Hajo Funke
AfD-Masterpläne
Die rechtsextreme Partei und die Zerstörung der Demokratie | Eine Flugschrift
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ISBN 978-3-96488-210-3

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Strategische Fragen linker Politik in Zeiten von Krieg und Krise
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126 Seiten | EUR 12.00
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Antje Vollmer/Alexander Rahr/Daniela Dahn/Dieter Klein/Gabi Zimmer/Hans-Eckardt Wenzel/Ingo Schulze/Johann Vollmer/Marco Bülow/Michael Brie/Peter Brandt
Den Krieg verlernen
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Frank Deppe
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Heiner Dribbusch
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ISBN 978-3-96488-121-2

11. September 2019 Otto König/Richard Detje: Der türkische Autokrat Erdogan dreht erneut an der Repressionsschraube

Den Menschen »ihren Willen« geraubt

Kundgebung für Selahattin Demirtaş. Foto: franziska.stier (CC BY-NC-ND 2.0)

Die Allmacht des Autokraten Recep Tayyip Erdoğan schien zu Wanken. Bei den Kommunalwahlen Ende März dieses Jahres verlor die »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung« (AKP) zahlreiche türkische Großstädte an die Opposition.

Und schließlich geriet die durch Erdoğan erzwungene Wahlwiederholung in Istanbul für die AKP zu einem Desaster, da der Kandidat der säkularen kemalistischen Volkspartei CHP, Ekrem İmamoğlu, seinen Vorsprung sogar noch ausbauen konnte.

Im Südosten der Türkei – vor allem in den stark umkämpften Metropolregionen Diyarbakir, Van und Mardin – konnte die »Partei der Demokratischen Völker« (HDP) mit deutlichem Vorsprung gewinnen. Insgesamt 48 Gemeinden konnte sie von der islamistisch-konservativen AKP zurückerobern. Die Freude darüber hielt sich bei den HDP-Wähler*innen jedoch in Grenzen, hatte doch der türkische Staatspräsident bereits vor den Wahlen angekündigt, »Bürgermeister abzusetzen, die sich seiner Politik widersetzen«.

Dennoch: Als das Verfassungsgericht und das Oberste Berufungsgericht in den vergangenen Wochen Urteile widerriefen und mehrere politische Gefangene daraufhin freigelassen wurden,[1] keimte die Hoffnung auf, dass die Demokratie in der Türkei doch noch nicht komplett verloren sei. Zugleich wurde darüber gerätselt, was Erdoğans nächster Schachzug sein würde. Es scheinen jene Recht zu behalten, die nach den für die AKP desaströsen Ergebnissen der Kommunalwahl erneut härtere Repressionen befürchteten.



Knapp fünf Monate nach dem Machtverlust in den Kommunen »putschte« die AKP-Regierung gegen die demokratisch gewählten Bürgermeister von drei Provinzhauptstädten im Südosten der Türkei. Die Bürgermeister von Diyarbakir und Mardin, Selcuk Mizrakli und Ahmet Türk, sowie die Bürgermeisterin von Van, die Juristin Bedia Özgökce Ertan, wurden von der Zentralregierung in Ankara ihres Amtes enthoben und durch Gouverneure der Provinzen als staatliche Zwangsverwalter ersetzt. Die »Abgesetzten« gehören der HDP an und waren am 31. März mit 63, 56 und 54% der Stimmen gewählt worden. »Dieser Schritt gegen die HDP-Stadtverwaltungen muss als ein Akt gegen die Werte der Demokratie und gegen die demokratische Opposition im ganzen Land betrachtet werden«, so der Oberbürgermeister Selcuk Mizrakli.

Den Amtsenthebungen waren Massenverhaftungen von rund 500 HDP-Mitgliedern vorausgegangen. Der staatliche Willkürakt, der den Bürger*innen ihre verfassungsmäßig garantierte legislative Repräsentation raubt, wurde mit dem Standardvorwurf begründet, mit dem Erdoğan seit dem gescheiterten Militärputsch im Juli 2016 zehntausende Oppositionelle ins Gefängnis werfen ließ: Die drei Stadtoberhäupter hätten »Terrorpropaganda« verbreitet und vorgehabt, finanzielle Mittel der Stadtverwaltungen an die als Terrororganisation eingestufte Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) weiterzuleiten. Darüber hinaus hätten sie mit der Frauenquote von 50% und dem damit verbundenen System der genderparitätischen Ko-Bürgermeisterschaft unbefugte Personen in offizielle Positionen gebracht und in den Stadtverwaltungen eine »vom ganzen Land abweichende Struktur« eingeführt.

Die linke, demokratische Opposition sieht in den Maßnahmen einen Racheakt und eine weitere Drehung an der Repressionsschraube. Schließlich galten die kurdischen Wähler*innen seit den Kommunalwahlen Ende März als »Königsmacher«: Die HDP-Führung stellte in einigen Städten keinen eigenen Kandidaten auf und rief ihre Wähler dazu auf, stattdessen dem Kandidaten der ebenfalls oppositionellen CHP ihre Stimme zu geben. Fakt ist: Ohne kurdische Rückendeckung wäre beispielsweise der Wahlsieg von Ekrem İmamoğlu in der Bosporus-Metropole nicht möglich gewesen.

Zuvor hatte die AKP-Führung mit obskuren politischen Manövern versucht, die kurdischen Wähler*innen auf ihre Seite zu ziehen. Völlig überraschend durfte der seit 20 Jahren inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan erstmals nach vielen Jahren wieder Kontakt zur Außenwelt aufnehmen. Zudem war der AKP-Kandidat in Istanbul, Binali Yildirim, nach Diyarbakir gereist, um eine Rede zu halten, in der er Sätze auf kurdisch sprach und die Bezeichnung Kurdistan verwendete – ein absolutes Tabu für einen Regierungspolitiker.

Da sich die Hoffnung der AKP, die kurdischen Bevölkerungsteile würden angesichts der CHP-Allianz mit Nationalisten und Islamisten ihr Wahlverhalten ändern, nicht erfüllte, hat der türkische Staatspräsident einen erneuten Schwenk vollzogen – weg vom taktischen »kurdenfreundlichen«, hin zu seinem aggressiv nationalistischen Kurs. Erdoğan hat den altbekannten Pfad türkischer Politik eingeschlagen, indem er die Kurdenfrage erneut zu einem Terrorproblem erklärt.[2] Auf den Straßen herrscht wieder die Gewalt der türkischen Polizeikräfte, die mit massivem Einsatz von Schlagstöcken, Wasserwerfern und Gasgranaten Proteste gegen die Amtsenthebungen niederknüppelt.

Dieser Kurschwenk ist auch auf die Tatsache zurückzuführen, dass die AKP die Offenlegung von Misswirtschaft und Korruption, die sich unter der Herrschaft der vorherigen kommissarischen Zwangsverwalter ausgebreitet haben, verhindern will. Tatsächlich wurden in der Zeit der Zwangsverwaltung in den drei Großstädten, aber auch in anderen Kommunalverwaltungen, die öffentlichen Kassen geplündert. Die staatlichen Treuhänder hatten den neu gewählten Bürgermeister*innen einen Trümmerberg hinterlassen. »Wir wissen, dass der vorherige Zwangsverwalter der Stadt Van Schulden in Höhe von eineinhalb Milliarden Lira hinterlassen hatte. Bürgermeister Ahmet Türk (HDP) hatte in Mardin 620 Millionen Lira Schulden aus dem Haushalt seines Vorgängers, eines Zwangsverwalters, übernommen«, so der Journalist Barış İnce in der taz gazete (19.8.2019). Die lokale militärische und zivile Bürokratie habe diese Korruption unterstützt, weil sie und die AKP-Klientel davon profitierte.

Die Amtsenthebungen der Bürgermeister*innen und die Verhaftungswelle knüpfen an das Vorgehen der AKP-Regierung kurz nach dem sogenannten Putschversuch im Juli 2016 an. Damals waren im Zuge des Ausnahmezustands 96 von 103 HDP-Bürgermeistern in kurdischen Städten abgesetzt und durch staatliche Zwangsverwalter mit AKP-Parteibuch ersetzt worden. Viele von ihnen wurden mit der Begründung, »mit der kurdischen Terrororganisation PKK zu kooperieren«, inhaftiert. Ungefähr 40 der Abgesetzten sitzen bis heute in Untersuchungshaft. Zudem wurden in den letzten Jahren tausende HDP-Mitglieder verhaftet, darunter Abgeordnete sowie die ehemaligen HDP-Parteivorsitzenden Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtas, der seit November 2016 als »politische Geiseln« im Hochsicherheitsgefängnis Edirne in der Westtürkei interniert ist.[3]

Angesichts der sich anbahnenden Allianz zwischen CHP und HDP soll letzterer ihre Machtbasis in den Lokalräten und Rathäusern entzogen werden. Zugleich ist das Vorgehen in Diyarbakır, Mardin und Van eine Warnung an die Adresse von İmamoğlu in Istanbul, nicht zu tief in der schmutzigen Wäsche seiner Vorgänger und in den Amigo-Geschäften der AKP-Regierungspartei herumzustochern, ansonsten drohe ihm die »Rote Karte«. In Trabzon drohte Erdoğan der CHP, dass man »die heilige Stadt [Istanbul] nicht den Unterstützern dieser Organisation [der PKK]« überlassen werde – was die Befürchtungen zahlreicher Oppositionspolitiker zu bestätigen scheint, wonach die Gefahr besteht, dass nun auch die CHP-Bürgermeister der großen türkischen Metropolen abgesetzt werden könnten. Der Kolumnist Ersin Ramoglu formulierte in der Erdoğan nahestehenden Zeitung Sabah ungeschminkt, als nächstes würden »Staatskommissare in den CHP-Städten eingesetzt« werden.

Wie real diese Gefahr ist, belegt die Verurteilung der CHP-Vorsitzenden von Istanbul, Canan Kafancioğlu, am 6. September. Mit 9 Jahren, 8 Monaten und 20 Tage Haft wird sie belegt aufgrund von 35 Tweets aus den Jahren von 2012 bis 2017, in denen sie sich der Präsidentenbeleidigung, der Erniedrigung der Türkischen Republik und der Terrorpropaganda schuldig gemacht haben soll. Darunter fällt auch die Zitierung eines Gedichts von Nazim Hikmet, in dem es heißt: »Warum soll ich den Diener schlagen, wenn ich auf den Herr wütend bin.« Kafancioğlu war maßgeblich an der politischen Kampagne und am doppelten Wahlerfolg in Istanbul beteiligt. Ihre Verurteilung, die Ungeheuerlichkeit des Strafmaßes und die Absurdität seiner Begründung sind die bislang deutlichste Warnung an die CHP, den Pfad der Verständigung der Oppositionskräfte zu verlassen und die Aufklärung über die politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Machenschaften der AKP-Herrschaft in der Metropole zurückzustellen. Die AKP hat viel zu befürchten, wenn Licht auf das Netz von Korruption, Günstlingswirtschaft, Bestechung, Geldwäsche und anderen kriminellen Maßnahmen der Herrschaftssicherung fällt.

Für die HDP steht fest, dass Erdoğan mit den Amtsenthebungen und dem Istanbuler Verfahren nicht nur dem Volk »seinen Willen rauben« will, sondern auch von ihren Problemen in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, im sozialen Bereich und in der Außenpolitik abzulenken will, so die Ko-Vorsitzende der HDP, Pervin Buldan. »Wir werden nie zulassen, dass die AKP-Regierung so hemmungslos unser Volk, das kurdische Volk, seinen Willen und seinen Stolz attackiert.« Die Entscheidung des Innenministeriums sei nicht nur ein Problem der HDP und der Kurden, sondern das gemeinsame Problem aller demokratischen Kräfte, heißt es in einer Erklärung der HDP. Sie müssen jetzt zusammenstehen.

Die CHP hat sich dem Protest angeschlossen. Auf Twitter bezeichnete CHP-Vize Veli Agbaba die Absetzung der Bürgermeister als »Faschismus« und einen »Schlag gegen die Demokratie«. Und Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu, der neue Hoffnungsträger der türkischen Opposition, schrieb in seinem Tweet: Es sei» unmöglich, den Vorgang mit den Prinzipien der Demokratie zu vereinbaren (…), es ist inakzeptabel den Willen des Volkes zu ignorieren«.

Neun zivilgesellschaftliche Organisationen haben in Istanbul gegen die Absetzung der gewählten Bürgermeister*innen eine gemeinsame Erklärung abgegeben. In der von der Initiative »Filmemacher für den Frieden«, den Organisationen »Einheit für Demokratie«, »Demokratischer Islam-Kongress« und »Dialog-Gruppe«, dem Dachverband der »Vereine im Südosten der Türkei«, der Plattform für »Recht und Gerechtigkeit«, der Filmgewerkschaft Sine-Sen, der Stiftung für Sozialdemokratie und der Bürgerinitiative verabschiedeten Erklärung heißt es: »Wir fordern alle Bürger, politischen Parteien und Organisationen der Zivilgesellschaft auf, für Demokratie, Recht und Frieden ihr legitimes und demokratisches Recht auf Widerstand gegen den Raub des politischen Willens des Volkes auszuüben, zu protestieren und nicht zu schweigen.« Das Ringen um eine demokratisch verfasste Türkei geht in eine neue Runde.


[1] Laut Auswärtigem Amt ist die Zahl der in der Türkei inhaftierten Deutschen in den vergangenen sechs Monaten von 47 auf 62 gestiegen. Weitere 38 Bundesbürger sitzen demnach wegen einer Ausreisesperre im Land fest. »Die Türkei ist ein repressiver Staat geblieben, der gewalttätig gegen die Opposition vorgeht und Kritiker mundtot macht. Es gibt zwar einige Fälle von Inhaftierten, die größere Aufmerksamkeit erhalten haben und wo es zu Freilassungen kam – etwa bei Deniz Yücel, Peter Steudtner oder in meinem Fall. Im Gegensatz dazu sind danach aber viele weitere deutsche Staatsbürger inhaftiert worden. Inzwischen hat nur das öffentliche Interesse an dem Thema nachgelassen«, so die Journalistin Mesale Tolu im Interview mit ZDF Heute (26.8.2019).
[2] Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 musste die Regierungspartei AKP die absolute Mehrheit gewinnen, um der Einführung eines Präsidialsystems näher zu kommen. Auch damals setzte die türkische Regierung auf die Stimmen der Kurden. Vor den Parlamentswahlen führte die AKP-Regierung drei Jahre lang Friedensverhandlungen mit der Kurdenmiliz PKK – diese sollten den Kurden mehr Rechte verschaffen. Doch der Schachzug mislang: Die kurdischen Wähler entschieden sich vor allem für die prokurdische HDP, die erstmals mit 13% ins Parlament einzog. Die AKP wiederum schnitt historisch schlecht ab. Die Erdogan-Regierung reagierte umgehend: Sie beendete die Gespräche mit der PKK, die Rhetorik wurde nationalistischer, zudem begann eine Militäroperation gegen Kurdenmilizen.
[3] Otto König/Richard Detje: EGMR verlangt Freilassung des ehemaligen HDP-Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtas’. SozialismusAktuell 2.12.2018.

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