30. August 2016 Otto König / Richard Detje: Das Bundeswehr Weißbuch 2016
Die Aktualität des Antikriegstages
Am 31. Mai 2010 trat Horst Köhler überraschend vom Amt des Bundespräsidenten zurück. Zuvor war er in der Öffentlichkeit für seine Äußerung in einem Hörfunk-Interview, dass »im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege«, scharf kritisiert worden. Sechs Jahre später findet die kritisierte Sichtweise zustimmenden Eingang ins Weißbuch 2016 zur »Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr«.[1]
Die Bundesrepublik sei »ein wirtschaftlich starkes Land«, das jedoch perspektivisch seine Stellung als weltweit viertgrößte Wirtschaftsmacht einbüßen werde. Es komme daher »auf gesicherte Versorgungswege, stabile Märkte sowie funktionierende Informations- und Kommunikationssysteme« an. Angesichts seiner Verwundbarkeit stehe Deutschland in der Verantwortung als zentraler Akteur in Europa mit wirtschaftlicher, politischer und militärischer Bedeutung »die globale Ordnung aktiv mitzugestalten«.
Es war Bundespräsident Joachim Gauck vorbehalten, die Neuausrichtung der deutschen Sicherheitspolitik vorzubereiten. Gemeinsam mit Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hatte er auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 gefordert, Deutschland müsse mehr Verantwortung in der Welt übernehmen – »auch militärisch«.[2]
Letztlich wird unter dem Label Weißbuch der »Münchener-Konsens« festgeschrieben: Die »weltweite Verantwortung Deutschlands« benötige Instrumentarien, die von diplomatischen und entwicklungspolitischen Maßnahmen über Sanktionen und Ertüchtigung bis zum »robusten Einsatz« reicht. Im Kern geht es um die Fortsetzung des besorgniserregenden Kurses, den man als Rückkehr zur Militarisierung des sicherheitspolitischen Denkens und Handelns in Deutschland bezeichnen kann.
Das Weißbuch soll Auskunft darüber geben, wo die Bundesregierung ihre Handlungsfelder sieht und mit welchen Maßnahmen sie ihre Interessen zu erfüllen gedenkt. Dazu gehört auch die kräftige Rolle rückwärts zum Thema »Verhältnis zu Russland«. Galt bei der Veröffentlichung des letzten Weißbuchs im Jahr 2006 die Russische Föderation noch als enger Partner, heißt es nun, Moskau stelle »die europäische Friedensordnung offen infrage«, wende sich von einer engen Partnerschaft mit dem Westen ab und betone eine »strategische Rivalität«.
So stellen die Autoren des Weißbuchs fest, das Vorgehen auf der Krim und im Osten der Ukraine belege, dass die russische Führung unter Putin bereit sei, ihre Interessen gewaltsam durchzusetzen und die europäische Friedensordnung in Frage zu stellen. Die Expansionspolitik von EU und NATO mit ihren unterliegenden ökonomischen, geostrategischen und militärischen Interessen wird ausgeklammert.
In der Logik der Weißbuch-Verfasser steht deshalb auch keine neue Sicherheitsarchitektur für Europa unter Einbeziehung Russlands auf der Agenda, sondern die »konsequente Einhaltung« der bewährten Regeln und Prinzipien des Nato-Doppelansatzes: »glaubwürdige Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit und Bereitschaft zum Dialog«.
Die Breite der im Weißbuch aufgeführten »Bedrohungen«, die von Terrorismus, Cyberangriffen, fragilen Staaten bis zu Migration und Klimawandel reichen, sollen zum einen deutlich machen, dass die Bundeswehr mit einer weiter zunehmende Zahl von Auslandseinsätzen fertig werden muss und hierfür die erforderlichen Ressourcen benötigt. Zum anderen wird auf das innenpolitische Terrain abgehoben. Im Unterkapitel »Einsatz und Leistungen der Bundeswehr im Innern« wird der Einsatz bei »Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen« hervorgehoben. Vorsichtig nähert sich der Text dem eigentlichen Ziel: »Das Vorliegen eines besonders schweren Unglücksfalls kommt auch bei terroristischen Großlagen in Betracht«.
Ein grundlegendes Bekenntnis zum Einsatz der Armee im Innern, wie es viele Konservative wünschen, wurde im Weißbuch jedoch nicht aufgenommen. Allerdings wird klargestellt, dass die Bundesregierung den Einsatz von Soldaten bei »terroristischen Großlagen« für verfassungskonform hält. Die nach der Wiederbewaffnung Deutschlands 1955 ins Grundgesetz eingeführte Trennung von zivilen und militärischen Aufgaben wird schrittweise aufgeweicht. So erklärte die Oberbefehlshaberin der Bundeswehr, Ursula von der Leyen, in Bild: »Im Ernstfall müssen die Alarmketten stehen, die Zuständigkeiten klar sein und genug Personal zur Verfügung stehen.«
Um die zunehmenden Aufgaben in den verschiedenen Einsatzgebieten im Äußeren und Inneren (Mehrrollenfähigkeit) bewältigen zu können, soll die Bundeswehr mit »besserer Ausrüstung und mehr Personal« ausgestattet werden. Die Bundeswehr soll in der ganzen Breite aufgestellt sein: zu Land, zu Luft und zu Wasser, im Cyber- und Weltraum. Langfristig soll der Verteidigungshaushalt auf die von der NATO angeregten 2% des BIP angehoben werden, er liegt derzeit bei 1,4%.
So war Anfang des Jahres unter der Überschrift »Milliarden-Investitionen in den kommenden Jahren« auf der Website des Verteidigungsministeriums zu lesen, die Ministerin setze »sich dafür ein, die Ausgaben für die Ausrüstung der Streitkräfte (..) in den kommenden 15 Jahren um insgesamt rund 130 Milliarden Euro« zu erhöhen, »um eine flexible Funktionserfüllung gewährleisten zu können«. Die Planung sei nicht mehr, »wie in früheren Jahren, an sinkenden Verteidigungsausgaben orientiert, sondern an steigenden«. Die Bundeswehr solle bis 2030 vor allem bei Großgeräten wie zusätzlichen Spähpanzern, Panzerhaubitzen, Marine-Hubschraubern, Transport-Hubschraubern und Schiffen aufrüsten.
Darüber hinaus wird im Weißbuch die Entwicklung der heimischen Rüstungsindustrie als ein strategisches Ziel definiert. Es geht nicht nur um die Sicherstellung technologischer Grundlagenforschung und wehrtechnisch-industriellen Kompetenzen, sondern auch darum, der Industrie mit Aufträgen und Hilfestellungen beim Export beiseite zu stehen.
Eine der größten Gefahren für den Weltfrieden – der neue nukleare Rüstungswettlauf – wird in dem Text nicht thematisiert. Er beschränkt sich auf das Bekenntnis zur NATO als ein »nukleares Bündnis«: Deutschland bleibe »über die nukleare Teilhabe in die Nuklearpolitik und die diesbezüglichen Planungen der Allianz eingebunden.« Auch kein Wort findet sich über die Modernisierung der amerikanischen Atomwaffen im rheinland-pfälzischen Büchel.
Bedrohungsszenarien, wie sie das Weißbuch 2016 an die Wand malt, sollen die Bereitschaft fördern, der massiven Erhöhung des Rüstungsetat zuzustimmen und bei der Lösung der Rekrutierungsprobleme der Bundeswehr helfen. »Wer noch glaubt, dass mit militärischer Technik ein friedliches Leben zu sichern ist, stürzt sich und andere in den nächsten Konflikt«, schreibt Andreas Seibert in der IMI-Analyse (2016/33).
Ihre Schlussfolgerung: »Das Anhäufen von Arsenalen und die modernste Kriegstechnologie werden die Ursachen der Konflikte, die zu den ›Bedrohungen‹ führen, nicht beseitigen – sie sind heute nicht einmal mehr geeignet, sie auf Abstand zu halten. ›Lösungen‹ sind nur in einer konsequent zivil gedachten Bearbeitung zu finden«. Gründe genug, auch in diesem Jahr den 1. September, an dem 1939 der faschistische Angriff auf Polen stattfand, als Antikriegstag zu begehen.
[1] Vorstellung des Weißbuches durch Verteidigungsministerin von der Leyen am 13.7.2016 www.bmvg.de
[2] Vgl. Otto König/Richard Detje: Gauck fordert Ende der »Zurückhaltung«: »Zu den Waffen greifen«, SozialismusAktuell 22.6.2014.