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8. Mai 2022 Hinrich Kuhls: Nach den Wahlen in Nordirland und Großbritannien

Das Vereinigte Königreich vor Zerreißproben

Die designierte nordirische Ministerpräsdentin Michelle O'Neill

In England, Schottland und Wales wählten die Stimmbürger*innen Stadt- und Kommunalräte, in Nordirland das Landesparlament. Die politische Perspektive der Wahlergebnisse: Über die Zukunft der Regierung des Vereinigten Königreichs wird in England entschieden; über die Zukunft des Königreichs selbst in Schottland und Nordirland.

Die Kommunalwahlen in Großbritannien finden überwiegend in einem vierjährigen Turnus statt. Im Landesteil England kommt die Sonderregelung hinzu, dass die Wahlen der Abgeordneten nach Typ der jeweiligen Gebietskörperschaften und Region auf unterschiedliche Jahre verteilt sind und auch zwischen Gesamt- und Teilerneuerung variieren. Sie werden nach demselben Mehrheitswahlrecht durchgeführt wie die Wahlen zum britischen Unterhaus.

Die Kommunal- und Regionalwahlen im vorigen Jahr fanden inmitten der Pandemie und der anhaltenden ökonomischen Wirren nach dem Brexit statt. Sie waren insofern ungewöhnlich, weil zugleich die 2020 wegen der Pandemie ausgefallenen Wahlen nachgeholt wurden und so landesweit mehr als die Hälfte aller Wahlberechtigten zum Urnengang aufgerufen waren. Die Ergebnisse bestätigten den Trend eines weiteren Rechtsdrift und zunehmender Risse im Vereinigten Königreich.

Bezugspunkt für die Bewertung der Wählerbewegungen in den aktuellen Wahlen in England ist das Jahr 2018.[1] Seinerzeit zeichnete sich in ersten Umrissen ab, dass die damals amtierende Premierministerin Theresa May ihre Version eines harten Brexits plus Verbleib in einer Zollunion mit der EU nicht würde durchsetzen können gegen die rechtspopulistischen und nationalistischen Brexit-Hardliner um den damaligen Außenminister Boris Johnson. Brexit-Schattenminister Keir Starmer kämpfte an der Seite des Labour-Vorsitzenden und Oppositionsführers Jeremy Corbyn für eine sozial-ökologische Abfederung des Brexits und die Begrenzung der negativen Folgen für Infrastruktur, Industrie und Außenhandel.

Das Landesparlament in Nordirland, die Northern Ireland Assembly, war letztmals 2017 gewählt worden. Mehrere Jahre hinweg war es nicht zusammengetreten und nahm seine legislative Arbeit erst wieder am 11. Januar 2020 auf – eine Vorbedingung, damit der Brexit-Vertrag zum 31.1.2020 rechtswirksam in Kraft treten konnte. Nachdem der unionistische Part der nordirischen Regierungs-Doppelspitze Anfang Februar zurückgetreten war und eine erneute Blockade von Regierung und Parlament drohte, datierte der Nordirland-Minister der Londoner Tory-Regierung die Neuwahlen parallel zu den Kommunalwahlen in Großbritannien.


England: Verluste der Tories, Gewinne der gespaltenen Opposition

Der Wahlforscher John Curtice geht davon aus, dass wenn ganz Großbritannien gewählt hätte, die Tory-Partei bei 30% gelandet wäre. Das sind sechs Punkte weniger als bei der entsprechenden Schätzung im letzten Jahr und fünf Punkte weniger als 2018. Die Ergebnisse bestätigen, dass die Konservativen bei den Wahlen noch nie so schwach gewesen sind, seit Johnson 2019 seine Mehrheit von 80 Sitzen gewann.

Wie ebenfalls erwartet, hat dieser Rückgang der Unterstützung jedoch nicht zu spektakulären Sitzverlusten geführt. Dies spiegelt die Tatsache wider, dass die Konservativen viel weniger Mandate und Mehrheiten in Kommunalparlamenten zu verteidigen hatten als die Labour Party. Dennoch entspricht der Verlust von fast 350 Sitzen in England etwa einem Viertel der Sitze, die die Partei zu verteidigen versuchte.

Die Verluste der Konservativen haben sich jedoch nicht einfach in einen Vorsprung für Labour niedergeschlagen. Obwohl der extrapolierte Anteil mit 35% um sechs Prozentpunkte höher liegt als im letzten Jahr, ist er nicht besser als das, was die Partei 2018 erreichte, als Corbyn Labour-Parteivorsitzender war. Real konnte die Partei ihr Wahlergebnis von 2018 in London lediglich halten und im Süden Englands einen kleinen Zuwachs erzielen, verlor aber im Norden Englands drei Punkte. Die Zahl von etwas mehr als 50 Nettositzgewinnen (die meisten davon in London) spiegelt eher den Rückgang der Unterstützung für die Konservativen wider als einen Wahlerfolg von Labour im Vergleich zu 2018.

Weit mehr als die Labour Party haben die Liberaldemokraten von den Verlusten der Tories profitiert. Sie haben netto 200 Sitze hinzugewonnen und im Norden die Kontrolle über Kingston-upon-Hull von Labour und im Südwesten über Somerset und Gosport von den Konservativen übernommen. Es ist das beste Kommunalwahlergebnis für die Liberalen, seit sie nach den Parlamentswahlen 2010 eine Koalition mit den Konservativen eingegangen waren.

Der vielleicht am wenigsten erwartete Erfolg war jedoch der der Grünen, die mehr als 50 Sitze hinzugewannen und damit die Vertretung der Partei in den Gemeinderäten, die am Donnerstag gewählt wurden, mehr als verdoppelten. Die Partei hat in den Bezirken, in denen sie angetreten ist, durchschnittlich 12% der Sitze gewonnen, vier Prozentpunkte mehr als 2018, auch wenn sie ihr bisher bestes Ergebnis bei Kommunalwahlen im Jahr 2019 nicht ganz erreicht hat.

Die Wahlbeteiligung ist trotz der verschiedenen jüngsten Skandale in Westminster anders als vielerorts befürchtet nicht eingebrochen, sie ist um knapp zwei Prozentpunkte niedriger als bei anderen Kommunalwahlen der letzten Zeit. Insgesamt verdeutlichen diese Ergebnisse den starken Rückgang der Unterstützung für die Konservativen in den letzten 12 Monaten, nicht zuletzt im Zuge des jüngsten Partygate-Skandals und der anhaltenden Teuerungskrise.


London: Armut in der Finanzmetropole

Besonders ausgeprägt sind die Verluste der Konservativen in London. Die Partei hat insgesamt nur die Kontrolle über 11 Stadtverwaltungen verloren, jedoch gehören dazu drei Londoner Bezirksvertretungen, darunter die Stadtbezirke Wandsworth und Westminster, wo es den Anschein hatte, dass die Tories bisher mit ihrer Politik der niedrigen Gemeindesteuer ihre Mehrheit würden verteidigen können, selbst entgegen dem landesweiten Trend. Die Ergebnisse in ganz England deuten darauf hin, dass von den Tories geführte Kommunen mit relativ niedrigen Gemeindesteuersätzen an den Wahlurnen nicht besser abgeschnitten haben – ein Muster, das die Partei bei künftigen Kommunalwahlkämpfen nicht außer Acht lassen kann, da die niedrigeren Einnahmen mit einer schlecht ausgestatteten sozialen Infrastruktur korrelieren.

In London leben laut Armutsprofil des Wirtschaftsberatungsunternehmens WPI von 2020 rund 22% der Kinder in überbelegten Wohnungen, verglichen mit 11% im UK gesamt. Die Zahl der ausgelieferten Lebensmittelpakete von Tafel-Organisationen ist zwischen 2019 und 2020 um 128% gestiegen, im Vergleich zu 56% im übrigen England. Schon 2010 lebten in der Hälfte der Haushalte von Lohnabhängigen Kinder, die von Armut betroffen sind. Zehn Jahre später sind es 76%. Für Millionen von Geringverdiener*innen wird London allmählich unbewohnbar.

Die Armut in der Finanzmetropole wird jenseits der Stadtgrenzen Londons nicht gesehen. Im Januar ergab eine von der Denkfabrik More in Common durchgeführte Umfrage, dass 60% der britischen Bevölkerung außerhalb Londons es begrüßen würden, wenn London und der Südosten Englands »weniger wohlhabend« würde, um »die Ungleichheit zwischen den verschiedenen Regionen des Vereinigten Königreichs zu verringern«. Es spielt dabei keine Rolle, dass Londoner Stadtbezirke wie Hackney und Barking & Dagenham zu den am meisten benachteiligten in England gehören. London wird in weiten Teilen der britischen Union wahrgenommen als die Stadt der Banker, Barone und Oligarchen, die 50-Pfund-Noten verbrennen, um ihre Villen warm zu halten, während alle anderen frieren.

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten stellen die Leitmedien den Wechsel der Mehrheit in Stadtbezirksversammlungen zugunsten der Labour Party nicht als schlechte Nachricht heraus, sondern berichten darüber – wenn schon nicht positiv – so doch immerhin neutral. Die Siege in London werden als »symbolisch« betrachtet, als ob die Londoner*innen keine realen Wähler*innen mit realen Problemen wären. Sie werden auf »ein PR-Desaster für die Tories« reduziert.

Die Spreizung in den Arbeits- und Lebensverhältnissen im Landesteil England wurde lange Zeit ideologisch in einen Gegensatz zwischen dem UK und der EU transformiert. Der Brexit hat die sozialen und regionalen Spaltungen nicht beseitigt. Sowohl im industriell deprivierten Norden und Nordosten als auch im überwiegend ländlich strukturierten Südwesten Englands wird das Übel zunehmend im Südosten und in der Hauptstadt gesehen, wo der Glanz des Reichtums blendet. Auf die Tory-Politik der Aufwärtsangleichung, dem »levelling-up«, antwortet die Mehrheit der Engländer*innen mit dem Wunsch des Niedergangs ihrer Kapitale.

Die kommunalen »Zwischenwahlen« zur Mitte der Legislaturperiode bestätigen, dass die Entscheidung über die nächste Regierung des UK wie seit 2017 allein in diesem Landesteil fallen wird. Der von Korruption, Verfehlungen und Gesetzesbrüchen geprägten Tory-Regierung steht eine gespaltene Opposition gegenüber mit einer weiterhin schwächelnden Labour Party und den leicht gestärkten Parteien der liberalen und ökologischen Strömung. Diese Konstellation verheißt keine Veränderung der Mehrheitsverhältnisse im nationalen Parlament.


Schottland: Der Ruf nach Unabhängigkeit wird noch lauter

Die Dominanz der Scottish National Party (SNP) hält weiter an. Im letzten Jahr war die SNP als schottische Regierungspartei aus der Wahl des Landesparlaments gestärkt hervorgegangen. Um eine Koinzidenz zu vermeiden, waren die für 2021 terminierten Kommunalwahlen auf dieses Jahr verschoben worden. In den 32 schottischen Kommunalparlamenten waren insgesamt rund 1.200 Mandate zu besetzen. Da nach dem Präferenzwahlsystem mit übertragbaren Einzelstimmen gewählt wird, sind anders als in England und London die meisten schottischen Kommunalparlamente, nämlich 27, nicht durch die absolute Mehrheit einer Partei geprägt.

Gegenüber den Kommunalwahlen 2017 hat sich die SNP erneut verbessert und hat mindestens 22 weitere Mandate hinzugewonnen. Mit insgesamt rund 450 Mandaten stellt sie mehr als ein Drittel aller Kommunalparlamentarier*innen. Es ist der größte Zugewinn für eine Partei seit der Einführung des Präferenzstimmen-Wahlsystems vor 15 Jahren. Die schottische Labour Party erreichte ihr Ziel, den zweiten Platz zurückzuerobern (282 Mandate) – bei nach wie vor großem Abstand zur SNP. Die Zugewinne der Labour Party gehen auf Kosten der Konservativen, deren Stimmenanteil um 16 Prozentpunkte sank und die 61 Mandate abgeben mussten (jetzt noch 214) zugunsten von SNP, Labour, den Liberaldemokraten (87 Mandate) und den Grünen, die ihre Mandate auf 35 verdoppeln konnten.

Die schottischen Konservativen lasten die Niederlage ihrem Vorsitzenden Douglas Ross an, Abgeordneter sowohl im Londoner Unterhaus als auch im schottischen Parlament, der seinen Parteifreund Johnson zunächst aufgefordert hatte, wegen des Partygate-Skandals zurückzutreten, dann aber einige Wochen später auf Druck der Fraktionsführung zurückruderte. Nun wird sein Rücktritt gefordert.

Die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon hob die lange Reihe der Wahlerfolge der SNP hervor. Die Ergebnisse zeigten, dass die SNP – in jeder Hinsicht – die dominierende politische Kraft in Schottland sei. »Unser überwältigender Sieg ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass meine Partei seit 15 Jahren in Schottland regiert.« Im Zentrum der Wahlprogramme stand immer, die britische Union zu verlassen und als souveräner Staat bruchlos Mitglied der Europäischen Union zu bleiben.

Johnson und die Tories lehnen ein neues Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands ab mit dem Hinweis, die Zustimmung dazu sei 2014 nur unter Bedingung erteilt worden, das Ergebnis würde für eine Generation Bestand haben. Dem halten Sturgeon und die SNP entgegen, dass sich das politische Establishment die Ablehnung der schottischen Souveränität erschlichen habe, weil es sich dafür verbürgt habe, den dauerhaften Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU zu sichern. Der Verrat dieser Zusicherung und die überwiegende Ablehnung des Brexits in Schottland rechtfertigten längst ein neues Unabhängigkeitsvotum. Solange die Labour Party in dieser Frage die SNP und die Mehrheitsmeinung in Schottland nicht unterstützt, wird diese Differenz auf Dauer einer Kooperation beider Parteien zwecks Regierungsablösung der Tory-Partei in Westminster entgegenstehen.


Nordirland: Die Einheit Irlands rückt näher

Das Wahlergebnis für die Nordirland-Versammlung kommt nicht unerwartet, hat aber dennoch eine historisch weitgehende Dimension. Gegenüber der Wahl 2017 hat sich das Stimmengewicht der beiden jeweils größten Parteien, die die Bürger*innen repräsentieren, die sich einerseits der irischen Nation und andererseits der britischen Union verbunden fühlen: die »Nationalists« und die »Unionists«, dramatisch verschoben.

Die Mitglieder der Nordirland-Versammlung werden in 18 Wahlkreisen in einer Präferenzwahl mit übertragbaren Einzelstimmen gewählt; es findet also keine Listenwahl statt. Jeder Wahlkreis entsendet fünf der insgesamt 90 Abgeordneten. Die Wähler*innen geben den Kandidat*innen auf einem Stimmzettel Präferenzen, bringen sie also in eine Rangfolge. Erhält ein*e Kandidat*in mehr Erststimmen als das obere Quorum, das durch die Anzahl der abgegebenen Wahlzettel bestimmt wird, erhält er/sie einen Sitz. Die Zweit- und weiteren Präferenzstimmen kommen dann zum Tragen, indem nach der ersten und gegebenenfalls weiteren Auszählrunden diese Präferenzen auf den Stimmzetteln der bereits Gewählten und jenen, die das untere Quorum nicht erreicht haben, den verbliebenen Kandidat*innen zugeteilt werden, und zwar bis alle Sitze des Wahlkreises besetzt sind.

Erstmals seit der Teilung Irlands und dem Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich vor 100 Jahren hat eine Partei des republikanisch-katholischen Spektrums die Wahl gewonnen. Die linksrepublikanische Partei Sinn Féin errang nicht nur die meisten Erstpräferenzstimmen, sondern auch die meisten Parlamentssitze. Die Wahlbeteiligung betrug 63,6% (2017: 64,8%).

Sinn Féin erhielt mit rund 250.000 gut 29% der Erstpräferenzstimmen (2017: 28%), während die Democratic Unionist Party (DUP) nur noch 184.000 Stimmen erzielte, womit ihr Stimmenanteil gegenüber 2017 um sieben Prozentpunkte auf nur noch 21% absackte. Sinn Féin entsendet jetzt 27 Abgeordnete in die Versammlung, die DUP 24.

Die beiden zur Zeit des Abschlusses des Karfreitagskommens stärksten Parteien der beiden Bevölkerungsspektren mussten weitere Verluste hinnehmen. Die Social Democratic & Labour Party entsendet bei 9% der Erstpräferenzstimmen nur noch acht Abgeordnete, die Ulster Unionist Party bei 11% noch neun Abgeordnete.

Starke Zugewinne verbucht die liberale Alliance Party. Sie verdoppelt ihre Sitze auf 17 bei 13,5% der Erstpräferenzstimmen und wird damit drittstärkste Parlamentsfraktion. Ihre Wählerschaft kommt aus jenen Kreisen, die sich weder konfessionell noch landsmannschaftlich einem Spektrum zuordnen und diese Regelung im System der Konsensfindung des Belfaster Abkommens für überholt halten. Entsprechend hatten sich ihre Abgeordneten in der Nordirland-Versammlung bisher keinem der beiden Spektren zugeordnet. Daran werden sie auch weiterhin festhalten, aber ihre parlamentarische Stärkung hat zur Folge, dass sie jetzt zwei Optionen haben.

Da gemäß dem Belfaster Abkommen die acht Regierungsressorts entsprechend der Parlamentsstärke nach d´Hondt vergeben werden, könnten sie sich für eine Regierungsbeteiligung entscheiden. Im anderen Fall hätten sie die Möglichkeit, erstmals als »offizielle Opposition« mit erweiterten Antragsmöglichkeiten zu agieren. In dieser Rolle könnte die Fraktion Akzente setzen, um die Konfrontation zwischen den republikanischen und monarchistischen Lagern zu entschärfen.

Vorausgesetzt ist dabei, dass es überhaupt zu einer Regierungsbildung kommt und die DUP ihre Blockadepolitik aufgibt. Das wird ihr schwer fallen. Denn Wahlgewinner nach Präferenzstimmen ist mit einem Zuwachs von 5,1% auf 7,6% die Traditional Unionist Voice (TUV). Sie hatte sich 2006 von der DUP abgespalten, weil sie den Modus der Konsensfindung und der Regierungszusammenarbeit des Belfaster Abkommens und erst recht die Regierungskooperation mit Sinn Féin ablehnt. Die TUV konnte mit ihrem Stimmenzuwachs nicht mehr als ein Mandat gewinnen, hat aber die DUP entscheidend geschwächt, sodass diese keinen Anspruch hat, den »First Minister« der Regierung zu stellen.

»First Minister« und »Deputy First Minister«, Ministerpräsident*in und gleichberechtigt*e Stellvertreter*in, haben zwar exakt dieselben Rechte und Pflichten. Entsprechend der Aufgabenteilung wäre korrekt von Co-Regierungschefs zu sprechen. Die hierarchisierende Nomenklatur war seinerzeit gewählt worden, um dem unionistischen Lager die Zustimmung zum Belfaster Vertrag attraktiver zu machen. Heute wird in weiten Teilen des unionistischen Lagers die Wahlniederlage der DUP als gerechte Strafe für eine Politik gewertet, die sich der Tory-Regierung in London gegenüber als zu schwankend und Sinn Féin und den katholisch-irischen Bürger*innen in Nordirland gegenüber als zu nachgiebig erwiesen habe. Entgegen der Mehrheit in Nordirland hatte die DUP den Brexit unterstützt, war dann aber bei der Gestaltung des EU-Austrittsvertrags mit dem Nordirland-Protokoll von Johnson ausgebootet worden.

Es wäre eine positive Überraschung, wenn innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Zeitspanne eine Regierungsbildung gelänge. Andernfalls droht mit der Fortsetzung der Blockade seitens der DUP die erneute Auflösung der Versammlung und Neuwahlen noch in diesem Herbst. Die Nordirland-Versammlung kann sich selbst mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit auflösen. Sie wird automatisch aufgelöst, wenn sie es nicht schafft, innerhalb von höchstens vier konsekutiven Fristen von je sechs Wochen einen Regierungschef zu wählen.

Auch ein Zurück zur Suspendierung des Parlaments und zur Regelung der wichtigsten nordirischen Angelegenheiten durch das Parlament in Westminster ist nicht ausgeschlossen. Würde die Tory-Regierung hingegen zum Mittel der Notstandsverordnung, dem »direct rule« greifen, wären die Autonomiebefugnisse im Rahmen des Belfaster Abkommens aufgehoben und der Norden Irlands erneut zur Provinz degradiert.

Ohne Mitwirkung der Nordirland-Versammlung kann der Brexit-Prozess nicht abgeschlossen werden. Das betrifft nicht die technischen Probleme bei den Zoll- und Kontrollverfahren an der nordirisch-britischen Grenze, die schnell lösbar wären, würden sie nicht als populistische Drohkulisse von der Tory-Regierung hochgehalten, um von ihrer Autorenschaft des Nordirland-Protokolls abzulenken. Die DUP fordert darüber hinaus, dass das Nordirland-Protokoll insgesamt revidiert und aufgehoben wird.

Wichtig ist vielmehr folgender Zusammenhang:[2] Die Überprüfung des Nordirland-Protokolls und die Entscheidung über dessen Fortsetzung, die erstmals Ende 2024 zu erfolgen hat, ist von der britischen Regierung und den EU-Institutionen im Austrittsvertrag in die Hände des nordirischen Parlaments gelegt worden. Es entscheiden also nicht die vertragsschließenden souveränen Parteien (UK und EU) über den Fortbestand ihrer Zollmodalitäten und Binnenmarktabgrenzungen, sondern ein auf einen doppelten Konsens verpflichtetes Parlament eines allenfalls teilsouveränen politischen Gemeinwesens, dessen Bevölkerung sich ganz unterschiedlichen »Souveränitäten« verpflichtet sieht.

Diesen entscheidenden Mangel des Vertrags, mit dem der Austritt des UK aus der EU geregelt worden ist, hat neben der britischen Regierung der Europäische Rat mit zu vertreten, da er in der letztlich ratifizierten Fassung des Nordirland-Protokolls den Änderungsforderungen der Rechtspopulisten und Nationalisten der britischen Seite nicht widersprochen hat.

Auch für die Abstimmung über die Fortsetzung des Nordirland-Protokolls ist dem Grundsatz nach das Konsensprinzip beider Seiten, von »Nationalists« und »Unionists« vorgesehen. Findet 2024 tatsächlich eine Abstimmung statt und wird dabei der Zustimmungsantrag mit konfessionsübergreifender Unterstützung angenommen, ist ein weiterer Zustimmungsbeschluss innerhalb von acht Jahren erforderlich. Wird der Antrag jedoch nur mit einfacher Mehrheit angenommen, ist innerhalb von vier Jahren ein weiterer Zustimmungsbeschluss erforderlich.

Hier geht dann aber laut der »Einseitigen Erklärung« der UK-Regierung zur »Durchführung der Bestimmung zur ›Demokratischen Einigung in Nordirland‹ des Protokolls zu Irland/Nordirland« vom 17.10.2019 die Initiative auf die Londoner Zentralregierung über. Die einseitige Erklärung sieht vor, dass die UK-Regierung im Falle einer Verabschiedung des Antrags mit einfacher Mehrheit eine unabhängige Überprüfung »der Funktionsweise des Nordirland-Protokolls und der Auswirkungen einer Entscheidung über die Fortsetzung oder Beendigung der Angleichung auf das soziale, wirtschaftliche und politische Leben in Nordirland« in Auftrag geben wird. Die Überprüfung soll Empfehlungen aussprechen, »auch im Hinblick auf neue Regelungen, die ihrer Ansicht nach von der gesamten Gemeinschaft unterstützt werden könnten«.

Sollte die Nordirland-Versammlung hingegen nicht arbeitsfähig sein, so wie es über mehr als drei Jahre hinweg in der abgelaufenen Legislaturperiode der Fall war, dann bleibt umstritten, ob die Entscheidungsgewalt auf Parlament und Regierung des Vereinigten Königreichs in London übergeht, oder ob eine Entscheidung im Rahmen der anderen Konsens-Institutionen des Belfaster Vertrags oder im Gemeinsamen EU-UK-Ausschuss zur Umsetzung des Austrittsvertrags gefunden werden soll und muss.

Michelle O'Neill, die designierte Ministerpräsidentin und stellvertretende Vorsitzende der Sinn Féin hat eine integrative Politik angekündigt und den Unionisten eine Kooperation angeboten, um ein wiedervereinigtes Irland vorzubereiten. Mary Lou McDonald, die Vorsitzende von Sinn Féin und Oppositionsführerin im Dáil Éireann, dem Parlament der Republik Irland, hob die Bedeutung des Sieges ihrer Partei hervor und sagte, es sei »nicht nur symbolisch, dass jetzt wir jetzt an der Schwelle stehen, wo eine Republikanerin an die Spitze der Exekutive rückt und Ministerpräsidentin im Norden Irlands wird. Es ist bedeutsam, weil es ein Signal der Gleichheit ist.«

Sinn Féin werde, so McDonald, auf ein Wiedervereinigungsreferendum (»Border Poll«) im Laufe der kommenden fünf Jahre dringen. Sie erinnerte daran, dass sowohl im Norden als auch im Süden der Insel abgestimmt werden muss. »In den kommenden Jahren, mit Sicherheit in diesem Jahrzehnt, werden wir auf der irischen Insel einen Wandel der Verfassung sehen. Ich glaube, dass das Referendum in einem Zeitrahmen von fünf Jahren möglich ist.«

Die Regierungsbildung hängt jetzt von der Kooperationsfähigkeit der Unionisten und in erster Linie der rechtsnationalistischen, EU-feindlichen und pro-britischen DUP ab. Bei einem Übergang zu einer Sabotage der Regelungen sowohl des EU-Austrittsvertrags als auch des Belfaster Karfreitagsabkommens von dieser Seite wird es auf das Geschick von Sinn Féin ankommen, weiter Zeit zu kaufen, um ein erneutes Aufflammen von Gewalt zu verhindern und zu einem späteren Zeitpunkt die Vorbereitungen einzuleiten für das völkerrechtlich bindend festgelegte Votum über die Einheit Irlands.


Die Erbschaft des Brexits

Die diesjährigen Kommunalwahlen und die Regionalwahl in Nordirland haben gezeigt, dass der Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs weiter bröckelt. Mit dem Brexit konnte die Tory-Regierung die langjährigen strukturellen sozialen und ökonomischen Schieflagen nicht beheben. Im Gegenteil: Die Disruptionen zu Beginn der »vasallenfreien Ära« (Johnson) weisen auf eine Verschärfung der Probleme hin. Die Covid-19-Pandemie hat die Lage überdeckt, dafür aber offenbart, dass zwölf Jahre konservativer Austeritätspolitik das Gesundheits- und Pflegesystem haben marode werden lassen, und dass die Tory-Regierung ohne Scham und Mitgefühl agiert. Das Engagement Johnsons bei der Eindämmung der umfassenden Teuerungskrise der Lebenshaltungskosten, der »cost of living crisis«, steht im umgekehrten Verhältnis zu seinem Enthusiasmus, den Auftritt des Globalen Britanniens auf der Weltbühne mit der Ausweitung des Militärhaushalts zu forcieren.

Zur Mitte der Legislaturperiode legt Johnson nun ein Regierungsprogramm für die nächsten Schritte seiner Regierung vor, professionell vorgetragen als Thronrede der Königin. Eine sozialökologische Transformation wird in einem weiter vereinigten Königreich nicht ohne eine Neuordnung der politischen Form des Gemeinwesens möglich sein. Ob Johnson die Zeit bleibt, sein demgegenüber unzureichendes Programm umzusetzen, oder ob er sich unter Ausnutzung seiner außenpolitischen Profilierungsversuche in vorgezogene Neuwahlen retten kann, ist nach diesem Wahltag ungewisser als zuvor.

Tritt aber die Monarchin ab, sind die Oligarchen im Globalen Britannien entblößt. Die majestätische Symbolik weicht der eisenharten Realpolitik der herrschenden Klasse des Finanzkapitalismus. Die Erbschaft des Brexits ist der Zerfall der Union des Vereinigten Königreichs.

Anmerkungen

[1] Vgl. Hinrich Kuhls: Fragiles Gleichgewicht für Post-Brexit. Nach den Kommunalwahlen in England. In: Sozialismus.de, Heft6–2018, S. 43–46.
[2] Vgl. Hinrich Kuhls: Beunruhigende Brexit-Folgen in Nordirland. Hundert Jahre Teilung der irischen Insel. In: Sozialismus.de, Heft 5–2021, S. 26–31.

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