16. Oktober 2022 Redaktion Sozialismus.de: Xi Jinping warnt vor »schwierigen Zeiten«
Der 20. Parteitag der KP Chinas hat begonnen
Zum Auftakt des 20. Parteitags der Kommunistischen Partei hat Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping einen Bericht über die zurückliegenden fünf Jahre der Parteiarbeit vorgetragen und zugleich die Partei und die Bevölkerung auf »schwierige Zeiten« in den kommenden Jahren vorbereitet.
Auf dem alle fünf Jahre stattfindenden Parteitag werden die rund 2.300 Delegierten, die in der Großen Halle des Volkes in Beijing tagen, sämtliche Gremien der KP mit ihren inzwischen 97 Millionen Mitgliedern neu besetzen und insbesondere vermutlich am 22. Oktober das neue Zentralkomitee wählen und Änderungen der Parteiverfassung verabschieden.
Xi Jinping wurde auf dem 18. Parteitag im Jahr 2012 Nachfolger von Hu Jintao als Generalsekretär der Partei. Der jetzige Parteitag wird ihn – anders als bisher üblich, nachdem unter seinen Vorgängern als Parteivorsitzenden eine Beschränkung auf zwei Amtsperioden für Parteiführung und auf zehn Jahre für den Staatspräsidenten Konsens war – zum dritten Mal zum Generalsekretär wählen.
In seiner Grundsatzrede zur Eröffnung rief Xi zur »großen Erneuerung der chinesischen Nation« und zum Ausbau des »Sozialismus chinesischer Prägung« auf. »Wir müssen eine entschlossene Zielstrebigkeit, Standhaftigkeit und einen Glauben an die gesamte Partei und das chinesische Volk fördern, damit wir nicht durch Irrtümer vom Weg abgebracht, durch Drohungen abgeschreckt oder durch Druck eingeschüchtert werden.«
Zugleich warnte er vor »potenziellen Gefahren« und »schwierigen Zeiten«. International sah der Parteichef »immense Risiken und Herausforderungen« sowie »globale Veränderungen, wie sie in einem Jahrhundert noch nicht gesehen worden sind«. Und er verteidigte die strikte Null-Covid-Strategie im Kampf gegen die Pandemie. Chinas Strategie sei ein »umfassender Volkskrieg, um die Verbreitung des Virus zu stoppen«, die Regierung habe die Rettung von Leben über alles andere gestellt.
Die Volksrepublik hat bisher sehr wenige Todesfälle zu beklagen, verhängt wegen der schwachen Immunisierung der Bevölkerung und des großen Anteils von älteren Gesellschaftsmitgliedern immer wieder flächendeckende Lockdowns. Das größte Problem ist die Impflücke gerade unter den älteren Chines*innen, die sich vor möglichen Nebenwirkungen fürchten.
Zu den wichtigsten Problemen gehört die Bewältigung der demografischen Entwicklung des Landes. Die Zahl der Chines*innen im erwerbsfähigen Alter sinkt bereits. Zwischen 2020 und 2035 wird die Zahl der Bewohner im erwerbsfähigen Alter um 70 Millionen schrumpfen, die der aus dem Erwerbsleben Ausgeschiedenen im gleichen Zeitraum um 130 Millionen steigen. Die Entwicklung verursacht einen enormen Druck auf die bislang noch unentwickelten Sozialsysteme (Gesundheitsversorgung und Altersrenten).
Unübersehbar sind die großen Fortschritte, die das gesamte Land seit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik vor mehr als 40 Jahren gemacht hat. Die enormen Verbesserungen im Bildungswesen haben eine Generation kreativer, weltgewandter und ehrgeiziger Chines*innen hervorgebracht, die mit dazu beigetragen, dass die chinesischen Elektroautos heute zu den besten der Welt gehören und China bei künstlicher Intelligenz und Technologien für erneuerbare Energien global führend ist. Die rasche wirtschaftliche Entwicklung hat außerdem Hunderten Millionen Menschen einen kräftigen Wohlstandszuwachs beschert.
Xi rechnet diese Entwicklung vor allem seinem Agieren an der Spitze des politischen Apparates zu. Er hat außerdem in den vergangenen Jahren massiv einen Kurs der Korruptionsbekämpfung innerhalb der KP und den staatlichen Organen befördert. Damit verbunden ist faktisch ein zunehmend autoritärer Politikstil, durch den politische Freiräume enger geworden sind, die staatliche Kontrolle über die Wirtschaft zugenommen hat, und der »Marxismus« wiederum zum Orientierungspunkt in allen chinesischen Gesellschaftsbereichen erhoben wurde.
Die Taiwan-Frage – die Insel-Republik wird von der chinesischen Führung als abtrünnige Provinz betrachtet, während die USA und Europa ihre Beziehungen zu Taiwan ausbauen – »muss von den Chinesen gelöst werden«, sagte Xi und wandte sich gegen jede Form von Einmischung aus dem Ausland. »Wir setzen uns weiter für eine friedliche Wiedervereinigung ein, werden aber nicht versprechen, dass wir auf den Einsatz von Gewalt verzichten werden.«
Xi betonte, dass es in den vergangenen Jahren gelungen sei, das Militär wieder stärker unter die Kontrolle der Partei zu bringen. In Zukunft möchte Xi die Führung der Armee weiter straffen, vor allem aber die Waffenarsenale modernisieren. Dazu sollen nach Xis Vorstellungen «Wissenschaft und Technologie» in der Verteidigung modernisiert werden.
Mehrfach strich der Partei- und Staatschef sowohl Chinas Erfolge bei der Armutsbekämpfung heraus als auch die Fortschritte bei der Entwicklung der Wirtschaft. Der Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung sei seit seinem Amtsantritt vor zehn Jahren von 7% auf 18% gestiegen. Allerdings seien die nächsten fünf Jahre entscheidend dafür, ein »modernes sozialistisches Land« zu werden und in der konfrontativen Politik seitens der USA und anderer westlicher Staaten standzuhalten.
Auch nach einer endgültigen Überwindung der Pandemie wird China sich an deutlich schwächere Wachstumsraten gewöhnen müssen. Die Zeiten mit Zuwachsraten des Bruttoinlandprodukts (BIP) von 8% dürften der Vergangenheit angehören, das Land wird mit Wachstumsraten von 2-3% leben müssen. Ein Grund sind strukturelle Ursachen: Zum einen die bereits erwähnte Überalterung der Gesellschaft, zum anderen ist die Effizienz von der Parteispitze festgelegter massiver staatlicher Investitionen in die Infrastruktur in den vergangenen Jahren deutlich gesunken.
Chinas rückläufiges Akkumulationstempo hat außerdem mit den Sanktionen der USA, aber auch mit den Problemen der internationalen Wertschöpfungsketten und Transportproblemen zu tun. Unbestritten ist ferner, dass der Immobilienmarkt in der Volksrepublik heftige Verwerfungen aufweist. Zusammen mit nachgelagerten Branchen wie der Zement- oder der Stahlindustrie macht der Sektor fast 30% der chinesischen Wirtschaft aus. Im Unterschied zu den hochentwickelten kapitalistischen Ländern ist die Entwicklung des Massenwohnungsbaus und einer modernen Infrastruktur eine zentrale Aufgabe.
Vor allem die Schulden der Lokal- und Regionalregierungen sowie der Staatsbetriebe, in jüngster Zeit aber auch die Verschuldung der privaten Haushalte bereiten der Parteiführung der Regierung Kopfzerbrechen. Bereits 2016 hatten die Behörden begonnen, die Risiken im Finanzsystem zu reduzieren. Zunächst legte die Regierung das Schattenbankenwesen trocken, bei dem Geldverleiher jenseits des formalen Bankensektors Kredite vergaben.
Vor zwei Jahren knöpfte sich die KP den Immobiliensektor vor und belegte die Firmen mit strengeren Vorschriften unter anderem zur Kapitalausstattung. Die radikalen Schritte führten zu Zahlungsausfällen bei vielen der hochverschuldeten Immobilienkonzerne. Der neue politische Kurs, mit dem nicht mehr jedes angeschlagene Unternehmen oder jede verschuldete Lokalregierung gerettet wird, hat Investoren verunsichert und zu einem Vertrauensverlust geführt.
Künftig müsse China ein qualitativ hochwertigeres Wachstum durchsetzen, sagte Xi zu Beginn des Parteitags. Bis jetzt sind öffentliche Investitionen in Infrastruktur und nicht eigene Innovationen und der Konsum die wesentlichen Wachstumstreiber. Zwar versprach der Genrealsekretär »Unterstützung für die Entwicklung der Privatwirtschaft«, außerdem werde man »dem Markt eine entscheidende Rolle bei der Allokation von Ressourcen« einräumen. Konkrete Maßnahmen jedoch skizzierte Xi nicht und unterstrich erneut, alles müsse unter der Führung der Partei geschehen.
Xi und die Parteiführung haben zwar eine Reihe von Missständen bekämpft (Fehlentwicklung von Investitionen, Korruption etc.), aber die Ergebnisse überzeugen nicht überall. Den Missbrauch der Marktmacht chinesischer Tech-Konzerne, indem sie etwa Detailhändler nur unter der Bedingung auf ihre Plattformen lassen, dass sie sich bei keiner anderen Plattform listen lassen, dadurch unterbinden zu wollen, dass gleich eine ganze Branche mit drakonischen Auflagen an die Kette gelegt wurde, die am Ende zu zahlreichen Pleiten führten, ist sicherlich überrissen.
Viele Bildungsportale, die Chinas Nachwuchs Online-Unterricht etwa in Englisch anboten, operierten weitgehend außerhalb eines regulatorischen Rahmens. Weniger begüterte Familien können sich solche Angebote nicht leisten. Doch den Wildwuchs dadurch einzuhegen, dass einfach die hinter den Portalen agierenden Firmen geschlossen werden, ohne entsprechenden Ersatz zu organisieren, löst die Probleme nicht.
Gleichwohl wurden die nicht zu leugnenden Missstände, die die Partei und das Land in ihren Grundfesten bedrohten, wurden und werden benannt und bekämpft: die Korruption, das relative Eigenleben der Armee und die mangelnde Effizienz des Staatsapparats, sich an den Interessen der Bevölkerung zu orientieren. Nicht gelöst und ein großes Problem bleibt die Nationalitätenfrage und insbesondere die, für mehr Chancengleichheit zwischen Uiguren und Han-Chinesen zu sorgen.
Sicher bleibt es gerade vor dem Hintergrund der von Xi angesprochenen »schwierigen Zeiten« der nächsten Jahre eine große Herausforderung, »das Riesenland und die unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Strömungen zusammenzuhalten und gleichzeitig Chinas weitere Entwicklung voranzutreiben« (Wolfgang Müller in seiner Analyse vor dem Parteitag in Heft 10-2022 von Sozialismus.de).
Und »anders als im Westen suggeriert, finden im Führungszirkel der KPCh«, an dessen Spitze Xi Jinping auch die nächsten fünf Jahre stehen wird, »durchaus Debatten statt – hinter verschlossenen Türen, aber sie sind real« (Martine Bulard in »Le Monde diplomatique« vom Oktober 2022). Auch wenn die von ihm verantwortete Politik keineswegs nur Erfolge geliefert hat und durch keineswegs überall in der Volksrepublik begrüßte autoritäre Züge mitgeprägt ist, stehen unbestreitbar viele einfache Bürger*innen auf dem Land, aber auch große Teile der Parteiorganisation hinter ihm.
Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass Xi trotz seiner dann 74 Jahre das Land auch über das Jahr 2027 hinaus führen wird. Mit Spannung erwartet wird die Nachfolgeregelung für Ministerpräsident Li Keqiang sowie die Nachfolge für den stellvertretenden, für Wirtschaftsfragen zuständigen Ministerpräsidenten Liu He. Der Parteitag wählt am Ende das neue Zentralkomitee der KP Chinas, das seinerseits das neue und sicherlich verjüngte Politbüro und dessen Ständigen Ausschuss bestimmen wird. Xi jedenfalls wird zum dritten Mal der Generalsekretär der Partei sein.