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Antje Vollmer/Alexander Rahr/Daniela Dahn/Dieter Klein/Gabi Zimmer/Hans-Eckardt Wenzel/Ingo Schulze/Johann Vollmer/Marco Bülow/Michael Brie/Peter Brandt
Den Krieg verlernen
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Bellizistische Narrative, Kriegsschuld-Debatten und Kompromiss-Frieden
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Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
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ISBN 978-3-96488-121-2

5. September 2016 Joachim Bischoff / Bernhard Müller: Gründe und Hintergründe des AfD-Vormarschs

Der Rechtspopulismus erobert die Berliner Republik

Das Wahlergebnis der AfD in Mecklenburg-Vorpommern übertrifft die Schockwirkung aus den Landtagswahlen im März 2016. Damals hatte die AfD bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz aus dem Stand zweistellige Ergebnisse erzielt, in Sachsen-Anhalt sogar aus dem Stand 24,3% geholt. Jetzt wurde sie in Mecklenburg-Vorpommern mit 20,8% zweitstärkste Kraft und lässt die CDU mit 19% hinter sich.

Mit einem erneuten Verlust bleibt die Landes-CDU auf ihrem historisch schlechtesten Ergebnis hängen. Ob freilich dieses Mal die Schockwirkung ausreicht, die tradierten Wahrnehmungsmuster der politischen Kultur außer Kraft zu setzen, bleibt abzuwarten.

Das Wahlergebnis hat durchaus Qualitäten, die eine Veränderung der politischen Kultur in der Berliner Republik auslösen könnten:

Wie schon bei den Landtagswahlen im Frühjahr ist die Wahlbeteiligung in Mecklenburg-Vorpommern deutlich angestiegen: von 51,5% im Jahr 2011 auf 61,6% im Jahr 2016. Wichtigster Mobilisierungsfaktor: die AfD, die bei den früheren NichtwählerInnen deutlich punkten konnte.

Die SPD in Mecklenburg-Vorpommern hat im Wahlkampf aufgeholt und ist erneut stärkste Kraft geworden. Dennoch sieht ein Wahlsieg anders aus. Das Ergebnis von 30,6% bei einer Wahlbeteiligung von 61,4% ist ein miserables Zeugnis für die Landespartei und bestätigt den Bundestrend: Die SPD kann an ihre frühere Stärke nicht mehr anknüpfen. Die SPD wird die nächste Landesregierung führen, eine deutliche Antwort auf den Rechtstrend wird ausblieben.

Auch die CDU konnte den rasanten Aufstieg der AfD nicht bremsen. Angela Merkel, die ihren Bundestagswahlkreis auf Rügen hat, ist von einer unangefochten beliebten Regierungschefin zur persona non grata für weite Teile der Bevölkerung geworden. Das hat auch ihre eigene Machtposition innerhalb der Partei verschoben. Personelle Veränderungen oder gar Rebellionen innerhalb der Union sind trotz des katastrophalen Ergebnisses in Schwerin nicht zu erwarten. Es gibt wenig Alternativen zur Merkel-CDU.

Alle »Altparteien« (SPD, CDU, DIE LINKE, Grüne und FDP) haben verloren. Ihre Reaktion: weitgehende politische Hilflosigkeit auf den Rechtspopulismus. Der Zenit dieser »modernen Rechten« ist noch nicht erreicht. Auch die Landtagswahlen bis zur Bundestagswahl im Herbst 2017 werden durch die Offensive der AfD bestimmt werden.

Trotz massiver organisatorischer Defizite und interner Konflikte holt die AfD in Mecklenburg-Vorpommern 20,8% und liegt bundesweit jetzt laut Umfragen zwischen 12 und 14%. Der Landesverband Mecklenburg-Vorpommern hat rund 500 Mitglieder, kaum qualifiziertes Personal und erfährt eine Unterstützung von über 20% der WählerInnen.

Die AfD ist in den letzten Monaten weiter nach rechts gedriftet. Sie ist mittlerweile eine rechtspopulistische Partei mit einem starken extremen, völkisch-nationalistischen Flügel. Diese Einfärbung existiert nicht überall, auch nicht alle an der Parteispitze verfolgen diese Linie. Aber das dynamische Zentrum der Partei um Björn Höcke und André Poggenburg ist auf diesem Kurs.

Zentrales Motiv für die Wahlentscheidung in dem Bundesland war die Flüchtlings- und Migrationsproblematik. Mecklenburg-Vorpommern weist zwar etliche Probleme auf, die einer politischen Bearbeitung harren, aber das Land steckt nicht in einer offenen Krisenkonstellation. Das unterstreicht die Wichtigkeit einer Untersuchung, welche Faktoren hinter diesem politischen Erdrutsch stecken.

Auch die konkurrierenden Parteien – SPD, CDU, Linkspartei und Grüne – verfügen bestenfalls über Ansätze von kompetenten und realistischen Konzeptionen der regionalen Strukturpolitik. Die große Koalition der letzten Jahre hat in dem Land eine neoliberale Konsolidierungspolitik durchgezogen – die Realisierung von Haushaltsüberschüssen war wesentlicher als eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse der Bevölkerung.

Sozialdemokratie und CDU hofften auf Anerkennung der bisherigen Fortschritte gegen Unterentwicklung und Benachteiligung, die oppositionellen Kräfte – Linkspartei und Grüne – kritisierten zwar die gewachsenen Disparitäten von Stadt-Land, blieben aber blass bei den angebotenen Alternativen. Die unübersehbaren programmatischen Schwächen der traditionellen und etablierten Parteien können den politischen Erdrutsch aber nicht begründen.


Das Schlusslicht der ostdeutschen Bundesländer und seine akuten Defizite

Das Flächenland Mecklenburg-Vorpommern mit seinen 1,6 Mio. Einwohnern ist vorwiegend von der Agrarwirtschaft und dem Tourismus geprägt. Das wichtigste Thema des Wahlkampfes war die Zuwanderungs-, Integrations- und Flüchtlingspolitik. In einer Umfrage wurde dieses Themenfeld am häufigsten als wahlentscheidend genannt. Erst danach folgten die Themen soziale Gerechtigkeit, Arbeitsmarkt und Wirtschaft.

Die Bedeutung der Flüchtlingspolitik ist bemerkenswert, weil der Ausländeranteil in Mecklenburg-Vorpommern bei 3,7% liegt. Im vergangenen Jahr wurden »nur« 23.080 Flüchtlinge registriert, rund 11.000 haben hier ihren Lebensmittelpunkt. Die politisch verstärkte Kampagne gegen Flüchtlinge hat die Funktion, die tiefsitzende Wut über Armut und sozialen Niedergang und die Abstiegsängste vor allem bei den unteren Mittelschichten aufzufangen und zu instrumentalisieren.

Im Unterschied zur objektiven Bedeutung der Flüchtlingsfrage sind die wirtschaftlich-sozialen Probleme noch keineswegs gelöst: Mecklenburg-Vorpommern war nach der Vereinigung keine »blühende Landschaft«. 300.000 MecklenburgerInnen haben ihr Bundesland seit 1990 verlassen. Zurückgeblieben sind absterbende Dörfer und Kleinstädte mit einer überalterten Bevölkerung. Die Arbeitslosigkeit liegt deutlich höher als im Bundesdurchschnitt, auch wenn sie in den vergangenen Jahren zurückging.

Mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 24.909 Euro pro Kopf (Stand 2015) bildet Mecklenburg-Vorpommern das Schlusslicht im Vergleich mit den ostdeutschen Ländern und im Bundesvergleich. Allerdings ist ein gewisser Aufholeffekt unbestreitbar: So ist das BIP 2015 mit 1,9% stärker gestiegen als im Bundesschnitt. In den letzten zehn Jahren sind 50.000 Arbeitsplätze entstanden und die Arbeitslosenquote von 20% (2006) auf 9% gesunken. Die Arbeitslosenquote wird nur in den Stadtstaaten Bremen und Berlin sowie im strukturschwachen Sachsen-Anhalt übertroffen.

Die Jugendarbeitslosigkeit wird mit einem Spitzenwert ausgewiesen. Der Aderlass in den Bereichen Industrie (Werften, Maschinenbau) konnte trotz starker Bedeutung von Strukturmaßnahmen nicht kompensiert werden. Das Bundesland ist durch ein starkes Gefälle zwischen Stadt und Land charakterisiert. In den letzten Jahren dominieren als Wachstumssektoren Tourismus und Windenergie. Mit einem Anteil von 12% an der Wirtschaftsleistung ist das Reisegeschäft so groß wie die Industrie.

Fakt ist: Die wirtschaftlichen Strukturprobleme und die auseinanderlaufenden Lebenschancen in den ländlichen Gebieten gegenüber den eher urbanen Zonen (Bildung, Kultur, Gesundheit etc.) waren nicht die prägenden Themen des Wahlkampfes. Nach einer Umfrage der »Schweriner Volkszeitung« bewerten 75% der LandesbewohnerInnen ihre persönliche wirtschaftliche Situation als gut bis sehr gut. Bei der Bevölkerung ist durchaus angekommen, dass sich einiges im Land verbessert hat.

Trotz der jüngsten Erfolge bleibt der Abstand zu anderen Ostländern und zu den Altbundesländern deutlich. Sowohl die Erwerbsquote wie auch die in den ostdeutschen Ländern sonst traditionell hohe Frauenerwerbsquote liegen erkennbar unter dem Bundesschnitt. Dazu passt, dass die Kinderarmut nur in Bremen und Sachsen-Anhalt höher ist als im landwirtschaftlich geprägten Mecklenburg-Vorpommern.

In der Konsequenz ist das Bundesland Schlusslicht bei den Einkommen: Mit durchschnittlich 75,9% war der 2015 in der Gesamtwirtschaft Mecklenburg-Vorpommerns erreichte Angleichungsstand der Bruttolöhne und ‑gehälter je Arbeitsstunde der ArbeitnehmerInnen an den Bundesdurchschnitt von allen Ländern am niedrigsten. Im Durchschnitt der neuen Länder wurden 2015 je Arbeitsstunde 19,58 Euro gezahlt (78,5% des Bundesdurchschnitts), im früheren Bundesgebiet waren es 25,84 Euro (103,6% des Bundesdurchschnitts). 2015 waren damit die durchschnittlichen Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitsstunde in Mecklenburg-Vorpommern um 6,02 EUR niedriger als im Bundesdurchschnitt.

Im April 2014 gab es in Mecklenburg-Vorpommern 146.000 Jobs (23% aller Jobs in Mecklenburg-Vorpommern), die geringer bezahlt wurden als der neue Mindestlohn von brutto 8,50 Euro je Arbeitsstunde und zum 1. Januar 2015 unter den Schutz des Mindestlohngesetzes kamen. Dabei handelte es sich am häufigsten um Vollzeitstellen (58.000). Insgesamt waren Frauen häufiger vom Mindestlohn betroffen als Männer. Der Anteil der Frauen an den vom Mindestlohngesetz geschützten gering bezahlten Jobs machte 62% aus.

Gemessen am Bundesdurchschnitt weist Mecklenburg-Vorpommern nach Bremen die höchste Armutsgefährdungsquote in Deutschland auf. Mehr als jedes vierte Kind ist dort von Armut betroffen. Der Anteil liegt im Land bei 26,9%. Insgesamt leben demnach 62.000 Kinder in Mecklenburg-Vorpommern in einkommensschwachen Haushalten. Richtig ist: Die Quote ist in den vergangenen Jahren gesunken, 2005 lag die Armutsquote noch bei über 34%. Grund für den Rückgang dürfte sein, dass jetzt deutlich weniger Menschen arbeitslos sind. Dennoch liegt Mecklenburg-Vorpommern im Ländervergleich auf Platz drei – nur in Bremen und Sachsen-Anhalt sind prozentual noch mehr Kinder von Armut betroffen.

Das ähnliche Bild bei der Altersarmut. Die Sozialleistungstransfers an die Menschen sind hoch, die erzielten Einkommen aus sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen sind im Bundesvergleich die niedrigsten. Diese Gesamtentwicklung führt zu Kaufkraftverlusten im Land, zu weiteren erhöhten Sozialausgaben (z.B. im Pflegebereich) und erfordert neue Konzeptionen zur Sicherstellung von Gesundheit und Mobilität. Auch hinsichtlich der Wohnsituation von zunehmend älteren Menschen müssten adäquate Konzepte gefunden werden.

Die AfD in Mecklenburg-Vorpommern hat mit Sicherheit keine ausgewiesene Analyse des Bundeslandes und folglich auch nur minimale Ansätze einer Regionalpolitik. Die politische Kampagne wurde mit Themen von der Bundesebene bestritten, vom Asylrecht, über die Entmachtung der Bundeskanzlerin Merkel, die Stärkung des Staatsapparates bis hin zu Abschaffung der Fernseh- und Rundfunkgebühren.

Wir stellen für Mecklenburg-Vorpommern fest: Auch hier wiederholt sich das interessante Phänomen, dass Rechtspopulismus in relativ wohlhabenden Gesellschaften Europas stark ist, z.B. in der Schweiz, in Österreich, in Dänemark und in den Niederlanden. Das sind alles keine Krisen- oder Katastrophengebiete, sondern Länder, die relativ gut funktionieren, in denen die Menschen aber auch das Gefühl haben, dass sie durch eine Veränderung der politischen Ordnung oder durch demokratischen Kontrollverlust Verluste erleiden könnten. Was also motiviert so viele BürgerInnen unbekannten und unerfahrenen KandidatInnen ihre Stimmen für ein politisches Mandat zu geben?


Was bewirkte den politischen Erdrutsch zugunsten der AfD in den Landtagswahlen 2015?

Die AfD versteht und inszeniert sich als Gegenstimme zu den »Alt-Parteien«. Gegenüber der auf Affekte gestützten radikalen Ablehnung des politischen Establishments und der Medien (»Lügenpresse«) tritt die Programmatik in den Hintergrund. Die Partei selbst entwickelt und verändert ihre Programmatik, die marktradikalen, neoliberalen Forderungen und Begründungen verlieren an Bedeutung. Dem Großteil der WählerInnen und UnterstützerInnen der AfD sind die programmatischen Bausteine im Detail unbekannt. Ihnen genügt das öffentliche Bild, das über die Partei im Umlauf ist: gegen Einwanderung, gegen den Islam, gegen die EU.

Die WählerInnen lassen sich nicht davon beeinflussen, dass die Parteiführung unübersehbar in heftige politische und personelle Konflikte über den weiteren politischen Kurs verstrickt ist. Und auch nicht dadurch, dass die gesamte Führungsebene offenkundig unwillig ist oder Schwierigkeiten hat, klare Ab- und Ausgrenzungen gegenüber rechtsextremen Inhalten und Organisationen vorzunehmen. Etliche Akteure in der Jugendorganisation der AfD haben ebenso wie Parteifunktionäre eine einschlägige Vergangenheit im rechtsextremen Spektrum. Auch die partielle Annäherung von führenden Funktionären an die NPD oder an extrem rechte Parteien wie den Front National (Frankreich) und die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) haben keinen negativen Einfluss auf Umfrage- und Wahlergebnisse.

Bei der Parteigründung im Februar 2013 war die AfD mehrheitlich europa- und eurokritisch, profilierte sich weiter durch eine nationale Orientierung einer entschiedenen neoliberalen Politik und wies zugleich einen nationalkonservativen Flügel auf. Seither ist die Partei Schritt für Schritt nach rechts gedriftet. Ein zentraler Meilenstein auf dem Weg nach rechts war der Parteitag in Essen Anfang Juli 2015. Dort wurde der damalige Vorsitzende Bernd Lucke durch das Duo Petry und Meuthen ersetzt und der Rechtsruck der Partei auch personell sichtbar.

Seit der deutlichen Ausweitung der Bewegung von zufluchtsuchenden BürgerInnen nach Deutschland im Spätsommer 2015 hat die AfD ihren politischen Schwerpunkt von der Euro- und Europakritik auf die Asylpolitik und vor allem eine Abgrenzung gegenüber MigrantInnen aus islamischen Ländern ausgerichtet. Sie stützt sich auf Befürchtungen und Vorurteile in großen Teilen der Bevölkerung, die der Zuwanderung skeptisch oder ablehnend gegenüberstehen. Die AfD unterstützt und bekräftigt ein einseitiges und negatives Bild vom Islam. Zudem bedient sie eine Klientel, die traditionelle Familienmodelle als gesellschaftliche Norm durchsetzen will.

Die besondere Thematik der Zufluchtsuchenden und der Migration verliert in den letzten Monaten dieses Jahres nur zahlenmäßig an Bedeutung. Im Vergleich zu 2015 zeichnet sich seit Frühjahr 2016 ein starker Rückgang der Fluchtmigration nach Deutschland ab: Seit April 2016 hat sich die Zahl der neu erfassten Flüchtlinge bei 16.000 Personen eingependelt, im November 2015 hatte sie noch 206.000 betragen. Ein Großteil der Unterbringungsquartiere wird zurückgefahren. Die Versorgung und Integration der Flüchtlinge in Deutschland ist zweifellos eine große gesellschaftliche Herausforderung, doch von »Überforderung« oder gar »Kontrollverlust« kann keine Rede sein.

Eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland (SI der EKD) belegt, dass kein Umschlagen von Stimmung oder rückläufiges Engagement festgestellt werden kann. Drei von vier Deutschen können sich einen persönlichen Beitrag zur Flüchtlingshilfe vorstellen. Die Zahl der in der Flüchtlingshilfe Engagierten ist 2016 weiter gestiegen (November 2015: 10,9%, Mai 2016: 11,9%). Die in den letzten Monaten gestiegene Angst vor Anschlägen hat das Meinungsbild nicht verändert. Allerdings ist bemerkenswert, dass die Bevölkerung in den östlichen Bundesländern gegenüber der Flüchtlingsbewegung deutlich skeptischer bleibt als die in den westlichen Bundesländern.

In einer aktuellen Umfrage machen 63% der Deutschen die aktuelle Flüchtlingspolitik für den Erfolg der AfD verantwortlich. Nur 22% sehen darin nicht den Hauptgrund und halten andere Gründe für ausschlaggebend. Unter den AnhängerInnen von CDU/CSU glauben sogar 73%, dass die Flüchtlingspolitik der Hauptgrund für den Erfolg der AfD ist. Ein Blick auf den europaweiten politischen Rechtsruck legt dagegen die These nahe, dass die Flüchtlingsfrage nur ein begleitendes Symptom, nicht die grundlegende Ursache für den politischen Erdrutsch zugunsten des Rechtspopulismus ist. Wir sehen in ganz Europa und den USA den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien. Deutschland bildete lange die Ausnahme.


Charakteristische Elemente des Rechtspopulismus

Zusammenfassend sind folgende Elemente für den modernen westeuropäischen Rechtspopulismus und für die AfD kennzeichnend:

Erstens: Die rechte politische Bewegung grenzt sich unter Berufung auf das Volk radikal gegen die »herrschende politische Klasse« ab, der eine Politik der schleichenden Auswechselung der Bevölkerung unterstellt wird. Rechtspopulistische Bewegungen fordern die Einrichtung einer autoritär-charismatisch gelenkten »Bürgerdemokratie«. Grundlage der politischen Mobilisierung sind Anti-System-/Anti-Establishment-Affekte. »Populistische Parteien sind Anti-Establishment-Parteien und geben gleichzeitig vor, für das sogenannte einfache Volk zu stehen im Unterschied – so lautet zumindest der Vorwurf – zu den anderen Parteien, die das nicht mehr tun. Das ist der Kern des Populismus.« (Frank Decker)

Zweitens: Gesellschaftliche Basis für den Rechtspopulismus ist ein historisch-spezifisches Ressentiment, d.h. den Einstellungen und Handlungen liegt das Gefühl dauernder Ohnmacht gegenüber erlittener Ungerechtigkeit und Benachteiligung zugrunde. Das Ressentiment im Wortsinne ist ein Re-Sentiment, ein bloßes Wieder-Fühlen einer einmal erlittenen Verletzung, einer Niederlage, einer strukturellen Herabsetzung etc. Die neoliberale Globalisierung der letzten Jahrzehnte schafft mit all ihren zerstörerischen Folgen – Selbstentmachtung der Nationalstaaten durch den Verzicht auf die staatliche Regulierung der globalisierten Finanzmärkte – die Basis für die Entstehung und Verbreitung sozialer Ungleichheit, die sich in ein antistaatliches, gegen das Establishment gerichtete Ressentiment umsetzt.

Das Ressentiment ist kein spontaner Reflex auf ein erlittenes Unrecht. Das Gefühl der Kränkung ermöglicht die Ausprägung und das Bedienen ethnozentrisch-fremdenfeindlicher, nationalistischer oder antisemitischer Ideologieelemente und politisch-psychologischer Bedürfnisse. Diese erstrecken sich über bewusst miteinander verknüpfte Themen wie Einwanderung, Kriminalität, Globalisierung, innere Sicherheit und nationale Identität.

Ein Ressentiment gegen die unteren sozialen Klassenfraktionen gibt es nach Bourdieu[1] (Bourdieu 1991) nicht. Der Kleinbürger, der Typus der unteren Mittelschicht, zeigt Ressentiment ausschließlich nach oben, während er nach unten nur Verachtung an den Tag legt. Da der soziale Aufstieg permanent und von allen denkbaren Seiten bedroht ist, geht der Kleinbürger, immer auf der Hut vor sozialer Erniedrigung und Demütigung, vorsichtshalber schon einmal in Deckung und schielt von dort aus nach oben.

Das Ressentiment bricht sich in rassistischer Ausgrenzung Bahn, nachdem die Verschärfung sozialer Ungleichheit als Konsequenz des politisch-sozialen Handelns verstanden ist. In Anknüpfung an Bourdieu begreifen wir das Ressentiment als Reaktion auf eine grundlegende Verletzung der sozialen Anerkennung. Es gibt keinen Anlass anzunehmen, dass es in der Gegenwart kein Ressentiment der machtlosen, absteigenden unteren Mittelklasse mehr gibt.[2]

Drittens: Zum Rechtspopulismus gehört der Gestus vom mutigen »Tabubruch«, also die Selbstinszenierung als politische Akteure, die aufräumen mit der moderierenden Sprache und den Verkehrsformen der liberalen der parlamentarischen Demokratien. Diese Inszenierung steht vielfach im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien. Inhaltlich-ideologisch bewegt sich der Rechtspopulismus in einer »Grauzone« zwischen Rechtsextremismus und Strömungen des Nationalkonservatismus. Das rassistische Ressentiment mündet in letzter Konsequenz in einer autoritären Aggression gegenüber den Sündenböcken: damals den Juden, heute den Flüchtlingen aus dem islamischen Kulturkreis.

Viertens: Der deutsche Rechtspopulismus in Gestalt der AfD stellt die deutsche Bevölkerung als Opfer und Benachteiligte dar, die angeblich von politischer Mitwirkung ausgeschlossen sind, jedoch die Folgen in punkto Finanzierung und Sicherheit zu tragen hätten. Tatsächlich sind mit Migrationsbewegungen größeren Ausmaßes mit zahlreichen Herausforderungen verbunden – beispielsweise, wenn es darum geht, die Geflüchteten menschenwürdig und sicher unterzubringen oder ihre gesellschaftliche Integration zu organisieren. Ohne Zweifel gibt es Beschäftigte und Erwerbslose in erheblicher Zahl, die jeden Monat erneut darum kämpfen, einigermaßen über die Runden zu kommen.

Fünftens: Viele Studien (vor allem von der Heitmeyer-Gruppe in Bielefeld) haben in den rückliegenden Jahrzehnten belegt, dass es in Deutschland ein großes Potenzial für eine rechtspopulistische Partei gibt. Die Veränderung in der Struktur des Alltagsbewusstseins, auf die die Rechtspopulisten reagieren und instrumentalisieren, wird auch in der neuen Studie von Decker, Kiess und Brähler (2016) dokumentiert. Während Antisemitismus und generelle Fremdenfeindlichkeit rückläufig sind, finden Vorurteile gegenüber Muslimen und Sinti und Roma, aber auch AsylbewerberInnen eine immer stärkere Verbreitung. So stimmen etwa 50% der Befragten der Aussage zu: »Durch die vielem Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land«. Sogar 80% stimmen der Aussage zu: »Bei der Prüfung von Asylanträgen sollte der Staat nicht großzügig sein.« Unstrittig ist auch, dass es einen Prozess der Entfesselung des Ressentiments »Rassismus« gibt und einen Vorgang der »Normalisierung« und damit Verstärkung rechtspopulistischer Stimmungen und entsprechend motivierter Handlungen.


Soziale Basis des Rechtspopulismus: eine Bewegung der unteren Mittelschicht

Die häufig vorgebrachte Hypothese, dass vor allem die untere soziale Schicht für diesen massiven Legitimitätsverlust des politischen Systems verantwortlich sei, ist empirisch und theoretisch fragwürdig. Der Sachverhalt ist komplizierter: Auch die untere soziale Schicht ist von dem Establishment enttäuscht und verspricht sich aber von Wahlen keine Besserung mehr. Europaweit gilt: Je prekärer die sozialen Lebensverhältnisse, desto geringer ist die Wahlbeteiligung.

Daraus folgt, dass wachsende regionale und soziale Unterschiede zu politischer Ungleichheit führen. Je prekärer die Lebensverhältnisse in einem Stadtviertel, desto weniger Menschen gehen wählen. Die soziale Lage eines Stadtviertels bestimmt die Höhe der Wahlbeteiligung: Je höher der Anteil von Haushalten aus den sozial schwächeren Milieus, je höher die Arbeitslosigkeit, je geringer der formale Bildungsstand und je geringer die durchschnittliche Kaufkraft der Haushalte in einem Stadtviertel, desto geringer ist die Wahlbeteiligung.

Schlussfolgerung: Die sinkende Wahlbeteiligung ist in Europa Ausdruck einer zunehmend ungleichen Wahlbeteiligung, hinter der sich eine soziale Spaltung der Wählerschaft verbirgt. Das politische System Europas basiert auf einer tiefen sozialen Spaltung und die demokratische Willensbildung wird zu einer immer exklusiveren Veranstaltung der BürgerInnen aus den mittleren und oberen Sozialmilieus der Gesellschaften, während die sozial schwächeren Milieus deutlich unterrepräsentiert bleiben.

Die Ergebnisse von Langzeituntersuchungen in westlichen Demokratien belegen insgesamt: Mit der sozialen Ungleichheit wächst auch die politische Ungleichheit, zunächst im Sinne ungleicher Partizipation. Es kommt zu einer »Wirkungskette aus wachsender sozialer Ungleichheit, ungleicher politischer Partizipation und schließlich Entscheidungen zugunsten der politisch Aktiven (...), in deren Folge die Nichtbeteiligten benachteiligt werden«. Seit Jahrzehnten steht die gesellschaftliche Mitte durch sozio-ökonomisch Tendenzen unter Druck und beklagt sich über unzureichende sozialpolitische Abfederung. Vor allem die untere Mittelschicht setzt diesen Frust in rechte Stimmungen und politischen Protest um.

Dass die AfD-AnhängerInnen nicht überwiegend aus prekären Verhältnissen kommen, wird auch durch empirische Umfragen[3] erhärtet: 79% der AfD-AnhängerInnen beurteilten ihre wirtschaftliche Situation als gut bis sehr gut – im Durchschnitt der 1.026 Befragten ab 18 Jahren waren es 76%. Die ablehnende Haltung zur Zuwanderung ist eindeutig: 99% der AfD-Sympathisanten sind weniger oder gar nicht zufrieden mit der Asyl- und Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Der rechte Populismus ist keine Bewegung der Armen, sondern eine Bewegung der unteren Mittelschicht in wohlhabenden kapitalistischen Gesellschaften. Insofern versucht dieser rechte Populismus einen Kampf um das »verlorenes Paradies«. Menschen wählen nicht populistische Parteien, weil sie zufrieden sind. Sie sind unzufrieden damit, wie Dinge laufen. Das hat damit zu tun, dass sie sich politisch nicht mehr vertreten fühlen, dass die etablierten Parteien sie nicht repräsentieren. Sie glauben aber auch, dass man das System funktionsfähig halten könnte.

Untersucht man die Wahlstatistik, dann stolpert man schnell über eine Erklärung: Arbeiter und Arbeitslose sind jene Bevölkerungsgruppen, bei denen die AfD den größten Zuspruch findet. Dort erzielte die Partei Wahlergebnisse zwischen 24% in Rheinland-Pfalz und 38% in Sachsen-Anhalt. Doch Michael Kunert, der Chef des Umfrage-Instituts Infratest dimap, interpretiert zutreffender: »Es sind nicht die wirtschaftlich stärksten Gruppen, die AfD wählen. Allerdings im Schnitt auch nicht die Ärmsten der Armen, sondern Leute, die ausgeprägte Abstiegsängste plagen. Rund 70% der AfD-Wähler in Sachsen-Anhalt gaben an, sie empfänden die allgemeine Wirtschaftslage als schlecht.« (FAS vom 20.3.2016)

Seit Mitte der 1990er Jahre »bröckelt die ökonomische Basis der Mittelschichten. In der Primärverteilung ging der Anteil der Haushalte mit einem mittleren Markteinkommen an allen Haushalten um gut acht Prozentpunkte von 56,4% im Jahre 1992 auf 48% im Jahre 2013 zurück. Der Sozialstaat konnte zwar immer noch viele Mittelschichthaushalte vor dem sozialen Abstieg bewahren, aber die ungleiche Primärverteilung nicht mehr völlig kompensieren. Auch in der Sekundärverteilung, also nach Steuern, Sozialabgaben und Sozialtransfers, schrumpfte der Anteil der Mittelschichten von 83% im Jahre 2000 auf 78% im Jahre 2013.« (Bosch/Kalina 2016: 16)

Aus Meinungsumfragen und Analysen von Reden, Flyern und Plakaten rechtspopulistischer Parteien »ist klar herauszulesen: Das Potenzial liegt in den bürgerlichen, gut situierten Mittelschichten. Hier erreicht die Propaganda viele Bürger in ihren Vorurteilen gegen die Einwanderung, in ihren vermeintlichen Vorrechten als Einheimische, aber auch in autoritären Sicherheitsvorstellungen, was Strafen bei Normverstößen betrifft…

Gut 30% der Deutschen, die wir befragt haben, zeigen eine sogenannte ökonomistische Orientierung. Sie berechnen Gruppen nach ihren vermeintlichen Kosten und Nutzen, meinen zum Beispiel, wir können uns heute keine Verlierer mehr leisten. Ein klassisches bürgerliches Demokratieverständnis aber orientiert sich am Gemeinwohl und den Bedürfnissen von Menschen und nicht allein an ihrem Nutzen. Gesellschaftlich und politisch hat sich aber die Leistungsgerechtigkeit gegenüber der Bedürfnisgerechtigkeit durchgesetzt.« (Zick 2014)

Drei Jahre nach Gründung der AfD geben mehr Menschen an, sich mit der AfD verbunden zu fühlen, als jemals mit den Republikanern, der DVU oder der NPD. »Die AfD-AnhängerInnenschaft ist im Umfang gewachsen und hat sich in ihrer Zusammensetzung deutlich verändert: Die Partei findet ihre AnhängerInnen mehr und mehr unter NichtwählerInnen und im Lager rechtsextremer Parteien sowie unter BürgerInnen, die angaben, unzufrieden mit der Demokratie zu sein und solchen, die erklärten, sich vor Zuwanderung zu fürchten.« (Kroh/Fetz 2016)

Die AfD – wie die anderen rechtspopulistischen Parteien in Europa – ist nur das Symptom eines zugrunde liegenden Problems. Dieses Problem ist, dass etwa 70% der Bevölkerung mit dem Establishment unzufrieden sind. Indem man die eigensinnigen Stimmen unterdrückt oder sie lächerlich macht, nimmt man den Menschen nicht ihre Gesinnung.

Alle Untersuchungen verweisen auf zwei wesentliche Faktoren: Einerseits sehen wir in allen kapitalistischen Hauptländern in den zurückliegenden Jahren eine Tendenz zur Erosion der der sozial-ökonomischen Basis der Mittelschichten,[4] vor allem der unteren Mittelschicht. Andererseits hat sich wegen der wachsenden Angst vor Statusverlust eine massive Unbehagen gegenüber der politischen Klasse herausbildet.


Wie dem Rechtspopulismus entgegentreten?

Kann man gegen ein tiefsitzendes und weit verbreitetes Ressentiment mit Aufklärung (Vernunft) Veränderungen bewirken?

Die Kategorie Ressentiment kann zu einer problematischen Orientierung verleiten: »Der Gemeinplatz vom Ressentiment schafft Raum für längst überholt geglaubte Vorurteile über ›die Massen‹, welche sich stets von ihren Gefühlen leiten und dann von Populisten verführen lassen. Statt in Form von vermeintlich wohlmeinenden psychotherapeutischen Diagnosen de facto ein vernichtendes Urteil über die Wähler populistischer Parteien zu fällen, gilt es, nach den Gründen dafür zu fragen, warum populistische Politikangebote überhaupt attraktiv sein können.« (Müller 2016a)

Der Einwand von Müller ist nicht stichhaltig: Der Rückgriff auf die Kategorie Ressentiment führt nicht zu dem Fehlschluss, die unter dem Gift des Ressentiments Leidenden wären in gewisser Weise selber schuld. Im Gegenteil: Wer die WählerInnen in ihrer Wut und ihrem Hass auf das politische Establishment und die Flüchtlinge erreichen will, muss zunächst klären, welche Ansprüche, beispielsweise auf Gerechtigkeit und Anerkennung, sich hinter der Gegnerschaft gegen Freihandelsabkommen und gegen offene Türen für Flüchtlinge finden. Nur das Wissen und die Kommunikation über die sozio-ökonomischen Gründe des Verlustes und der Abstiegsangst kann die Verschränkung von gesellschaftlicher Entwicklungstendenz, politischem Versagen und affektiv-emotionaler Reaktion aufbrechen.

Im Zuge der Globalisierung fühlen sich weite Bevölkerungsschichten als Verlierer; das neoliberale politische Establishment hat durch Deregulierung die soziale Spaltung vertieft, so dass aus dem Ressentiment Wut und Hass gegen die Elite sowie die »neuen« Sündenböcke entfacht werden. Die Reden und programmatischen Bausteine der Rechtspopulisten leben von der Abwehr: von der Feindschaft gegen Muslime, Juden, Roma. Sie schüren Angst vor Arbeitsmigranten und Flüchtlingen, sie hegen Misstrauen gegen die Eliten der repräsentativen Demokratie und sprechen von Untergangsszenarien und Verschwörungstheorien.

Die Erfahrung von Benachteiligung und politischer Verstärkung wird in der Regel nicht ernst genommen. Dem »Wieder fühlen« kann nur durch Aufgreifen der Ursachen der Verletzung begegnet werden. Die PolitikerInnen müssten zunächst akzeptieren, dass die soziale Spaltung und damit soziale Benachteiligung existiert. Wer den PolitikerInnen der etablierten Parteien in den vergangenen Jahren zugehört hat – national und europaweit –, dem wurde Eindruck aufgezwungen, die Globalisierung, die europäische Einigung, der gemeinsame Markt und eine vielfältiger werdende Gesellschaft brächten für alle nur Vorteile. Diese Erfolgsgeschichte geht an vielen Menschen vorbei: Sie widerspricht der Lebenserfahrung eines Teils der europäischen Bevölkerungen.

Eine »erfolgreiche« Kommunikation muss mithin die Grundlage des Ressentiments ernst nehmen, müsste eine Politik der Zurückdrängung der sozialen Spaltung und Ungerechtigkeit präsentieren und könnte so der rassistischen, nationalistischen Deutung eine andere Logik entgegensetzen. Im besten Falle würde diese politische Agenda in Verbindung mit einer Kommunikationsstrategie Rechtspopulisten ihre Einzigartigkeit nehmen, es schwerer machen, sich als einziger Ansprechpartner dieser Bevölkerungsgruppen gegen das Establishment zu inszenieren.

In die Sackgasse führt ein SPD-Papier (Scholz 2016). Dort ist die zentrale These: Die Bürgerinnen und Bürger haben im modernen Kapitalismus doch mehr zu verlieren als ihre Ketten. »Das gilt nicht allein für ärmere Bevölkerungsteile, sondern auch und ganz besonders für die Mittelschicht.« Aber: »Die wirtschaftliche Lage und die Unsicherheiten, die die Moderne mit sich bringt, führen nicht zwangsläufig dazu, für rechtspopulistische Parolen empfänglich zu werden. Viele Bürgerinnen und Bürger wählen als Konsequenz andere Parteien, beispielsweise die SPD. Die Fremdenfeindlichkeit, wie sie für alle rechtspopulistischen Parteien wesentlich ist, speist sich häufig genug auch einfach aus schlechter Moral – und muss deshalb klar und offen kritisiert werden.«

Konsequenz: »Deshalb müssen wir klar sagen: Die Welt ist kompliziert und Deutschland kann nicht (mehr) alleine handeln. Wir sind auf globale Verabredungen angewiesen…. Wir müssen uns auf plausible Handlungsvorschläge konzentrieren. Nicht im Sinne einer marktideologisch motivierten Selbstbeschränkung, sondern im Sinne einer realistischen Einschätzung unserer Handlungsmöglichkeiten. Deshalb geht es bei der nötigen kontinuierlichen Weiterentwicklung des Sozialstaates auch immer darum, plausible Vorschläge zu unterbreiten, an deren Umsetzung die Wählerinnen und Wähler glauben und auf die sie deshalb berechtigt hoffen können.«

Das Ressentiment ist ein unverzichtbarer Baustein für den Erfolg des rechten Populismus. Die sozialdemokratische Partei hingegen ist eine politische Bewegung frei jeden Ressentiments.

Literatur

Bischoff, Joachim/Gauthier, Elisabeth/Müller, Bernhard (2015): Europas Rechte. Das Konzept des »modernisierten« Rechtspopulismus, Hamburg
Bosch, Gerhard/Kalina, Thorsten (2016): Mittelschichten in Deutschland – unter Druck, in: Sozialismus Heft 2.
Bourdieu, Pierre (1991): Zur Soziologie der symbolischen Formen (1970), Frankfurt a.M.
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Anmerkungen

[1] Ressentiment ist für Bourdieu nicht ausschließlich an eine bestimmte Schicht oder Klasse – hier: an den unteren Mittelstand – gebunden, sondern bezeichnet eine bestimmte Relation im sozialen Raum (Bourdieu 1991: 47). Auch die Revolte der Studenten interpretiert Bourdieu lediglich als ressentimentgeladenes Murren derjenigen, die nicht, wie ihnen versprochen wurde, an die materiellen Fleischtöpfe gelangt sind, als »Unredlichkeit eines zwieschlächtigen revolutionären Gestus, den letztlich das Ressentiment gegenüber dem in der Konfrontation mit den eingebildeten Erwartungen als Deklassierung erscheinenden Zustand speist«. (Bourdieu 1987: 260). Jan-Peter Müller sieht den Bezug auf die Kategorie Ressentiment kritisch: »Die Gedankenlosigkeit, mit der Populismus auf die vermeintlichen Seelenzustände von Wählern reduziert wird, lässt sich am besten an der derzeit beliebten Diagnose ›Ressentiment‹ studieren. Die Philosophen, die das Ressentiment analysiert haben – Nietzsche und, weniger bekannt, Max Scheler –, waren sich einig, dass ein Ressentiment aus der Unfähigkeit entspringe, Gefühle in Handlungen auszudrücken.« (Müller 2016a)
[2] Während das alte Kleinbürgertum typische Trägermasse des Ressentiments ist, wird dies beim neuen Kleinbürgertum (und den damit verbundenen Berufen) weitaus komplizierter. Wie Bourdieu konzediert, ist jeder einzelne dieser neuen Schicht, »der einen neuen Lebensstil, vor allem für sein Privatleben zu erfinden hat und seinen gesellschaftlichen Ort neu zu definieren hat« gezwungen, sich im sozialen Feld neu zu verorten (Bourdieu 1987: 564).
[3] Vgl. etwa Infratest im Auftrag des Magazins »Der Spiegel« vom März 2016; Renate Köcher, Die Volksparteien sind noch nicht am Ende, Allensbach-Analyse, in: FAZ 20.4.
[4] Vgl. dazu die Beiträge im Themenschwerpunkt »Wer ist die gesellschaftliche Mitte?« in Sozialismus 2/2016.

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