31. Juli 2017 Otto König/Richard Detje: VW – Zivil-militärische Kollaboration in Zeiten der brasilianischen Militärdiktatur
Der willige Komplize
Volkswagen kommt aus den Schlagzeilen nicht heraus. Diesmal ist der Schauplatz nicht Wolfsburg, sondern Brasilien. Während der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985) ließen die faschistischen Schergen über 20.000 politische Gegner foltern, 3.000 ermorden und über 200 spurlos verschwinden. [1]
VW do Brasil, ein Tochterunternehmen des Wolfsburger Autokonzerns, hat damals bereitwillig mit der Junta zusammengearbeitet: Schwarze Listen wurden erstellt, Gewerkschafter und Linke auf dem Werksgelände bespitzelt und misshandelt. [2] Neue Recherchen haben die nicht aufgearbeitete Geschichte einer Kollaboration – die Verstrickung des größten deutschen Autoproduzenten in die Machenschaften der brasilianischen Militärdiktatur – ans Licht gezerrt.
Neu sind die Vorwürfe nicht: Schon in dem im Dezember 2014 vorgelegten, fast 2.000 Seiten starken Abschlussbericht der Wahrheitskommission (Comissão Nacional da Verdade, CNV), die 2012 von der damaligen Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) eingerichtet worden war, werden nicht nur die massiven Menschenrechtsverletzungen und die Namen der verantwortlichen Militärangehörigen und Polizisten aufgelistet, sondern auch auf deren Zusammenarbeit mit 70 ausländischen, darunter deutschen Konzernen hingewiesen. Laut vorliegender Dokumente haben die Unternehmen regelmäßig an Treffen mit Militär- und Polizeieinheiten der Region São Paulo teilgenommen, auf denen sie sich mit den Sicherheitsorganen über die Planung von Streiks durch die Gewerkschaften sowie über Listen mit Namen oppositioneller Gewerkschafter und Mitgliedern der verbotenen Kommunistischen Partei ausgetauscht haben. [3]
VW do Brasil war von Anfang an für den Wolfsburger Autobauer eine Erfolgsgeschichte. Das erste Tochterunternehmen im Ausland wurde 1959 in São Bernardo, in der Nähe von São Paulo, gegründet. Zum ersten Mal rollte der komplett vor Ort montierte VW-Käfer »Fusca« vom Band. Zehn Jahre später beschäftigte VW in seinem brasilianischen Werk bereits knapp 20.000 Arbeitnehmer. 1964 putschte sich das Militär an die Macht. Im VW-Geschäftsbericht 1964 wurde der Putsch als »eine Konsolidierung der politischen Verhältnisse« und günstiger Standortfaktor gefeiert. Infolge dessen investierte der Konzern im gleichen Jahr Millionen in das neue Werk. Die frühere Provinzstadt São Bernardo entwickelte sich zur Automobilhauptstadt Brasiliens.
Die Militär-Junta setzte auf Wirtschaftswachstum und »innere Ordnung«. Das waren Ziele, die sie mit dem deutschen Autobauer teilte. Kritik an der Militärdiktatur wischte der damalige Vorstandsvorsitzende der Volkswagen AG, Rudolf Leidig, im Jahr 1974 mit rassistischen Argumenten weg: »Die Tatsache, dass hier in Europa gelegentlich Kritik gegenüber dem [brasilianischen] System laut wird, beruht sicherlich darauf, dass man hier nicht die nötige Einsicht und Kenntnis über das Land besitzt. (…) Der Brasilianer besitzt eine andere Mentalität als der Deutsche und Europäer.«
Auch der ehemalige VW-Vorstandsvorsitzende Carl Hahn räumt gegenüber dem Rechercheteam von NDR/SWR und Süddeutscher Zeitung ein, dass für ihn der Putsch kein Anlass zur Kritik gewesen sei: »Ich erinnere mich nicht, dass wir nun mit Tränen in den Augen den Weggang und die Wegspülung der Demokratie etwa beweint hätten.« Schließlich zahlte sich die Komplizenschaft von VW mit den Militärs aus. Der NDR konnte damals die Erfolgsmeldung verbreiten: »VW do Brasil, zurzeit das gewinnbringendste Werk des Wolfsburger Konzerns, ist der größte Autohersteller des Landes. Täglich laufen 1.750 Fahrzeuge vom Band. Von Absatzkrise keine Spur.« (18.3.1975)
An seine Zeit bei Volkswagen erinnert sich auch der Gewerkschafter Lúcio Bellentani. Doch er hat andere Erinnerungen als die Manager. Im September 1964, ein halbes Jahr nach dem Putsch, nahm der 19-Jährige seine Tätigkeit als Werkzeugmacher bei VW do Brasil auf. Acht Jahre später – im Juli 1972 – wurde er auf Nachtschicht im Presswerk von zwei Männern der Geheimpolizei DOPS, in Anwesenheit von drei VW-Werkschützern und dem damaligen Sicherheitschef des Unternehmens, Adhemar Rudge, [4] verhaftet. Die VW-Leute waren auch dabei, als Bellentani in den Räumen der Personalabteilung verhört, geschlagen und getreten wurde. Er wurde ins Folterzentrum der DOPS verschleppt, wo sie ihn acht Monate lang folterten. Sein Vergehen: Gewerkschaftsarbeit und Verteilung von Flugblättern für die kommunistische Partei auf dem Firmengelände Sao Bernardo do Campo.
Mittlerweile befasst sich die brasilianische Justiz mit der Zuarbeit von VW für die Militärdiktatur. Nach der Veröffentlichung des CNV-Abschlussberichts hatte zunächst das brasilianische Menschenrechtskollektiv »Memória, Verdade, Justiça e Reparação« (»Erinnerung, Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung«) am 22. September 2015 mit Unterstützung von zehn brasilianischen Gewerkschaftsverbänden Anzeige gegen den Konzern erstattet. [5] Die Anzeige gegen VW bezieht sich nicht nur nicht nur auf die Bespitzelung Oppositioneller und ihre Auslieferung in die Folterkeller der Militärs, sondern auch auf Vorwürfe, Volkswagen habe – beispielsweise mit dem Bereitstellen von Fahrzeugen – das Folterzentrum OBAN unterstützt.
Ein Team von Staatsanwälten und Gutachtern untersucht, welche Verantwortung Volkswagen do Brasil für »Menschenrechtsverletzungen innerhalb des Werksgeländes zur Zeit der Militärdiktatur« trägt. Zeugenaussagen, vertrauliche Unternehmensakten und Geheimdokumente des Militärregimes ergeben ein deutliches Bild. Zur Kollaboration von Volkswagen mit dem DOPS sagte José Paulo Bonchristiano, Folterer im DOPS, gegenüber den Behörden: »Alles, was wir von Volkswagen haben wollten, haben sie sofort gemacht. Zum Beispiel: Wenn ich nach einem verdächtigen Element gesucht habe, das ich dingfest machen wollte. Dann haben sie mir gesagt, wo ich es finde. Wir waren uns sehr nahe.« [6] Der eingesetzte Gutachter Guaracy Mingardi bezeichnet den VW-Werksschutz als »verlängerten Arm der Politischen Polizei«. Auch der im November 2016 mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragte Historiker Christoper Kopper von der Uni Bielefeld kommt in einer Vorabstellungnahme zu dem Ergebnis, »dass es eine regelmäßige Zusammenarbeit zwischen dem Werksschutz VW do Brasil und dem Polizeiorgan des Regimes gab«.
Aus Dokumenten der Politischen Polizei geht hervor, dass VW nicht nur als Helfer mit dem Militärregime kollaborierte, sondern ein eigenständiger Akteur der Repression – also ein Komplize – war. Die ablehnende Haltung des Unternehmens gegen jede Form von Gewerkschaftsarbeit führte dazu, dass Schwarze Listen über Gewerkschafter und linksgerichtete Beschäftigte angelegt und ein intensiver Informationsaustausch mit dem staatlichen Unterdrückungsapparat praktiziert wurde. Auf dem Firmengelände in Sao Bernardo do Campo entwickelte sich eine Unterabteilung des Werkschutzes zu einem betriebsinternen Geheimdienst, der die Belegschaft ausspionierte. Es ging darum, jegliche Form von Organisation zu unterbinden. In den Akten der DOPS finden sich stapelweise VW-interne Dossiers, die der Werksschutz über kritische Beschäftigte anlegte. Zu den Ausspionierten gehörte auch der damalige Präsident der Metallarbeitergewerkschaft Sindicato dos Metalúrgicos in São Bernardo do Campo und spätere Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva.
Während linke Gewerkschafter bespitzelt und verfolgt wurden, arbeitete der NS-Kriegs-verbrecher und Beteiligte am nationalsozialistischen Euthanasieprogramm »T4«, Franz Stangl, Lagerkommandant der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka, unter seinem Klarnamen acht Jahre lang unbehelligt bis zu seiner Verhaftung am 28. Februar 1967 in der Betriebsinstand-haltung im brasilianischen Werk. 1970 verurteilte ihn das Landgericht Düsseldorf wegen gemeinschaftlichen Mordes an 400.000 Menschen zu lebenslanger Haft (SZ, 28.7.2017).
Wie aus VW-internen Protokollen hervorgeht, war der Mutterkonzern in Wolfsburg spätestens seit 1979 über die Verstrickungen des Tochter-Unternehmens mit der Militärdiktatur informiert. [7] Damals reisten brasilianische VW-Beschäftigte nach Wolfsburg, um Konzernchef Toni Schmücker mit den Vorwürfen zu konfrontieren. Einer von ihnen war der Gewerkschaftsführer Devanir Ribeiro: »Ich habe zu ihm gesagt: Sie leiten doch diese Firma. Warum nimmt man Arbeiter in der Firma fest?« Eine Antwort habe er nie bekommen.
Der Historiker Kopper übermittelte vor wenigen Tagen seinen 125 Seiten starken Abschlussbericht an Volkswagen. Er empfiehlt, dass VW sich entschuldigen sollte. Um dieses Wort »Entschuldigung« kämpft der Metaller und Gewerkschafter Lucio Bellentani seit Jahrzehnten.
[1] Vgl. Otto König/Richard Detje: Die Zeit der Angst ist vorbei. Die Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktaturen in Lateinamerika, in: Sozialismus 6/2015.
[2] Vgl. Dokumentation: Komplizen? VW und die brasilianische Militärdiktatur, von Stefanie Dodt und Thomas Aders, ARD 1. Programm, 24.7.2017.
[3] Comissão Nacional da Verdade: Relatório. Volume II. Textos Temáticos. Brasília, Dezembro 2014. Laut dem Abschlussbericht (Vol. II, S.320) haben Siemens Brasilien und Mercedes Brasilien (neben anderen brasilianischen und transnationalen Konzernen) das Folterzentrum Operação Bandeirantes (Oban) zwischen 1969 und Mitte der 1970er Jahre, dem Höhepunkt des staatlichen Terrors und Folterns in Brasilien, finanziell unterstützt.
[4] Der ehemalige VW-Sicherheitschef und Ex-Oberst Rudge stritt bei seiner Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft Sa Paulo alle Vorwürfe vehement ab. Es habe weder Personenkontrollen noch Überwachung gegeben. Gewerkschaftsmitglieder hätten sich frei auf dem Werksgelände bewegen können. »Niemand wurde je in der Fabrik festgenommen. Das hätte ich gewusst und ich hätte es nicht zugelassen«, so Rudge (Amerika 21).
[5] Vgl. Christian Russau: Ermittlungen gegen VW do Brasil wegen Verstrickung in brasilianische Militärdiktatur ausgeweitet. www.kooperation-brasilien.org, 17.5.2016.
[6] Vgl. Neue Erkenntnisse, VW do Brasil – Komplize der Militärdiktatur? RLS, 25.7.2017.
[7] Die Unterstützung des Volkswagen-Konzerns für die brasilianische Militärdiktatur entsprach der politischen Linie der Bundesregierung und der bundesdeutschen Wirtschaft. Bundesaußenminister Schröder erklärte am 8. Juni 1964 bei einem Treffen mit seinem französischen Amtskollegen, vor dem Putsch habe »die große Gefahr einer kommunistischen Herrschaftsübernahme bestanden«; nach dem Putsch sei die Regierung in Brasilia »von einem starken Reformwillen beherrscht«. In: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland. Herausgegeben im Auftrag des Auswärtigen Amts vom Institut für Zeitgeschichte. München 1995, S. 615-625.