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ISBN 978-3-96488-121-2

29. April 2019 Bernhard Sander: Macrons »fruchtbare Konfrontation« zu Deutschland

Der Achsenbruch und ein Versuch, die Gelbwesten zu befrieden

Von einer »fruchtbaren Konfrontation« zwischen Deutschland und Frankreich sprach der französische Staatspräsident Emmanuel Macron in einer Pressekonferenz, die seine Fernsehansprache ersetzte, die durch den Brand der Kirche Notre Dame von Paris ausgefallen war.

Diese Rede sollte Macrons Fazit der Großen Debatte werden, die er auf dem Höhepunkt der Gelbwestenproteste in vielen Rathäusern von Klein- und Großstädten begonnen hatte. Macron stellt nüchtern fest, dass sein Spielraum in Europa durch das »deutsche Modell« begrenzt ist. »Deutschland befindet sich ohne Zweifel am Ende eines Wachstumsmodells, das stark von den Ungleichgewichten im Euroraum profitiert hat.« Deutschland habe früher Strukturreformen vorgenommen als andere Länder, damit aber auch die Ungleichheiten im Euroraum verstärkt.

Die deutsche Wirtschaft mit ihrer starken Exportorientierung fuße auf einem »Produktionsmodell, das stark auf bestimmten Ungleichheiten aufbaut«, zu denen die Niedriglohnländer gehören. Dieser Ansatz »ist das Gegenteil des gesellschaftlichen Projekts, das ich für Europa vertrete«. Aber er habe als Staatspräsident auch die Aufgabe, die französische Position stärker zu verteidigen.

Die Anzeichen dafür, dass sich Deutschland und Frankreich »in unterschiedlichen Zyklen« bewegen, waren erkennbar: In den Handelsgesprächen mit Washington, in der Klimaschutzpolitik und in der Taktung der Brexit-Verlängerung gab es Differenzen, die Macron auch benannte. Deutschland möchte den USA schnell und kompromissbereit entgegenkommen, um die starke Position im KFZ-Export nicht unnötig zu gefährden, während Macron die Gespräche durch den Ausstieg der Trump-Administration aus diversen Verträgen, u.a. dem Klimaschutzabkommen, gefährdet sieht. Hinzu kommt, dass Frankreich infolge der innenpolitisch motivierten restriktiveren Haltung der deutschen Regierung zu Rüstungsexporten um die Position einer seiner wenigen wettbewerbsfähigen Industriebranchen fürchtet.

Da jetzt von einem Tandem nicht mehr die Rede sein kann, stimmt Macron die Nation darauf ein, dass er zwar die Reformrichtung beibehalten, das Tempo allerdings verlangsamen wird. Gleichzeitig ist zwischen den Zeilen zu lesen, dass aus der angestrebten Zusammenarbeit eine deutsch-französische Konfrontation wird, die auch nicht ohne Folgen für die Verschlechterung der soziale Lage in den unteren Rängen der französischen Gesellschaft bleiben wird.

Schon zur Halbzeit der Großen Debatte hatte Macron interveniert und die Thesen seiner Sorbonne-Rede vom September letzten Jahres nachdrücklich in einem Brief wiederholt, den er an alle ordentlichen Französinnen und Franzosen richtete, also nicht an die Migrant*innen, die zwar im Lande Arbeitsverträge haben, aber ohne Meldepapiere bleiben, und auch nicht an die tausenden Obdachlosen in den Großstädten, die Asylsuchenden. In diesem Brief sprach er von einem »Scheidepunkt«. Unter anderem umriss er sein Projekt für Europa noch einmal:[1]

»Welches Land kann sich allein der aggressiven Strategien der Großmächte erwehren? Wer kann allein seine Unabhängigkeit von den Internet-Giganten behaupten? Wie könnten wir ohne den Euro, der die gesamte EU stark macht, den Krisen des Finanzkapitalismus widerstehen?

Europa ist in ihren Augen ein seelenloser Markt geworden. Aber Europa ist nicht nur ein Markt, es ist ein Projekt. Ein Markt ist durchaus nützlich, aber er darf nicht die Notwendigkeit schützender Grenzen und einigender Werte vergessen machen.

Aber ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft kann nur entstehen, wenn diese Grenzen hat, die sie beschützt. Eine Grenze bedeutet Freiheit in Sicherheit. Deshalb müssen wir den Schengen-Raum neu überdenken: Alle, die ihm angehören wollen, müssen Bedingungen für Verantwortung (strenge Grenzkontrollen) und Solidarität (gemeinsame Asylpolitik mit einheitlichen Regeln für Anerkennung und Ablehnung) erfüllen.

Wir müssen unsere Wettbewerbspolitik reformieren, unsere Handelspolitik neu ausrichten: in Europa Unternehmen bestrafen oder verbieten, die unsere strategischen Interessen und unsere wesentlichen Werte untergraben, wie Umweltstandards, Datenschutz und eine Entrichtung von Steuern in angemessener Höhe; und in strategischen Branchen und bei öffentlichen Aufträgen zu einer bevorzugten Behandlung europäischer Unternehmen stehen, wie es unsere Konkurrenten in den USA und in China tun.

Europa ist keine Macht zweiten Ranges. Europa als Ganzes spielt eine Vorreiterrolle, denn es hat von jeher die Maßstäbe für Fortschritt gesetzt. Dazu muss es ein Projekt anbieten, dass eher dem Zusammenwirken als der Konkurrenz dient: In Europa, wo die Sozialversicherung erfunden wurde, muss für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, von Ost nach West und von Nord nach Süd, eine soziale Grundsicherung eingeführt werden, die ihnen gleiche Bezahlung am gleichen Arbeitsplatz und einen an jedes Land angepassten und jedes Jahr gemeinsam neu verhandelten europaweiten Mindestlohn gewährleistet.

Wieder an die Idee des Fortschritts anzuknüpfen bedeutet auch, sich an die Spitze des Kampfes für unsere Umwelt zu stellen. … Die Europäische Union muss ihr Ziel festlegen – Reduzierung der CO2-Emissionen auf Null bis 2050, 50 Prozent weniger Pestizide bis 2025 – und ihre Politik diesem Ziel unterordnen: eine Europäische Klimabank für die Finanzierung des ökologischen Wandels, eine europäische Kontrolleinrichtung.

Fortschritt und Freiheit, das bedeutet von seiner Arbeit leben zu können, und um Arbeitsplätze zu schaffen, muss Europa vorausplanen. Deshalb … Schaffung einer europäischen Überwachung der großen Plattformen, … die Innovation finanzieren, indem es den neuen Europäischen Innovationsrat mit einem Budget ausstattet, das mit dem in den USA vergleichbar ist.«

Damit traf Marcon zwar nicht die Sorgen und Nöte der Gelbwesten, die sich abgehängt von der ökonomischen Entwicklung und nicht als Teilhabende fühlen. Aber er machte auf die weltgeschichtliche Passhöhe aufmerksam, der sich Europa nähert, und für die das Gewürge um den Brexit nur ein Anzeichen der dünner werdenden Luft ist.

In Frankeich hatte der Brief ein erstaunlich breites Echo gefunden. Knapp die Hälfte der Französ*innen hat davon gehört, jeder Zehnte hat ihn gelesen, geht aus einer repräsentativen Befragung hervor. 40% der Sozialisten, die den Aufruf gelesen haben, finden den Präsidenten überzeugend, sogar 53% der Konservativen. Bei den LREM-Anhänger*innen sind es, wenig verwunderlich, 86%. Aber sogar jeder Vierte, der sich als Sympathisant des rechtsextremen »Rassemblement National« bezeichnet, stimmt den Ideen des Präsidenten zu. Am geringsten ist der Anteil bei den Linksnationalisten von der LFI.

In Deutschland maß sich Annegret Kamp-Karrenbauer die Antwort an, während die Kanzlerin wie schon bei den bisherigen Vorstößen des Franzosen schwieg, und die SPD blumige Europafloskeln verlautbaren ließ. Die neu gewählte CDU-Vorsitzende hielt Macron ein eigenes Konzept entgegen. Ihre Ideensammlung, die sie in einem Gastbeitrag für die »Welt am Sonntag« veröffentlichte, trägt den Titel: »Europa richtig machen«.

Macrons Vorstoß für einen EU-weiten Mindestlohn erteilte sie darin eine klare Absage. Auf seinen Vorschlag, europäische Unternehmen bei öffentlichen Aufträgen zu bevorzugen, ging sie nicht ein. Die CDU-Chefin schlug stattdessen vor, den zweiten Sitz des Europäischen Parlaments in Straßburg abzuschaffen – für Frankreich ein rotes Tuch. Für die EU beanspruchte sie einen gemeinsamen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Einen Eurozonen-Haushalt – schon länger ein Lieblingsprojekt Macrons – erwähnte Kramp-Karrenbauer nicht.

Am ehesten scheint eine Einigung in außenpolitischen Themen möglich: Kramp-Karrenbauer stellte auch fest, die Bürger*innen vermissten »Handlungsfähigkeit im Umgang mit Migration, Klimawandel, Terrorismus und internationalen Konflikten«. Kramp-Karrenbauer schlug in Konzession an rechtspopulistische Tendenzen in Deutschland vor, bereits an den Außengrenzen des Schengen-Raums zu prüfen, »ob ein Asylanspruch, ein Flüchtlingsstatus oder ein anderer Einreisegrund vorliegt«.

Die CDU-Vorsitzende plädierte ähnlich wie Macron dafür, in einem »Europäischen Sicherheitsrat unter Einbeziehung Großbritanniens« über gemeinsame außenpolitische Positionen zu entscheiden und gemeinsames Handeln in der Sicherheitspolitik zu organisieren. Sie rief dazu auf, bei Gesprächen über Änderungen der Europäischen Verträge von Anfang an alle Mitgliedstaaten einzubeziehen. Denn dabei »darf weder die ›Brüssel-Elite‹, noch die ›West-Elite‹, noch die vermeintlich ›pro-europäische‹ Elite unter sich bleiben«. Macron hatte angeregt, noch in diesem Jahr eine »Europakonferenz« ins Leben zu rufen, »um alle für unser politisches Projekt erforderlichen Änderungen vorzuschlagen, ohne Tabus, einschließlich einer Überarbeitung der Verträge«.[2] Zur wirtschaftlichen Kooperation in Europa schwieg sich die CDU-Vorsitzende aus.

»Die Deutsche will ›mehr Europa‹ auf der Ebene der Aussen- und Verteidigungspolitik, der Franzose lieber bei der Finanz- und Sozialpolitik. Macron forderte neben dem EU-weiten Mindestlohn ein Budget und ein Parlament für die Euro-Zone sowie einen EU-Finanzminister. Kramp-Karrenbauer lehnt all dies ab. ›Europäischer Zentralismus, europäischer Etatismus, die Vergemeinschaftung von Schulden, eine Europäisierung der Sozialsysteme und des Mindestlohns wären der falsche Weg‹, schreibt sie und mahnt stattdessen ›ein System von Subsidiarität, Eigenverantwortung und damit verbundener Haftung‹ an.«[3]

Macron konterte nun auf der aktuellen Pressekonferenz. Das deutsche Wachstumsmodell, das von Produktionsketten in Billiglohnländern sowie vom Reformstau in vielen EU-Ländern profitiert habe, gerate an seine Grenzen. Er mache Deutschland keine Vorwürfe, sich frühzeitig reformiert und diese gegenüber den EU-Partnern ausgespielt zu haben. De facto seien aber dadurch die Ungleichgewichte in der EU vergrößert worden.[4] Mehrfach variierte Macron den Satz, Frankreich müsse nun zu seinen eigenen Positionen stehen.

Was nicht vorhanden war bei Macron, so mäkelte die NZZ, war eine klare Vorstellung von der künftigen Rolle der EU im Verhältnis zu den Nationalstaaten. Es war eher eine eklektische Sammlung, die Dynamik ausstrahlte, aber als Arbeitsprogramm wenig taugte.

Der mentalen Kleinstaaterei setzt die Regierung Macrons den Hinweis auf die geostrategischen Herausforderungen entgegen. Auf einer Diskussionsveranstaltung, für die 1.700 Menschen 25 Euro Eintritt bezahlten, und die am selben Abend wie Macrons Pressekonferenz stattfand, fragte der französische Wirtschaftsminister: »Was wollen wir zukünftig sein angesichts der chinesischen oder amerikanischen Macht? Wir wollen gegen das Amerika Trumps widerstehen können. Ich wünsche mir von Herzen ein europäisches Empire.«

Eric Zemmour, einer der führenden Ideologen der französischen Rechten hielt dagegen: »China und die USA waren Nationen bevor sie zu Reichen wurden. Europa ist ein Reich ohne Nationen.« Diese Dimension der Auseinandersetzung wird in Deutschland weitgehend ignoriert. Frankreich steuert auf eine Konfrontation zwischen dem Modernismus der Macronie und dem Rechtsextremismus zu.

Da mit den Reaktionen der CDU-Vorsitzenden auch eine Vorentscheidung über den künftigen Regierungskurs festgelegt worden ist, ist hier nicht nur ein europäisches Tandem außer Tritt geraten. Macron, der bei der Ankündigung der Großen Debatte im vergangenen Dezember noch das disruptive Prinzip des Marconismus hervorgehoben hatte (»Nichts wird mehr sein wie vorher«) versuchte in der Pressekonferenz, die Folgen des deutsch-französischen Bruchs zu kaschieren, in dem er die innenpolitischen Hoffnungen beflügelte und seine Unterstützer aus der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl wieder an sich zu binden versuchte. Er versprach mit bußfertiger Geste eine Hinwendung zum Volke, dass er mehrfach beleidigt hatte.[5]

»Das französische Volk, das unter einem tiefen Gefühl der steuerlichen, räumlichen und sozialen Ungerechtigkeit und einem Mangel an Aufmerksamkeit und einem Gefühl der Verlassenheit leidet, will seinen Anteil am Fortschritt haben.« Die Politik, deren Grundlagen nach dem Zweiten Weltkrieg begründet wurden, sei von der Moderne überholt worden. Es gehe um die alleinerziehenden Frauen, um jene, die in den großen Städten arbeiten, aber es sich nicht leisten können, dort zu leben«, und um »die Alten, die fürchten, den nachwachsenden Generationen helfen zu müssen, die wiederum nicht die Mittel für ein unabhängiges Leben haben«.

Der Kern seines Reformversprechens führt über das Bildungswesen und nicht über die Fiskalpolitik. In der Grundschule soll die Klassenfrequenz auf 24 Kinder gesenkt werden. In sogenannten sensiblen Viertel gilt heute bereits eine Grenze von 12, was Macron aufgrund der positiven Erfahrungen perspektivisch verallgemeinern will.

Er stellte Steuersenkungen in einem Volumen von fünf Mrd. Euro in Aussicht, die den lohnabhängigen Mittelschichten, aber mehr noch den Höchsteinkommen zugutekommen werden. Der Weg zu mehr Steuergerechtigkeit führe nicht über die Erhöhung dieser oder jener Abgabe, erläuterte Wirtschaftsminister Le Maire. Doch nach der Spenden-Kampagne für den Wiederaufbau der Krönungskirche des ersten Napoleon, die in nur drei Tagen eine Mrd. Euro erbrachte, scheint die angekündigte Entlastung zumindest einen Teil des Volkes eher zu verbittern.

Dass der Konzernchef Arnault sein Imperium aus Luxus-Unternehmen (Dior, Moet-Chandon) im Wert von 77 Mrd. Euro mittlerweile fast komplett in belgische Firmenkonstrukte überführt hat und nun großzügig 200 Mio. Euro spendet, führte auch bei den Linksformationen nicht zu einer öffentlichen Problematisierung des Steuersystems. Führende rechte Intellektuelle feierten den Erfolg der Spendenkampagne stattdessen medial als »Wiedererweckung der jüdisch-christlichen Kultur«. »Diese Kathedrale ist ein Elan, ein spirituelles Prinzip, eine verkörperte Geisteshaltung.«

Die Rentenerhöhungen werden sich die Lohnabhängigen wohl mit der Verlängerung der Lebensarbeitszeit über den gesetzlichen Renteneintritt erkaufen müssen. Hier liegt Macron noch voll auf der Linie des von ihm im Frühherbst angekündigten Punktesystems.[6] Renten unter 2.000 Euro sollen im Jahr 2020 automatisch an die Preissteigerung angepasst werden. In diesem Jahr hätte eine vergleichbare Regelung drei Mrd. Euro umverteilt. Die Grundrente soll von 637 Euro auf 1.000 Euro angehoben werden, wenn man 120 Vierteljahre Erwerbsarbeit nachweisen kann.

Kein Krankenhaus und keine Schule werde, so Macron, in seiner verbleibenden Amtszeit geschlossen. In jedem der 4.000 Kantone Frankreichs soll eine zentrale Anlaufstelle für Post, Familienkasse, Krankenversicherung, Arbeitsvermittlung und andere öffentliche Dienste geschaffen werden, was gerade in den entvölkerten Landgebieten einen tatsächlichen Vorteil bringt. Die Idee hatte bereits die sozialdemokratische Vorgängerregierung, die aber nicht mehr als 1.300 solcher Einrichtungen schuf.

Der Unternehmerverband MEDEF ist darüber betrübt, dass es nicht zur angekündigten Streichung von 120.000 Stellen im öffentlichen Dienst komme. Wenn man nicht spare, könne man nicht sozial gewünschte Mehrausgaben ankündigen. Für Unmut bleibt die – allerdings unpräzise – Ankündigung, die Erleichterungen durch Schließung von Steuernischen für Unternehmen zu finanzieren.

Am Arbeitsmarkt werden die bisherigen Achsen fortgeschrieben. Die steuerliche Begünstigung von Mehrarbeit unterstützt das Unterlaufen von Tarifverträgen durch Betriebsvereinbarungen, denen mit den Reformgesetzen von 2018 ja bereits Vorrang eingeräumt wurde. »Um unsere Sozialleistungen wirklich zu einem Anreiz für die Aufnahme von Arbeit zu machen«, soll das Eingliederungsgeld reformiert werden.

Die Schließung der Elite-Hochschule ENA ist nicht nur ein symbolisches Zugeständnis an die Gelbwesten, sondern ein Versuch, den Beamtenadel, der dem Staat um seiner selbst willen verpflichtet ist und damit gewisse eigene Logiken verfolgt, zu ersetzten durch eine Expertokratie, die politischen Glaubenssätzen (schlanker Staat, TINA, Schuldenbremse usw.) schneller und bereitwilliger folgt.

Die angekündigte Streichung von 20-30% der Parlamentssessel klingt populär, stammt aber aus dem Wahlprogramm Le Pens. Der Nutzen für die Stärkung der Demokratie bleibt unklar. Das Quorum, um eine Parlamentsdebatte durch Volksinitiative zu erzwingen, will Macron von 4,5 Mio. auf eine Mio. Stimmen senken. Doch die Gelbwesten verlangen verbindliche Volksabstimmungen über Gesetze und Amtsinhaber nach Schweizer Vorbild.

Ohne ein Feindbild kommt Macrons Reformpaket offenbar nicht aus. Um auch die rechten Ressentiments seiner verlorenen Anhängerschaft zu bedienen, verspricht der Staatspräsident eine Reconquista, die »republikanische Wiedereroberung« ganzer Wohngebiete, in denen der politische Islam sich nach einer »Sezession« festgesetzt habe.

Ob es dem Staatspräsidenten gelingt, noch einmal seine frühere Anhängerschaft um sich zu sammeln, wird nicht nur bei den EU-Parlamentswahlen entschieden. Die Gelbwesten konnten jedenfalls ihren Druck nach der Pressekonferenz nicht mehr erhöhen. Ob sich der Bruch der deutsch-französischen Achse reparieren lässt, ist ungewiss.

[1] https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2019/03/04/fur-einen-neubeginn-in-europa.de
[2] https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/kramp-karrenbauer-laesst-macron-abblitzen-kein-eu-mindestlohn-16080927.html?
[3] https://www.nzz.ch/international/mehr-europa-aber-wo-kramp-karrenbauer-bringt-macron-in-verlegenheit-ld.1466147
[4] FAZ 27. April 2019
[5] Siehe hierzu auch Bernhard Sander: Stürzt Jupiter vom Olymp? Sozialismus.deAktuell vom 19. September 2018
[6] Siehe hierzu ausführlicher Bernhard Sander: Macron – Präsident der Reichen »für ein Europa, das die Europäer schützt«, in Sozialismus.de, Heft 7/8.2018.

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