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14. April 2020 Christoph Lieber: Zum Tod von Lucien Sève (9.12.1926-23.3.2020)

»Der Kommunismus wurde nicht mit dem 20. Jahrhundert geboren, es gibt keinen Grund, warum er mit ihm verschwinden sollte.«

Diese persönliche Bilanz des »Jahrhunderts der Extreme« gab der französische Intellektuelle, marxistische Philosoph und ehemalige kommunistische Funktionär Lucien Sève seinen Freund*nnen und Mitstreiter*innen mit auf den Weg.

Dies berichtet sein Vertrauter Roger Martelli (Jahrgang 1950 und als Historiker selbst in führenden Positionen der KPF von Anfang der 1980er bis 2008 tätig) im Nachruf auf regards.fr auf den an Corona-Folgen gestorbenen 93-Jährigen.

Lucien Sèves Blick auf zentrale Jahrzehnte seines Lebens als kommunistischer Intellektueller versteht sich nicht von selbst. Wie viele andere Intellektuelle in den 1980er Jahren hätte auch er mit den politischen Beschränktheiten und Fehlern der kommunistischen Bewegung, zumal angesichts der zu seinen Lebzeiten öffentlich gewordenen stalinistischen Verbrechen, des Niedergangs des Staatssozialismus und der kommunistischen Parteien in Westeuropa, radikal brechen können. Aber Sève war biografisch so in die Hochphase seiner KPF und des westlichen Marxismus in den 1960er und 1970er Jahre involviert, dass daraus ein produktives Reflexionspotenzial entstand, das bis heute zur Erneuerung und zum Weiterdenken des Marxismus anhält.

Mit seinem Namen ist vor allem sein Buch »Marxismus und Theorie der Persönlichkeit« verbunden, das 1969 in der Pariser Éditions sociales – dem Parteiverlag der PCF, dem Sève damals als Leiter auch vorstand – veröffentlicht wurde, 1972 dann in deutscher Übersetzung in der DDR und als Lizenzausgabe im der DKP nahestehenden Verlag Marxistische Blätter erschien und viele weitere fremdsprachige Übersetzungen erlebte. Seit den 1980er Jahren immer mehr in Vergessenheit geraten, ist 2016 eine Neuausgabe unter dem Titel »Die Welt ändern – das Leben ändern« im Hamburger Argument Verlag erschienen.

Ende der 1960er Jahre traf Sèves Buch einen Nerv der zeitgenössisch avanciertesten Marxismus-Diskussion: »Eine dem historischen Materialismus gemäße Theorie des Subjekts? Wer buchstabiert nicht an ihr herum?«[1] wurde in dem 1973 im VSA: Verlag (damals noch in Westberlin ansässig) erschienenen Diskussionsband zu Louis Althusser (1918-1990) gefragt, und Lucien Sève attestiert, er setze »sich gründlicher als viele Kritiker mit dem Problem der Subjektivität und des Humanismus auseinander«.[2] Althusser schlug seinerseits mit dem »Prozess ohne Subjekt und Ziel« einen anderen Weg der Kritik an dem bürgerlich-humanistischen Opportunismus in den Reihen der KPF ein, für den damals Roger Garaudy (1913-2012) stand. Alle drei versuchten sich als »gute Stalinisten« im Gefolge des 20. Parteitages der KPdSU und der militärischen Niederschlagung des Volksaufstandes in der Volksrepublik Ungarn, beides 1956, zu häuten und den Marxismus zu erneuern.

Die kommunistische Partei reagierte ambivalent, einerseits mit politischem Tauwetter und einer Öffnung hin zu den Intellektuellen, wie mit dem Sonderplenum des ZK 1966 in Argenteuil zu innerparteilichen Kontroversen um die Auffassungen von Garaudy und Althusser und die Probleme der Freiheit von Forschung und Kritik. Hier brachte auch Sève seine Überlegungen »Für eine schöpferische Weiterentwicklung des Marxismus«[3] in die Diskussion ein. Andererseits wurden intellektuelle Parteiaktivisten auf Distanz gehalten. In den Parteiapparaten dominierten Kader aus proletarischem Milieu wie Georges Marchais u.a. Daher blieb auch das Engagement der PCF im Pariser Mai, im Eurokommunismus und in der Kritik an der Sowjetunion begrenzt.

Neben dieser parteipolitischen bestand für die marxistischen Intellektuellen auch eine »diskurstheoretische« Herausforderung. Das Diktum von Jean-Paul Sartre (1905-1980) vom Marxismus als »unüberschreitbarem Horizont unserer Zeit« (1960) begann unter der Umwälzung der Humanwissenschaften in Frankreich durch die Ethnologie von Claude Lévi Strauss (1908-2009) mit seiner »Strukturalen Anthropologie« von 1958, durch die Psychoanalyse mit Jacques Lacan (1901-1981), die Semiologie mit Roland Barthes (1915-1980) und den neuen Blick auf die Wissenschaftsgeschichte durch Michel Foucault (1926-1984) zu zerbröseln.

Dieser ideologischen Herausforderung, die mit dem Strukturalismus im weitesten Sinne für marxistische Theoriearbeit gegeben waren, stellte sich Sève durch eine Niveauanhebung der Bildungsarbeit in den Reihen des PCF: »Gewiss kann der Marxismus nach dem Worte Lenins nicht voranschreiten, ohne sich die Arbeiten der besten bürgerlichen Spezialisten anzueignen, aber – wie er hinzufügt – unter der Bedingung, dabei entschlossen ihre reaktionäre Tendenz zu unterdrücken. Auf diese Bedingung muss man achtgeben. Gegenwärtig entsprechen die Schriften von Bachelard, Lévi-Strauss, Foucault und anderen genau denen, die Lenin im Auge hatte. Mehr noch: Auch wenn es sich nicht eigentlich um wissenschaftliche Probleme handelt, ist es klar, dass wir aufmerksam sein müssen, was außerhalb von uns gedacht wird.«[4]

Das »außerhalb von uns« war für den jungen Sève Sartre, dessen frühe These – »das Subjekt ist nichts, sondern ich mache mich dazu« – ihn von seiner anfänglichen Begeisterung für die lebensphilosophische Goethe-Biographie von 1916 des Stefan George-Jüngers Friedrich Gundolf auf die Probleme einer »biographischen Logik« stieß, die er dann ab den 1950er Jahren mit seinem Übergang »von Sartre zu Marx« auf marxistischer Grundlage weiter vertiefte. Die durch antikommunistische Repression im Frankreich der 1950er Jahre erzwungene Strafversetzung des jungen linken Philosophielehrers in die Provinz bewog Sève zum Eintritt in die KPF. Dem drohenden Ausschluss aus dem Lehrerverband wegen kommunistischer Funktionärstätigkeit entging er durch den Militärdienst in einem algerischen Strafregiment 1952. »Dies verschaffte mir ein Sabbattrimester zum Marx-Studium«, schrieb Sève rückblickend, und führte zu einer anderen Lesart des »Kapital« als der von Althusser.

Weitere Denkanstöße von »außerhalb« waren für Sèves Weg zu einer marxistischen Wissenschaft der Biografie ausschlaggebend. So rezipierte er als einer der wenigen Marxisten die Arbeiten des in Psychoanalyse bewanderten ungarischen Kommunisten und von der Gestapo ermordeten Widerstandskämpfers Georges Politzer (1903-1942). Dessen Aufsatz »La crise de la psychologie contemporaine« von 1929 mit der These, »die ganze Psychologie ist nur möglich, wenn sie eingebettet ist in die Ökonomie«, enthielt für Sève erste Bausteine eines abzuarbeitenden Forschungsleitfadens.

Zwei weitere »kapitale Entdeckungen« kamen hinzu: die Rezeption der bis dato im westeuropäischen Marxismus so gut wie unbekannten sowjetischen Tätigkeitspsychologie, insbesondere Lew Wygotskis forschungsleitenden Imperativs »Die Psychologie braucht ihr ›Kapital‹!« Das war das Verdienst von Sèves Frau Françoise, die Arbeiten von Wygotski ins Französische übersetzte und Lucien aufgrund ihrer exzellenten Russischkenntnisse auch mit Lenin-Texten im Original vertraut machte. Zu Wygotskis Imperativ passte dann auch die erste französische Ausgabe der Marxschen »Grundrisse« 1967/68. Sève konnte so den für ihn zentralen Marxschen Gedanken aus der sechsten Feuerbachthese – »In seiner Wirklichkeit ist das menschliche Wesen das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« – durch Rückgriff auf zentrale Thesen der »Grundrisse« ausinterpretieren und als einer der ersten den Marxschen Rohentwurf sozusagen »individualisierungstheoretisch« lesen – als ein System von Arbeit, Bedürfnis, Tätigkeit und Spiel, in dem sich zivilisatorisch-kultureller Fortschritt und Ausbildung von Individualität auf der Basis einer für die bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft spezifischen Ökonomie der Zeit entwickelt.

Im weiteren Ausarbeitungsgang seiner marxistischen Wissenschaft der Biografie fokussiert Sève auf »historische Individualitätsformen« und will »untersuchen, wie sie sich auf die Tätigkeits- und Zeitplanlogiken der in ihnen lebenden Persönlichkeiten auswirken«.[5] Aber es gelingt ihm in den frühen 1980er Jahren letztlich nicht, Einzelstudien zu Arbeit und Schule, Taylorismus und Klassenbewusstsein, zu objektiven und subjektiven Veränderungen der Arbeiterklasse in Frankreich am »Institut des Recherches Marxistes« in Paris wirklich »in einem kollektiven Buchprojekt« zum Abschluss zu bringen – alles politisch-theoretische Fragestellungen, die heutzutage angesichts von Zeitdiagnosen zwischen einer »Gesellschaft der Singularitäten und hybriden Subjekte« sowie der »Wiederkehr der Klassenfrage« wieder hochaktuell sind.

Auch wenn es seit Ende der 1980er Jahre um »Marxismus und Theorie der Persönlichkeit« zunehmend stiller wurde, hielt Sève mit zahlreichen bis heute nicht übersetzten Publikationen zu »Heute mit Marx denken«, Biografieforschung, Bioethik und Demokratie oder zum Oktober 1917 an seiner Erneuerungsbestrebung des Marxismus fest. Als nicht-professioneller Philosoph wurde er von der akademischen Zunft geschnitten. Sein Insistieren darauf, dass die Abschaffung bürgerlich-kapitalistischer Produktionsverhältnisse nicht möglich ist, ohne die Überwindung bornierter Verkehrsverhältnisse und damit die Veränderung menschlicher Tätigkeiten wie die Selbstveränderung des Individuums im hier und jetzt zu denken, bleibt sein kritischer Impuls an die politische Linke.

Das politisch-theoretisch innovative Potenzial im Eurokommunismus zu Beginn der 1970er Jahre, zu dem Lucien Sève mit seiner marxistischen Subjekt- und Persönlichkeitstheorie einen Beitrag leistete, ist neben vielen anderen Ursachen in seinen Augen auch durch die Unfähigkeit zu einem transformatorischen Denken jenseits kommunistischer Geschichtsgesetzmäßigkeit wie sozialdemokratisch-linearem Fortschrittsglauben blockiert worden. In den Krisenjahren des Spätfordismus nach der Zäsur 1975/76 war die gesellschaftliche Linke intellektuell und strategisch so nicht gewappnet, dem »postmodernen« Denken und neoliberalen Gesellschaftsprojekt mit einer gegenhegemonialen Strategie zu begegnen, in der Individualitätsansprüche und Klassenfragen in transformatorischer Perspektive zusammengedacht werden.

Den 100. Jahrestag der Gründung der KPF erlebte Lucien Sève nicht mehr, aber der von Roger Martelli 2018 herausgegebene Briefwechsel zwischen ihm und Louis Althusser von 1949-1987 geben ein Zeugnis dieser »kommunistischen« Epoche (auf seine Übersetzung dürfen wir gespannt sein). Und dass Grundgedanken des Marxschen Kommunismus, wie Sève sie verstand, mit dem 20. Jahrhundert nicht aus der Welt verschwunden sind, belegen die vielfältigen Gegenwartskrisen im »gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur« zu Beginn des 21. Jahrhunderts. In deren Ungelöstheit sieht er in seinem Buch »Penser avec Marx aujourd’hui«, TOME II, »L'HOMME«? (Paris 2008) die Berechtigung und Aktualität der Problemstellung, die Marx bereits im 19. Jahrhundert herausarbeitete: »Es ist in der Tat nur durch die ungeheuerste Verschwendung von individueller Entwicklung, daß die Entwicklung der Menschheit überhaupt gesichert und durchgeführt wird in der Geschichtsepoche, die der bewußten Rekonstitution der menschlichen Gesellschaft unmittelbar vorausgeht.«[6]

Für Sève befinden wir uns hier an der »Orientierungstafel, wo die anthropologische Perspektive des Marxschen Kommunismus in ihrer ganzen Breite erkennbar wird. So beginnt die anthropologische Lesart dieser Analysen hervorzutreten, eine Lesart, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts etwas völlig Neues darstellte, und auch im 21. Jahrhundert wird man sich als gut beraten erweisen, wenn man sie nicht unbesonnen als banal bezeichnet.« Dazu hat Lucien Sève seinen Beitrag als Marxist geleistet.

Anmerkungen

Christoph Lieber ist Redakteur von Sozialismus.de. Im Original lautet das Titelzitat: »Le communisme n’étant pas né avec le XXe siècle, il n’avait aucune raison de disparaître avec lui«. Sèves Beitrag und die Anforderungen an eine marxistische Wissenschaft der Biografie werden in der Juni-Ausgabe von Sozialismus.de vertieft.

[1] Horst Arenz/Joachim Bischoff/Urs Jaeggi: Einleitung, in: dies. (Hrsg.) Was ist revolutionärer Marxismus? Kontroverse über Grundfragen marxistischer Theorie zwischen Louis Althusser und John Lewis, Westberlin 1973, S. XXVIIf.
[2] Ebd., S. XXV.
[3] Lucien Sève: Für eine schöpferische Weiterentwicklung des Marxismus, in: Freiheit der Kritik oder Standpunktlogik? Diskussion in der KPD, Westberlin 1976, S. 21ff. Mit diesem Band machte der VSA: Verlag damals Debattenbeiträge aus der Kommunistischen Partei Frankreichs deutschsprachigen Leser*innen zugänglich. Er ergänzte die Publikationen zu eurokommunistischen und -sozialistischen Positionen aus Spanien (Santiago Carrillo), Italien (Enrico Berlinguer, Pietro Ingrao u.a.) und Portugal (Mario Soares).
[4] Ebd., S. 27f.
[5] Sie hierzu detaillierter Friedrich Steinfeld: Biografie als Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Persönlichkeit. Neuausgabe von »Marxismus und Theorie der Persönlichkeit von Lucien Sève, in: Sozialismus, Heft 2-2017, S. 56ff. Bereits 1975 hatte Friedrich Steinfeld zusammen mit Hans Laufenberg und Marianne Rzezik unter dem Titel »Sèves Theorie der Persönlichkeit« im VSA: Verlag eine Kritik von Sèves Hauptwerk veröffentlicht.
[6] Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band, in: Marx-Engels-Werke (MEW) 25, S. 99.

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