vergangenen Jahr auf -10% im laufenden und -5% in 2021. Auch das wäre angesichts des fortgeschrittenen ökonomischen Verfalls ein erster Lichtblick. Allerdings wächst die Gefahr, dass sich mit der Dollarisierung die soziale Spaltung verschärft. Von der weiteren Bekämpfung der Inflation und der Stabilisierung der öffentlichen Haushalte zugunsten planbarer Investitionen dürfte abhängen, ob eine Konsolidierung unter weiterhin bestehenden Blockadebedingungen möglich ist.
Das Festhalten Washingtons und Brüssels an Guiadó ist umso bemerkenswerter, als der Oppositionspolitiker am 5. Januar sein Mandat als Präsident der venezolanischen Nationalversammlung an den Oppositionspolitiker Luis Eduardo Parra und somit den letzten Rest der ohnehin fragwürdigen »Legitimation« für sein »Mandat als Übergangspräsident« verloren hat. Der Bruch im Bündnis zwischen Konservativen und Rechtsextremen ist auch eine Folge der Monopolisierung der millionenschweren US-Finanzierung durch Guaidó und seine Mitstreiter. Parras Gefolgsleute werfen ihnen Veruntreuung von Mitteln durch undurchsichtige Geschäfte und Luxus vor.
Die Trump-Administration hatte der Guaidó-Gruppe zunächst 19 Millionen US-Dollar für »sichere Kommunikation«, Reisekosten, Schulungen zur Haushaltsplanung und andere Maßnahmen der Regierungsvorbereitung nach der Vertreibung Nicolás Maduros überwiesen. Die jüngste 52-Millionen-Dollar-Zuwendung hatte Mark Green, Direktor der Agentur für internationale Entwicklung (USAID) nach einem Treffen mit Guaidós Gesandtem Carlos Vecchio, den Washington als venezolanischen Botschafter anerkannt hat, angekündigt. Die Los Angeles Times hatte schon im vergangenen Juli berichtet, ihr sei ein Memo von USAID an den Kongress zugespielt worden sei, dem zu entnehmen ist, dass 41,9 Millionen US-Dollar, die für humanitäre Hilfe in Honduras und Guatemala vorgesehen waren, Guaidó und seinen Mitstreitern zugutekommen sollen.
Die Oppositionsfront ist zusätzlich ins Bröckeln geraten, nachdem mehrere Führer des moderaten Flügels der Opposition im Herbst 2019 mit der Regierung beschlossen haben, den Weg für einen »nationalen Dialog« freizumachen. Für das Lager der Regierungsgegner unterschrieben Repräsentanten der Parteien »Bewegung zum Sozialismus« (MAS), »Lösungen« (Soluciones), »Verändern wir« (Cambiemos), »Rote Fahne« (BR) und die »Progressive Partei« (Avanzada Progresista) von Henry Falcón, der bei den Präsidentschaftswahlen 2018 gegen Maduro angetreten war und gut 21% der Wählerstimmen auf sich vereinen konnte. Die Verhandlungspartner verurteilen einmütig die US-Sanktionen gegen ihr Land und wollen einen Vorschlag für ein Programm »Öl gegen Nahrungsmittel und Medikamente« ausarbeiten. Vor den nächsten Wahlen soll die oberste Wahlbehörde (CNE) reformiert und neu besetzt werden.
Die bolivarische Regierung hat für 2020 Parlamentswahlen angesetzt. Dies kann die Spaltung der rechten Opposition weiter vorantreiben. Schon jetzt sind die vier großen Oppositionsparteien über das weitere Vorgehen uneinig. Die sozialdemokratische Partei »Volkswille« (Voluntad Popular, VP), dessen Mitglied Guaidó ist, und die rechtsliberale »Zuerst Gerechtigkeit« (Primero Justicia, PJ) streiten darüber, ob sie ihren Anhängern empfehlen sollen, wählen zu gehen, ohne ihr oft wiederholtes Versprechen vom »Ende der Usurpation« erfüllt zu haben, während die beiden ebenfalls sozialdemokratisch orientierten Parteien »Demokratische Aktion (Acción Democrática, AD) und »Eine neue Zeit« (Un Nuevo Tiempo, UNT) zur Wahlbeteiligung tendieren, da sie befürchten, bei einer Wahlenthaltung ihre Sitze zu verlieren. »Daher könnte 2020 das Jahr des endgültigen Bruchs innerhalb der Opposition werden«, sagt der venezolanische Soziologe Ociel Alí López von der Universidad Central de Venezuela.
Auch die jüngeren Entwicklungen in Lateinamerika führen zur Schwächung der Position von Juan Guaidó. Mehrere südamerikanische Regierungen, die die venezolanische Opposition unterstützen, haben es zwischenzeitlich selbst mit landesweiten Massenprotesten gegen ihre neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik zu tun. Verbündete wie Kolumbiens Präsident Iván Duque oder Chiles Staatschef Sebastián Piñera stehen selbst unter Druck.
Das Scheitern der »Operation Guaidó« bedeutet jedoch nicht, dass die Krise in Venezuela vorbei ist. Weder im Innern noch nach Außen. US-Präsident Trump mag daran gelegen sein, den Konflikt mit Venezuela am Köcheln zu halten, um im Präsidentschaftswahlkampf die »exilierten« Latino-Wähler zu mobilisieren. Auf deren Stimmen zielt er vor allem, wenn er den Demokraten unterstellt, aus »den USA ein zweites Venezuela machen zu wollen.«
[1] Eine Untersuchung der venezolanischen Tageszeitung Últimas Noticias zu den diplomatischen Beziehungen Venezuelas hat ergeben, dass die Anerkennung von Juan Guaidó durch mehr als 50 Staaten in der Regel über eine »symbolische Ebene nicht hinausgeht«. Bis 2019 hat Venezuela in 90 der 193 Länder, die zusammen mit dem südamerikanischen Land die internationale Gemeinschaft in den Vereinten Nationen (UN) bilden, eine diplomatische und/oder konsularische Vertretung unterhalten. Ein Jahr später unterhalte die venezolanische Regierung zu 94,4% dieser Länder dieselben diplomatischen und/oder konsularischen Beziehungen. Die Beziehungen abgebrochen haben: die USA, Kolumbien, Costa Rica, Paraguay und jüngst nach dem Staatsstreich rechtsextremer Kräfte auch Bolivien (Amerika 21, 13.2.2020).
[2] Siehe auch: Otto König/Richard Detje: »Kriminelle« Wirtschaftsblockaden der Trump-Administration Sanktionen – der heimliche Krieg, Sozialismus.de Aktuell 26.8.2019.