19. September 2011 Horst Arenz / Joachim Bischoff: Zur Berlin-Wahl
Deutliche Signale und bescheidene Lernprozesse
Die herausragenden Ergebnisse der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus sind die desaströse Niederlage der FDP und der kometenhafte Aufstieg der Piratenpartei. Die Freidemokraten haben gegenüber den Wahlen 2006 rund drei Viertel ihrer WählerInnen verloren. Der Absturz auf 1,8% ist für eine etablierte neoliberale Partei einzig artig.
Die FDP, die bei der Wahl 2006 noch 7,6% geholt hatte, ist von dem Großteil der WählerInnen fluchtartig verlassen worden. Bemerkenswert ist dieses Ergebnis auch deshalb, weil die Berliner Landespartei sich im Landtagswahlkampf auch als Euro-kritische Partei profiliert hatte: Wer die kritische Haltung des liberalen Parteichefs Rösler bezüglich weiterer Griechenland-Hilfen unterstützen wolle, müsse in Berlin FDP wählen.
Sieben Landtagswahlen gab es in diesem Jahr, fünf Mal sind die Liberalen an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Dazu verloren sie in ihrem Stammland Baden-Württemberg die Regierungsbeteiligung. Der FDP-Generalsekretär Lindner kommentiert die Berliner politische Pleite zurecht als Tiefpunkt. Gleichwohl will trotz kritischer FDP-Stimmen die Führungscrew der FDP den Konfrontationskurs fortsetzen und setzt auf die Affinität zu rechtspolitischen Stimmungen.
Die Piraten sind der Überraschungssieger bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl: Mit fast 9% (130.000 Stimmen) ziehen sie erstmals in ein deutsches Landesparlament ein. Keine Frage: der kreative Stil des Wahlkampfes, das klare Plädoyer für einen neuen Politikstil und eine Erneuerung der politischen Kultur haben gewirkt. Ohne den Erfolg der Piraten hätte es auch nicht die leichte Verbesserung in der Wahlbeteiligung gegeben. Der neue politische Faktor verdankt sein sensationelles Abschneiden überwiegend der Unzufriedenheit der WählerInnen mit den etablierten Parteien. Dazu passen die weiteren von den Piraten vertretenen wichtigen Themen wie kostenloser öffentlicher Personennahverkehr, Mietenstopp und die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Der Berliner Politikwissenschaftler Gero Neugebauer hält den Erfolg der Piratenpartei für ein „spezifisches Berliner Produkt“. Bereits bei der Bundestagswahl 2009 habe die Partei in der Hauptstadt gute Ergebnisse erzielt. „Sie ist eine großstädtische Gruppierung“. Bei der Arbeit im Parlament werde die Piratenpartei voraussichtlich Probleme bekommen, da sie sich bisher nur einzelnen Themen angenommen habe. „Es kann aber auch sein, dass sie die Sache aussitzen und sich auf ihre Außenseiterrolle konzentrieren." Es sei nicht sicher, ob die Partei durch die politische Praxis entzaubert werde.
Die SPD bleibt mit Verlusten stärkste Partei, was überwiegend der Reputation des Bürgermeister Wowereit zugeschrieben wird. In ersten Wahlanalysen wird auf die wirtschafts- und gesellschaftspolitisch kärgliche Bilanz von Rot-Rot (Wirtschaft, Arbeitslosigkeit, städtische Infrastruktur und soziale Spaltung) hingewiesen. Obwohl die SPD mit ihrer Politik nur partiell überzeugen konnte, hat sie gegenüber einer heterogenen und schwachen Konkurrenz am besten abgeschnitten. Wowereit punktet mit Sympathie und Bürgernähe. Für 59% der Wahlbevölkerung passt er am besten zu Berlin.
Die Grünen haben eine Million Euro in den Berliner Wahlkampf investiert. Gleichwohl ist die angestrebte Wiederholung des Wahlsieges in Baden-Württemberg ausgeblieben. Die Grünen kämpften für einen Politikwechsel: 400 zusätzliche Lehrerinnen und Lehrer, wirksamen Mieterschutz und zukunftsfähige Arbeitsplätze in den neuen Technologien werde es nur mit den Grünen geben. Der Verlängerung der Stadtautobahn A 100 werde man nicht zustimmen. Wir werden sehen, was bei einer möglichen Koalition mit der SPD aus den Themen des Politikwechsels wird.
Die Linke gehört eindeutig zu den Wahlverlieren. In acht Jahren Regierungspraxis hat sich die Wählerschaft der LINKEN in Berlin halbiert. Das wirft Fragen nach den Gründen auf. Harald Wolf präsentierte am Wahlabend drei Erklärungen für die Niederlage: es habe keinen Rückenwind von Bundesebene gegeben, der Wahlkampf sei von einer Themenarmut dominiert worden, die wenig Möglichkeiten zur Profilierung geboten hätte. Wolf spricht aber auch eine tiefer liegende Ursache an. Der Erfolg der Piratenpartei sei Ausdruck des Wunsches nach mehr Transparenz der Politik und mehr Bürgerbeteiligung.
Grüne, SPD und Linke haben annähernd gleich hohe Verluste in Richtung Piraten (13.000-16.000). 40.000 Piratenstimmen kamen aus dem NichtwählerInnenbereich. Dies hat vielschichtige Ursachen, aber im Kern dreht es sich um ein Grundproblem: um die seit Jahren wachsende Distanz der Wählerschaft gegenüber den Parteien. Die Parteien sind in der Krise und ihr Ansehen im Kontext einer verstaubten politischen Kultur liegt offen zutage. Der Erfolg der Piraten ist Ausdruck dieser Krise. Dafür gibt es vor allem vier Gründe: Versagen der Politik bei der Lösung der dringendsten Probleme(eklatant im Umgang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise), zunehmende Hoffnungslosigkeit in Bezug auf Veränderung, vor allem in den unteren Einkommensschichten, zugleich aber neue Ansprüche mit Blick auf mehr Transparenz der Politik und Teilhabe an Entscheidungen, die das Alltagsleben der Menschen betreffen. Letzteres wurde sichtbar an Stuttgart 21, in Berlin an der hohen Beteiligung am Bürgerbegehren zur Offenlegung der Wasserverträge.
Auch DIE LINKE in Berlin hat es nicht verstanden, auf diese Entwicklungen überzeugende Antworten zu geben. Dafür einige Beispiele:
Berliner Wassertisch: So stand die Partei stand eher auf der Bremse, als es um die Unterstützung des Berliner Wassertisches ging. Parteigliederungen wurden unter Druck gesetzt, sich an der Unterschriftenaktion nicht zu beteiligen. Der Parteivorsitzender Lederer drohte dem Wassertisch gar mit Klage. Nach Bekanntwerden des großen Erfolgs der Aktion mit 660.000 Unterschriften schwenkte die Parteiführung auf Unterstützung um. Insgesamt bleibt mangels kritischer Reflexion eine Beschädigung der eigenen Glaubwürdigkeit.
Die Mietenfrage: Zweites, besonders anschauliches Beispiel: Wohnungspolitik und Mietentwicklung schälten sich im Verlauf des Wahlkampfs als das zentralen Thema heraus. Explosion und immer ungleichere Verteilung der Vermögen, Trend zu kleinen Haushalten, Zuzug begüterterer Einkommensschichten in „Boomtown Berlin“, nicht zu vergessen die Finanz- und Eurokrise mit der Flucht in den „sicheren Hafen Immobilienmärkte“ lassen die Mieten nicht erst seit 2007 zum Problem werden.
Schon seit 2001 sind Berliner Altbaumieten deutlich stärker gestiegen als in allen anderen deutschen Großstädten. Zugleich wächst mit Hartz IV die Armut. Bei der Einkommensentwicklung bewegt sich Berlin am unteren Rand, ausschlaggebend ist nicht die Miethöhe, sondern ihr Verhältnis zum Einkommen. Die Suche nach preiswerten Wohnungen steigt entsprechend. Zugleich sinkt das Angebot, nicht zuletzt durch drastische Kontraktion des sozialen Wohnungsbaus.
DIE LINKE hat die dynamische Entwicklung im Wohnungsbereich unterschätzt. Noch 2008 war Wohnungspolitik kein Thema. Bei innerparteilichen Beratungen 2009 steht der sich aufbauende Wohnungsmangel erstmalig auf der Tagesordnung. Allerdings dominieren in klassischer Verschiebung der Verantwortung Forderungen an den Bund (Mietrecht) – abgesehen von Forderungen nach höheren Mietzuschüssen für Hartz IV-Haushalte („AV-Wohnen“) und vorsichtigen Aussagen zur Politik der kommunalen Wohnungsbaugesellschaften. Erst in dem im Frühjahr 2011 beschlossenen Wahlprogramm konnte – nicht zuletzt auf Druck der Parteigliederungen – ein wohnungspolitisches Profil durchgesetzt werden, allerdings, weil nur auf dem Papier und zu spät, nur mit geringer Resonanz in der Öffentlichkeit.
Forderungen an die Landesebene wurden erstens nicht gegen das SPD-geführte Ressort öffentlich eingebracht und dann auch nicht durch Kampagnen öffentlich gemacht. Konflikte mit der SPD wurden erst eine Woche vor der Wahl nach außen getragen. Konkrete Angriffspunkte gegen Ressort-Chefin Junge-Reyer gab es zuhauf. Die von der SPD verfochtene Wohnungspolitik lässt sich an Beispielen illustrieren: Blockierung einer Rechtsverordnung zur Genehmigungspflicht von Umwandlungen in Eigentumswohnungen im Milieuschutz, Verweigerung der Novellierung der Zweckentfremdungsverbots-Verordnung bei Ferienwohnungen, Rendite-Orientierung der Wohnungsbaugesellschaften und des Liegenschaftsfonds, fehlendes Konzept zur Kompensation von Mietsteigerungen bis zu 200% und mehr bei Wegfall der Anschlussförderung im „Wohnraum-Gesetz Berlin“, oder die jahrelang betriebenen Freistellung der Belegungsbindungen von Sozialwohnungen.
In allen Punkten hat DIE LINKE in Koalitionsräson und bzw. in der Hoffnung auf ein künftiges Regierungsbündnis den öffentlichen Konflikt mit der SPD gescheut. Viel zu spät, nämlich erst in den letzten zwei, drei Wochen des Wahlkampfs war die Verantwortung der SPD ein Thema. Entsprechend wirkte auch das großflächige Plakat „Mieter vor Wild-West schützen“ wenig glaubwürdig. Der Versuch, die Mietenfrage im Wahlkampf nach dem Motto "Wir sehen da kein Problem" totschweigen zu wollen, hätte fatal geendet. Die Partei hatte keine andere Wahl, als sich dem Hauptwahlkampfthema zu stellen. Den Konflikt mit der SPD aber nur im Hinterzimmer des Senats zu lösen bzw. erst im letzten Moment aufzutischen, musste von den Menschen als „typisch Parteien“ abgetan werden und war Wasser auf die Mühlen der Piraten.
Mobilisierungsschwächen: Auch in einem dritten Punkt wird die Unterschätzung der Abwendung breiter Bevölkerungsteile von den Parteien durch DIE LINKE sichtbar. Die innerparteiliche Willensbildung und Debattenkultur ist dominiert von einer top-down-Kultur. Die Einbeziehung der Parteibasis bei der Diskussion des Wahlprogramms war schwach, die Mitte Februar hierzu organisierte Wahlkonferenz eine Farce und ihre Folgen für das Programm gleich Null. Der Parteivorstand war abgesehen von seinem Vorsitzenden in der Öffentlichkeit nicht präsent. Er hat es nicht verstanden, in der Partei eine Debatte über strategisch-konzeptionelle Fragen zu initiieren.
Ohne Zweifel hat der Landesverband ein Problem, der dazu notwendigen Pluralität in der Partei und in der Abgeordnetenhausfraktion den gebührenden Raum zu geben. Eine gewisse Verselbständigung der Partei- und Fraktionsspitze bzw. der Senatsmitglieder gegen Partei und Fraktion ist unübersehbar. Darin liegt eine der Ursachen für die relativ schwache, je nach Bezirk allerdings unterschiedliche Mobilisierungs- und Kampagnenfähigkeit. So wichtig Gespräche des hochschulpolitischen Sprechers Wolfgang Albers mit dem zuständigen SPD-Senator zu den Forderungen des Personals der ausgegliederten Charité-Tochter CFM auch sind: Wenn die Belegschaft, die in tariflosem Zustand und im Sicherheitsbereich zu 5,55 Euro Stundenlohn arbeiten, von den Inhalten nichts erfährt, muss man sich über ihren Streik kurz vor der Wahl nicht wundern.
So richtig gegen fundamentalistische Auffassungen der Bezug auf den faktischen Stand des Alltagsbewusstseins und die Orientierung auf Reformpolitik unter den konkreten Berliner Bedingungen waren, so defizitär war die Umsetzung in konkrete Politik, in innerparteiliche Strukturen und in die Symbolisierung im Wahlkampf. In der Stadt gab es ein Bedürfnis nach ein politischem und kulturellem Wandel, aber eben ohne einen Verzicht auf Wowereit. Also zahlte die Linke die Zeche für den bestehenden Überdruss an Rot-Rot. Radikale und transparente Reformpolitik, Anknüpfung an das Alltagsbewusstsein sehen anders aus. Hier hat der Landesverband Nachholbedarf.
DIE LINKE hat sich in den vergangenen Wochen auf sich selbst konzentriert, auf ihre Kernthemen und ihre Hochburgen im Osten der Stadt. Im Osten, wo die Linke auf über 30% kommen müsste, um in ganz Berlin ein akzeptables Resultat zu verbuchen, hat die Partei zuletzt wieder Boden gut gemacht, erreichte aber dennoch nur 22%. Hier wurden rund 17.000 Stimmen verloren, während in den Westbezirken auf dem niedrigen Niveau von 4,5% immerhin ein paar tausend neue WählerInnen gewonnen werden konnten.
Vor drei Wochen sah es so aus, als ob die Partei kaum noch Direktmandate gewinnen würde und in vielen Wahlkreisen, vor allem in Lichtenberg, der Konkurrenz von der SPD den Vortritt lassen müsste. Die Partei hat den Eindruck vermittelt, dass sie zwar gern weiter regieren würde, aber es ihr auch nicht gegen den Strich ginge, wieder in ihr eigentliches Geschäft in der Opposition einzusteigen Der Parteivorsitzende Lederer sprach in einer ersten Kommentierung der Ergebnisse von der Notwendigkeit einer "Neuerfindung" der Partei. Ein anspruchsvolles, aber richtiges Programm. DIE LINKE ist dringlich aufgefordert, das jetzt abgeschlossene Wahljahr selbstkritisch zu bilanzieren.