23. Juni 2020 Joachim Bischoff
Deutsche Wirtschaft ohne Aussicht auf eine rasche Erholung
Die Prognosen über die deutsche Wirtschaftsleistung im Jahr 2020 werden mit Verlauf der pandemiebedingten Krise nüchterner. Der anfängliche Optimismus der meisten Wirtschaftsexpert*innen verfliegt. Dem markanten Absturz in der wirtschaftlichen Leistung folgt kein zügiger Aufschwung.
Durch den »Lockdown« und die zeitweilige Blockierung der globalen Wertschöpfungsketten fällt der Absturz der deutschen Wirtschaft und der Weltwirtschaft heftiger aus als im Frühjahr 2020 erwartet. Die Wirtschaftsweisen rechnen für 2020 insgesamt mit einer schweren Rezession in Deutschland. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) könne in diesem Jahr um 6,5% schrumpfen. Ab Jahresmitte könne mit einer wieder anziehenden Konjunktur gerechnet werden. »Die Corona-Pandemie wird voraussichtlich den stärksten Einbruch der deutschen Wirtschaft seit Bestehen der Bundesrepublik verursachen«, sagte der Vorsitzende des Sachverständigenrates, Lars Feld. »Wir erwarten, dass jedoch ab dem Sommer eine Erholung einsetzt.« Das BIP werde 2021 um 4,9% steigen. »Damit dürfte das BIP frühestens im Jahr 2022 wieder auf dem Niveau von vor der Pandemie liegen.«
Die Arbeitslosenquote werde in den kommenden Monaten weiter steigen und wohl erst im Jahresverlauf 2021 langsam wieder zurückgehen. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen dürfte im Jahresschnitt 2020 bei knapp 2,72 Mio. liegen, nach 2,27 Mio. im vorigen Jahr. Die Ausrüstungsinvestitionen brechen laut Sachverständigenrat in diesem Jahr um gut 19% ein, und die Verbraucher*innen dürften 5,5% weniger ausgeben. Zudem bremse das schlechte außenwirtschaftliche Umfeld die deutschen Exporte deutlich: Die Ausfuhren dürften 2020 um 14,5% schrumpfen.
»Die globale Ausbreitung des Corona-Virus hat zu einer tiefen Rezession der Weltwirtschaft geführt«, argumentieren die Wirtschaftsweisen. Für die Wirtschaft im gesamten Euro-Raum rechnet der Sachverständigenrat mit einem Einbruch von 8,5% in diesem Jahr und für 2021 mit 6,2% Wachstum. Dabei dürften sich die Stützungsmaßnahmen und beschlossenen wirtschaftspolitischen Konjunkturimpulse in Deutschland und bei wichtigen Handelspartnern positiv auswirken.
Die Wirtschaftsexpert*innen betonten aber, dass der Ausblick für die weitere wirtschaftliche Entwicklung extrem unsicher bleibe. Viel hänge vom Verlauf der Virus-Pandemie ab. »Sollte es nicht gelingen, die Anzahl der Neuinfektionen etwa durch Smart Distancing gering zu halten, den Lockerungskurs fortzusetzen und die Unsicherheit der Unternehmen und Haushalte zu senken, ist mit einer deutlich länger anhaltenden Schwächephase zu rechnen.«
Die Industrieproduktion sackte auf den tiefsten Stand seit über 20 Jahren, die Exportwirtschaft schrieb im April Horrorzahlen. Der Inlandstourismus kam zeitweise fast komplett zum Erliegen, das Gastgewerbe kämpft nach Einschätzung des Branchenverbandes Dehoga ums Überleben. Etliche Ökonom*innen rechnen daher für das Gesamtjahr mit einem deutlichen Anstieg der Firmenpleiten.
Der Vorsitzende des Sachverständigenrats, Lars Feld, hatte schon Ende Mai eine Überarbeitung der Prognose angekündigt. »Der Lockdown hat länger gedauert, und die Außenwirtschaft wird härter getroffen als erwartet. Vor allem im Hinblick auf die USA waren wir deutlich zu optimistisch«, sagte der Wirtschaftsexperte. Bei aller Unsicherheit vor allem über die Erholung in der EU und der Globalökonomie: Sicher ist, dass Deutschland auf die schwerste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg zusteuert.
Dieser Zielkorridor hat sich verallgemeinert: Die Bundesregierung erwartet für das laufende Jahr 6,3% Rückgang der Wirtschaftsleistung, die Bundesbank rechnet mit minus 7,1%, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) ging Mitte Mai gar von »mindestens zehn Prozent« Minus aus. In der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise 2009 war das deutsche BIP um 5,7% zurückgegangen. Das DIW Berlin sieht die Entwicklung weiter weniger optimistisch und prognostiziert für das laufende Jahr einen BIP-Einbruch um 9,4%.
Im ersten Quartal 2020 schrumpfte die Wirtschaftsleistung nach Daten des Statistischen Bundesamtes zum Vorquartal um 2,2% – obwohl in dem Drei-Monats-Zeitraum von den Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus im Grunde nur der März betroffen war. Und die Erwartungen für das zweite Quartal sind düster – auch wenn mittlerweile etliche Einschränkungen wieder gelockert wurden. Die Bundesbank konstatiert: »Insgesamt könnte die Wirtschaftsleistung im Durchschnitt des laufenden Vierteljahres um beinahe ein Zehntel und damit noch erheblich stärker zurückgehen als im ersten Quartal.«
Die Mehrzahl der Expert*innen sind zuversichtlich, dass die deutsche Wirtschaft bereits im kommenden Jahr auf den Wachstumspfad zurückkehren wird – auch, weil der Staat Rettungspakete in historischem Umfang geschnürt hat. 130 Mrd. Euro schwer ist das neue staatliche Recovery-Programm, auf dass sich die schwarz-roten Koalition verständigt hat. Die Mehrwertsteuer soll vorübergehend gesenkt werden, zudem gibt es u.a. Finanzspritzen für Familien und Kommunen sowie eine höhere Kaufprämie für Elektroautos und Fördermaßnahmen wie für den grünen Sauerstoff zur Sicherung des technologischen Strukturwandels. Der konjunkturelle Tiefpunkt sei erreicht, stellte das Bundeswirtschaftsministerium vor zwei Wochen fest: »Mit der schrittweisen Lockerung der Schutzmaßnahmen und der Wiederaufnahme der Produktion in der Automobilindustrie setzt nun die wirtschaftliche Erholung ein.«
Wirtschaftsminister Peter Altmaier und die Bundesregierung sind zuversichtlich, dass Deutschland die Corona-Krise langfristig gut meistern wird. Es zeigten sich erste »Silberstreifen am Horizont«, sagte der CDU-Politiker. »Wir tun alles, damit es ab dem letzten Quartal 2020 eine Trendumkehr geben wird.« Es werde aber aller Voraussicht nach noch bis ins Jahr 2022 dauern, »bis wir die Verluste kompensiert und die alte wirtschaftliche Stärke erreicht haben«.
Dagegen betonen die Wirtschaftsweisen die große Unsicherheit in der Beurteilung der weiteren Entwicklung. Sollte es nicht gelingen, die Anzahl der Neuinfektionen gering zu halten, den Lockerungskurs fortzusetzen und die Unsicherheit von Unternehmen und Haushalten zu senken, sei mit einer deutlich länger anhaltenden Schwächephase zu rechnen, betonen sie. Entscheidend für die anfängliche Unterschätzung des Ausmaßes der Krise war, dass sich die Pandemie weltweit stärker ausgebreitet habe als zunächst erwartet. Belastet wird die exportorientierte deutsche Volkswirtschaft weiterhin durch das schlechte außenwirtschaftliche Umfeld, das die Ausfuhren beeinträchtigt. Die langjährige Ausrichtung der deutschen Ökonomie auf den Export wird angesichts der massiven Verschlechterung der Globalökonomie zum zentralen Hindernis für die Rekonstruktion. Diese strukturelle Schwäche kann durch nationale Anti-Krisenprogramme nicht kompensiert werden. Über einen zügigen Erholungsprozess wird also auch das europäische Wiederaufbauprogramm entschieden.
Angesichts der rezessionsbedingten Steuerausfälle sowie der zusätzlichen Kosten für die Corona-Hilfen und das Konjunkturpaket gehen die Wirtschaftsweisen von einem Staatsdefizit von 6% des BIP im laufenden und 3,9% im nächsten Jahr aus. Die staatliche Bruttoverschuldung dürfte von 59,8% des BIP im letzten auf 75,2% im laufenden Jahr klettern. Die öffentlichen Schulden sind tragbar, aber sie sind doch so hoch, dass sich Staaten und Firmen nur refinanzieren können, wenn die Zinsen an der Nulllinie bleiben. Dafür müssen die Notenbanken sorgen, indem sie Anleihen kaufen und so deren Kurse beflügelt und Zinsen drückt. Langfristig kommen die Notenbanken aus dieser politischen Linie nicht heraus.
Der europäische Wiederaufbauplan
Die Prognosen der Wirtschaftsweisen bewegen sich im selben Korridor wie die Einschätzungen der Ökonom*innen der EZB. Gemäß den Einschätzungen der EZB ist in ihrem Basisszenario für die Eurozone davon auszugehen, dass das reale BIP im Jahr 2020 um 8,7% einbrechen wird, sich aber in den kommenden beiden Jahren dann um starke 5,2 und 3,3% erholen wird. Für die Inflation im Euro-Raum gemessen an den harmonisierten Konsumentenpreisen, die im Mai nur noch 0,1 nach 0,3% im April betragen hat, erwarten die EZB-Ökonom*innen für die Jahre 2020 bis 2022 Werte von 0,3, 0,8 und 1,3%. Damit würde die Teuerung im Euro-Raum auch in zweieinhalb Jahren noch deutlich unter dem selbstgesetzten Ziel der EZB von knapp unter 2% notieren. Dies gibt den Notenbanken weiterhin viel Spielraum, das Gaspedal geldpolitisch voll durchzutreten.
Auch die EU-Kommission will im Kampf gegen die massive Wirtschaftskrise nicht zurückstehen. Und die Entwicklung in Deutschland wird von einem konzentrierten Handeln in Europa stark beeinflusst. Neben der EZB geht es um einen europäischen Wiederaufbauplan. Dass von den 750 Mrd. Euro, die die Kommission für einen Wiederaufbauplan mobilisieren will, eine halbe Billion als nicht rückzahlbare Zuwendung an die von der Pandemie am schwersten getroffenen Länder fließen soll, ist ein Novum. Noch nie in der Geschichte der Staatengemeinschaft wurden Kredite in dieser Größenordnung am Kapitalmarkt aufgenommen. Die Verträge über die Arbeitsweise der EU verbieten die Kreditfinanzierung sogar ausdrücklich. Sollten Schulden dennoch aufgenommen werden, müssten sie, wie die Kommission beteuert, an strenge Bedingungen geknüpft sein, etwa zeitlich befristet sein und nicht der allgemeinen Staatsfinanzierung dienen.
Die Skeptiker*innen einer solchen Verschuldungsmöglichkeit wird das allerdings kaum überzeugen. So wollen die »sparsamen Vier«, die Länder Österreich, Niederlande, Dänemark und Schweden, als Kredit aufgenommenes Geld auch nur als Kredite verteilen. Ob sie sich damit zufriedengeben, dass mindestens ein Teil der Milliarden von den Empfängerländern zurückgezahlt werden soll, und die Kommission bei der Mittelvergabe eine strikte Überwachung verspricht, ist fraglich. Die Sorge vor einer »Schuldenunion durch die Hintertür« ist groß. Auch bei jenen, die richtigerweise ahnen, dass die Rettungsmechanismen der vergangenen Jahre die wirtschaftlichen Gebrechen einiger Staaten und ihre wachsenden Staatsschulden nicht kuriert haben.
Sollten die EU-Hilfen zudem mit Kriterien der Rechtsstaatlichkeit verknüpft werden, wie dies aus guten Gründen weite Teile des Europaparlaments fordern, ist Widerstand gegen von der Leyens Plan auch von einigen ostmitteleuropäischen Staaten zu erwarten. Sie fürchten ohnehin, benachteiligt zu werden, wenn das Corona-Geld vor allem nach Italien, Spanien oder Frankreich fließt. Nicht nur die Rekonstruktion in Deutschland hängt von einem positiven Verlauf in Europa ab. Die Notenbanken werden ihre Leitzinsen noch sehr lange bei 0% – oder darunter – halten, weil sonst viele Staaten unter der Last ihrer Zinsschulden kollabieren würden. Sie sind damit auf dem finanz- und wirtschaftspolitischem Terrain aktiv.
Die Corona-Krise hat diese fiskalische Dominanz verstärkt. Die Geldpolitik, die ihr Augenmerk eigentlich primär auf die Preisstabilität richten müsste, kümmert sich zusehends um die Stabilisierung der Staatsfinanzen. In einer idealen Welt existiert eine klare Trennlinie zwischen der Geld- und der Finanzpolitik. Die Notenbanken und die Regierungen fällen ihre Entscheidungen unabhängig voneinander. Von einer idealen Welt kann aber schon lange keine Rede mehr sein, entsprechend wird die Trennlinie immer verschwommener. Die Notenbanken stehen unter dem Druck, die Renditen für Staatsanleihen möglichst lange sehr tief zu halten und – direkt oder indirekt – zur Finanzierung der öffentlichen Ausgaben beizutragen.