9. November 2013 Joachim Bischoff: EZB-Chef Draghi senkt Leitzinsen auf Rekordtief
Der Sparer-Schreck
Stunden nach den Jubelarien über das Ende der Rezession in der Euro-Zone und Europa kommt der »überraschende Zinsknaller« (Bild-Zeitung) aus Frankfurt: Die Europäische Zentralbank (EZB) hat den Leitzins im Euroraum auf das Rekordtief von 0,25% gesenkt.
EZB-Präsident Mario Draghi erneuerte seine Billiggeld-Perspektive. Die Notenbank erwartet eine »längere Phase niedriger Inflation« (Draghi). Soll heißen: Die Zinsen im Euroraum werden auf mittlere Sicht niedrig bleiben. »Wir haben die Untergrenze noch nicht erreicht und könnten den Zins grundsätzlich weiter senken.« Das ist sicher richtig: Mit Blick auf Japan ist eine weitere Annäherung an die Nulllinie denkbar; außerdem könnte die EZB ja auch mit Strafzinssätzen (Negativzinsen) experimentieren.
Der EZB-Präsident behauptet: Die Zentralbank habe ihr Pulver noch lange nicht verschossen und erschrecke daher auch nicht vor dem Horrorszenario, dass der Notenbank angesichts eines Leitzinses von praktisch Null künftig keine Instrumente mehr zur Konjunktur- und Zinssteuerung zur Verfügung stehen könnten.
Die Niedrigzinspolitik wird fortgesetzt. Banken können sich auch in der Euro-Zone praktisch zum Nulltarif Geld leihen. Die reichliche Versorgung der Banken mit Krediten wird fortgesetzt. Aber da die Investitionsmöglichkeiten und die profitable Neuanlage von Kapital weiterhin bescheiden bleiben, wird ein beträchtlicher Teil der Kreditexpansion in Immobilienanlagen und Käufe von Staatsanleihen wandern.
Die reichliche Kreditversorgung durch die Notenbanken bleibt im Finanzsystem hängen und wird nicht an den Unternehmenssektor weitergereicht. Konkret: Die Zinsermäßigung um 0,25% wird in der Realwirtschaft wenig bewirken. Die Kreditvergabe an Unternehmen ist schwach, weil es vielen Banken – vor allem in Südeuropa – trotz des Notenbankkredits an Kapital fehlt. Erste Priorität der Finanzinstitute ist die Sanierung der eigenen Bilanz. Und die Kreditversorgung bleibt schwach, weil hoch verschuldete private Haushalte (etwa in Spanien) sparen müssen und keine neuen Kredite aufnehmen können.
Doch die Schwemme des billigen Geldes, die Draghi bei Amtsantritt vor zwei Jahren mit der »Dicken Bertha«-Methode einleitete, hat noch andere Effekte. Bei einer Preissteigerungs- oder Inflationsrate, die über dem niedrigen Zinsniveau liegt, werden die Ersparnisse – also ein Teil des Geldvermögens – aufgefressen.
Niedrigzinspolitik ist auch ein Modus der finanziellen Repression, mit dem eine Umverteilung von einem Teil der Vermögensbesitzer verbunden ist. In letzter Konsequenz werden dadurch ganze Anlageklassen wie beispielsweise Sparbücher oder »Lebensversicherungen« entwertet. Noch mehr und noch billigeres Geld vermindert den Anreiz zum Sparen. Sparer werden mit zu niedrigen Zinsen ungefragt zur Entschuldung herangezogen.
Der überraschende Zinsknaller in Richtung Null hat jene widerlegt, die meinten, die Euro-Krise sei schon halbwegs überwunden. Obwohl die Wirtschaft im Euro-Raum auf einem fragilen Erholungskurs ist, hat die Europäische Zentralbank den Leitzins gesenkt. Auch die amerikanische Zentralbank hat die Finanzmärkte vor Wochen überrascht, weil sie ihre expansive Politik trotz positiver Wirtschaftsdaten nicht vorsichtig zurückgefahren hat. Die Normalisierung der Zinssteuerung in den kapitalistischen Ländern ist mithin auf die lange Bank geschoben, eine Trendwende nicht in Sicht.
Auch wenn die Notenbank wegen der zinspolitischen Entscheidung für die Perpetuierung der wirtschaftlichen Stagnation verantwortlich gemacht wird: Faktisch steckt die europäische Ökonomie in einer Sackgasse. Es drohen »japanische Verhältnisse«. Auch in Europa können wir uns auf eine lange Phase der Stagnation einrichten, solange Notenbanken und Politik nicht zu anderen Maßnahmen greifen.
Unter »japanischen Verhältnissen« versteht man seit dem Platzen der großen Blase der Vermögenspreise (Immobilien und Wertpapiere) zum Jahreswechsel 1989/90 eine Niedrig- Zinspolitik, reichliche Kreditversorgung der Finanzinstitute und eine stagnierende Wirtschaft. Zwar läuft der Export weiterhin ungestört, aber in der Binnenwirtschaft knirscht es aufgrund der negativen Vermögenseffekte sinkender Aktien- und Grundstückspreise massiv.
Wegen der vielen faulen Kredite in den Büchern von Unternehmen und Banken, bei gleichzeitiger hoher Staatsverschuldung, besteht die Gefahr einer Schuldenspirale, bei der notleidende Banken notleidende Unternehmen mit immer neuen Krediten am Leben halten – »in der Hoffnung, dass aus den faulen am Ende wieder gute Kredite werden«.
Die japanischen Haushalte verfügen über eine jahrzehntelange Erfahrung mit einer Nullzinspolitik. »Verglichen mit den 1980er Jahren hat sich die Sparquote der privaten Haushalte in den USA halbiert, in Japan beträgt sie sogar nur noch ein Drittel früherer Werte. Offensichtlich bewirken niedrige Zinsen bei den Sparern gerade den gegenteiligen Effekt: Anstatt ihre Sparanstrengungen zu verstärken, fahren sie sie zurück…
Die Sparer entwickeln eine hohe Liquiditätspräferenz, d.h. der Großteil der frischen Spargelder fließt in Bankeinlagen… So ist es zum Beispiel zu erklären, dass in Japan im Durchschnitt der letzten fünf Jahre fast 100% der Geldflüsse in Bankeinlagen gelenkt wurden... Sowohl in Japan als auch in den USA ist es in den letzten fünf Jahren zu einem Rückgang der Schulden – hier nicht zuletzt dank hoher Zahlungsausfälle und Abschreibungen auf Immobilienkredite – gekommen, in Pro-Kopf-Rechnung durchschnittlich um 0,5% (Japan) bzw. 2,0% (USA) pro Jahr. Im Euroraum nahmen die Schulden zwar weiter zu, aber sehr langsam; so beläuft sich das Schuldenwachstum nur noch auf einen Bruchteil des Vorkrisenwertes.« (Allianz, global wealthreport 2013, S. 36ff.)
Nur durch eine große Anzahl von umfangreichen Konjunkturprogrammen konnte in Japan der Anschein eines »Business as usual« auf niedrigem Niveau gewahrt werden – zumindest oberflächlich. Tatsächlich haben diese Staatseingriffe die Überschuldung der öffentlichen Institutionen massiv expandieren lassen. Die sicherlich katastrophale Bereinigung der Fehlsteuerung von Kapitalanlagen wurde vertagt und gleichsam in kleine Portionen auf Jahrzehnte verteilt. Diese Politik des »Zeitkaufens« bewirkte letztlich die exorbitante Staatsverschuldung von aktuell mehr als 235% des Bruttoinlandsprodukts (BIP).
Negative Realzinsen und deflationäre Preispolitik können also eingesetzt werden, um die schlagartige Entwertung von überakkumulierten Kapitalanlagen auf längere Zeiträume zu verteilen. Allerdings ist Deflation kein Rezept für Haushaltsstabilität, denn die realen Schuldenkosten steigen weiter.
Die japanische Führung hat schließlich erkannt, dass es nach zwei Jahrzehnten so nicht weitergehen kann. Nur wenige europäische Länder haben genug Zeit, um sich aus eigener Kraft aus ihrem haushaltspolitischen Schlamassel zu befreien. Japan setzt seit Beginn des Jahres 2013 auf eine massive Preisbeschleunigung. Die Bank of Japan soll in etwa das 1,6-Fache der in den kommenden Jahren voraussichtlich begebenen japanischen Staatsanleihen aufkaufen. Das Land will Inflation in Höhe von 2% generieren.
Für Anleger mit nominal niedrigverzinslichen Anleihen ist das katastrophal, denn die voraussichtlichen Realrenditen werden einbrechen. Der Markt hat darauf bereits mit einem Abverkauf japanischer Staatsanleihen reagiert, potenzielle Investoren in japanische Werte wechseln an andere Anleihemärkte. Sofern die Inflationsaussichten steigen, werden auch die Renditen auf japanische Staatsanleihen steigen.
Der Folgeeffekt, eine schleichende Abwärtsbewegung des Wechselkurses, wird als Möglichkeit der Exportausweitung gern mitgenommen. Reagiert die Realwirtschaft auf die höhere Konsumneigung privater Haushalte und die Ausweitung der Exporte, wird auch der Unternehmenssektor wieder Kredite aufnehmen. Die Schlussfolgerung: Inflation nutzt dem Schuldner, nicht dem Gläubiger.
Hauptmotiv für die überraschende Zinssenkung in der Euro-Zone war vor allem die nach wie vor schleppende Kreditvergabe in den Krisenländern. Während hierzulande Unternehmen trotz der niedrigen Zinsen auch deshalb kaum Kredite nutzen, weil sie über reichlich liquide Mittel verfügen und sie Investitionen aus eigener Kraft stemmen können, bremsen in Griechenland, Spanien oder Portugal die im Vergleich zu Deutschland teureren Kredite sowohl Unternehmen als auch Verbraucher.
Zudem halten sich die Banken dort weiter zurück, weil sie immer noch problematische Kredite und Wertpapiere in den Büchern halten. Weil die Zinsen für Staatsanleihen den Rückgang nicht mitgemacht haben, ist in Ländern wie Italien, Spanien und Portugal der so genannte Realzins, also der Zins abzüglich der Inflationsrate, in den letzten Monaten um ein bis zwei Prozentpunkte gestiegen. Mit 4% und mehr liegt er weit oberhalb des Wirtschaftswachstums in diesen Ländern, das weithin sogar negativ ist. Die Schuldentragfähigkeit der Krisenländer verschlechtert sich dadurch erheblich.
Da die Zinsen, die Banken und produzierende Unternehmen eines Landes ihren Gläubigern bieten müssen, in aller Regel oberhalb der für Staatsanleihen liegen, bedeutet der kräftige Rückgang der Inflation für die Wirtschaft, dass deren Zinsbelastung relativ zu den schwach steigenden Erlösen weiter zunimmt. Das große Schreckgespenst der Notenbanken aber ist eine ausgewachsene Deflation, bei der die Preise auf breiter Front und über längere Zeit sinken. Zwar sagt EZB-Chef Draghi: »Wir sehen insgesamt keine Deflation auf uns zukommen.« Aber Griechenland hat schon seit längerem sinkende Preise, weitere Länder sind zuletzt in diesen Bereich abgerutscht.
In Italien sank die Inflationsrate im Oktober trotz einer einprozentigen Mehrwertsteuererhöhung auf 0,7%. Das bedeutet für die Produzenten abzüglich der Mehrwertsteuer sinkende Preise und Erlöse. Italien befinde sich in einer besorgniserregenden »Situation einer Deflation«, klagte der Präsident des Industrie-Verbandes Confindustria. Es sei »ein sehr negatives Zeichen«, dass die Inflationsrate trotz einer Mehrwertsteuererhöhung zurückgehe.
Deflation ist für eine Notenbank so problematisch, weil sie mit ihrer Zinspolitik nichts mehr ausrichten kann, um die Realzinsen zu senken, wie es die schwache Wirtschaftslage eigentlich erfordern würde. Denn negative Leitzinsen durchzusetzen, ist schwierig.
Für Schuldner ist eine Deflation verheerend, weil sie den in Euro festgelegten Schuldendienst aus ihren laufenden Einnahmen begleichen müssen. Wenn die Preise und damit die Einnahmen immer weiter sinken, drückt die Last der Schulden immer schwerer. Unternehmen gehen pleite oder müssen, um sich zu retten, Kosten sparen und Arbeitskräfte entlassen. Das drückt wiederum auf die Nachfrage und die Preise.
Eine Abwärtsspirale kommt in Gang. In Japan dauert die Deflationsphase bereits seit fast zwei Jahrzehnten an. Erst in den letzten Monaten gab es zarte Anzeichen, dass sie zu Ende gehen könnte. Trotz Nullzinsen der Notenbank hat die Regierung beim Versuch, die Deflationskrise durch zusätzliche Staatsausgaben zu überwinden, die mit großem Abstand höchste Staatsschuldenquote unter allen Industrieländern angehäuft.
Die Geldmengenentwicklung ist zurzeit im Euro-Raum sehr schwach, weil die Kreditvergabe durch die Banken trotz des Leitzinses nahe Null immer weiter zurückgeht. In manchen Ländern ist die umlaufende Geldmenge sogar drastisch gesunken. Vor knapp zwei Jahren steuerte die EZB mit der »Dicken Bertha« gegen, als die Geldmenge im gesamten Euro-Raum mehrere Monate rückläufig war. Das waren langfristige Kredite an die Banken von insgesamt knapp einer Bio. Euro. Die von der Notenbank erhoffte Wirkung auf die Kreditvergabe der Geschäftsbanken blieb allerdings sehr kurzfristig. Die Entwicklung der Kredite und der Geldmenge blieb schwach, die Inflationsrate sank von Mitte 2012 an immer weiter.
Was also bewirkt die Absenkung der EZB-Zinsen auf ein Rekordtief? Niedrige Zinsen könnten Kredite verbilligen, die Verbraucher oder Unternehmen aufnehmen, um zu konsumieren oder zu investieren. Dass die aktuelle Zinssenkung diesen Prozess befördert, ist eher unwahrscheinlich. Die Zinssenkung wird wirkungslos verpuffen, weil sich die Kreditvergabe trotz bereits historisch niedriger Zinsen auch in den zurückliegenden Monaten nicht vergrößert hat. Zur reichlich vorhandenen Liquidität kommt noch mehr Liquidität hinzu.
Damit wächst das Risiko, dass das Kapital nicht dort ankommt, wo es eigentlich ankommen soll – in der Realwirtschaft. Solange die europäische und die US-Notenbank aber erkennbar nicht von ihrer expansiven Geldpolitik abrücken und die Regierungen nicht über eine Ausweitung öffentlicher Investitionen sowie eine sozial gerechtere Umverteilungspolitik Verbrauchsimpulse setzen, wird die fragile Konjunkturentwicklung verbunden mit einem übermäßigen Wertpapierboom anhalten.
Die expansive Geldpolitik der wichtigsten Notenbanken der kapitalistischen Hauptländer hat aber auch Folgen für die Wechselkurse. Die Währungsrelationen der Metropolen verschieben sich. Da die Zinsen im Euro-Raum weiter sinken, wird die Bedeutung des Euro-Währungsgebietes gegenüber jenem des japanischen Yen oder dem Dollar-Währungsraum neu justiert werden.
Investoren werden partiell ihre Anlagen umschichten. Das gilt umso mehr, als sich in den USA ein Zurückfahren der expansiven Geldpolitik abzeichnet. Die US-Notenbank hat signalisiert, dass sie die Liquiditätszufuhr in die Finanzmärkte in den nächsten Monaten drosselt. Derzeit kauft sie jeden Monat für 85 Mrd. US-Dollar Staatsanleihen und Hypothekenpapiere.
Aus der Liquiditätsexpansion für die Finanzmärkte und die Banksysteme in den Hauptländern resultiert – von der Gefahr eines Abwertungswettlaufes oder Währungskrieges abgesehen – die Verfestigung einer globalen Liquiditätsschwemme, verbunden mit der Gefahr eines Platzens der aktuellen Vermögensblase.
Die Weltwirtschaft, d.h. die Triade von USA, Japan und Europa, wächst seit der Großen Krise 2007 nur mehr in schleppendem Tempo. Faktisch wäre es angebrachter, von Stagnation zu sprechen. In den letzten Jahren geht ein Großteil der durch niedrige Zinsen ausgelösten Kreditexpansion in die Refinanzierung von Vermögensverlusten. Die seit der großen Krise aufgenommenen Schulden implizieren ein geringeres Wirtschaftswachstum.
Wir haben, global betrachtet, ein hohes Angebot an Sparkapital von natürlichen Personen und von Unternehmen, die Gewinne einbehalten. Dem Sparkapital stehen als Gegenposten die privaten Investitionen und die Staatsschulden gegenüber. Die privaten Investitionen sind seit Jahren nicht ausreichend, um das Sparkapital aufzunehmen.
Die schwache Konjunktur verstärkt diese Tendenz. Wir haben eine Unterauslastung der Kapazitäten, weil die Spartätigkeit so hoch ist und es an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage fehlt, um die Kapazitäten auszulasten. Weil die private Kapitalnachfrage geringer ist als das Kapitalangebot, muss sich der Staat verschulden, um den Kapitalüberschuss aufzunehmen, damit die privaten Haushalte ihre Ersparnisse, wenn auch vielleicht nicht verzinslich, aber doch wenigstens sicher, anlegen können.
Die wichtigen Zentralbanken haben im Kampf gegen die anhaltende Wirtschafts- und Finanzkrise alle die sehr kurzfristigen Leitzinssätze nahe Null gesenkt. Eine Abkehr von dieser expansiven Geldpolitik ist nicht in Sicht. In normalen Zeiten erweist sich jegliche Bemühung einer Zentralbank, die kurzfristigen Zinsen zu lange zu niedrig zu halten, als fatale Weichenstellung.
Wenn das Zinsniveau nahe bei Null liegt, gibt es wenig Probleme bei der Refinanzierung der öffentlichen Schulden. Eine Perpetuierung dieser Politik kann über längere Zeiträume weitergehen, solange das Zinsniveau tief bleibt, die Umschichtung in den Vermögensverhältnisse eher unbeobachtet bleibt und keine Verwerfungen aus der Politik (siehe fiscal cliff in den USA) den fragilen Zustand in Frage stellen. Beunruhigend bleibt die Aufblähung der Bilanzen der Notenbanken der USA, Großbritanniens, Japans und der Euro-Zone. Und beunruhigend bleibt, dass mit dem Nullzinsniveau faktisch das Steuerungszentrum für das Anlage suchende Kapital außer Kraft gesetzt ist.