26. August 2025 Zarah Sultana im Interview mit Oliver Eagleton
Die Alternative: »The Left«
Zarah Sultana zählt zu den bekanntesten sozialistischen Politikerinnen Großbritanniens. Sie wurde 1993 in Birmingham geboren, engagierte sich zunächst in der Studierendenbewegung und später in der Corbyn-Bewegung. Sie war Mitglied des Vorstands von Young Labour, arbeitete als Community-Organisatorin für die Labour Party und kandidierte 2019 für das Unterhaus.
Dort vertritt sie den mittelenglischen Wahlkreis Coventry South. Ihr erstes Mandatsjahr fiel mit der Wahl von Keir Starmer zum Labour-Vorsitzenden zusammen. Sie kritisiert seit langem seine Sozialpolitik, die Minderheiten und Marginalisierte benachteiligt, sowie seinen innerparteilichen Autoritarismus. Im vergangenen Jahr ist sie mit scharfer Opposition gegen die Positionierung der Starmer-Regierung zum Völkermord in Gaza hervorgetreten. Ihre abweichenden Auffassungen führten zu ihrem Ausschluss aus der Parlamentsfraktion. Seither ist sie zu einer Zentralfigur der linken Alternative geworden. Sie gehört zu der Gruppe, die die Gründungskonferenz im Herbst vorbereitet, und hat vorgeschlagen, dass sie und Jeremy Corbyn als Co-Vorsitzende gewählt werden sollten.
Oliver Eagleton: Beginnen wir mit deinem politischen Werdegang und deiner Beziehung zur Labour Party. Wie hat sich diese im Laufe der Zeit entwickelt? Was hat Dich zu der Entscheidung bewogen, im Sommer dieses Jahres aus der Partei auszutreten? Gehst du davon aus, dass andere Mitglieder der sogenannten Labour-Linken Deinem Beispiel folgen werden?
Zarah Sultana: Politisch geprägt haben mich der »Krieg gegen den Terror« nach dem 11. September 2001 und die Folgen der Großen Finanzkrise ab 2007. Mit parlamentarischer Politik wurde ich erstmals konfrontiert, als die Koalitionsregierung aus Konservativen und Liberalen ab 2010 meine Generation mit einer Verdreifachung der Studiengebühren direkt attackierte. Ich gehörte zu den Ersten, die 9.000 Pfund pro Jahr für ihr Studium bezahlen mussten. Mit siebzehn bin ich, in die Labour Party eingetreten. Für mich gab es keine andere Partei, die Veränderungen hätte durchsetzen können. Dass sie perfekt sei, hatte ich schon damals nicht gedacht. Mein Ortsverband in den West Midlands wurde von älteren Männern kontrolliert, die junge Menschen – und erst recht junge linke Frauen – nicht gern in ihren Reihen sahen. Auch an der Universität in Birmingham, an der ich 2012 mein Studium aufgenommen hatte, boten die Labour-Clubs und -Vereinigungen nichts als Vorträge rechter Abgeordneter, sodass ich mir andere politische Betätigungsfelder suchen musste.
Kurz nach Studienbeginn ergab sich für meinen Vater und mich die Gelegenheit, gemeinsam mit einer Delegation von Labour-Ratsmitgliedern und -Aktivistinnen nach Jerusalem und in die besetzte Westbank zu reisen. Diese Reise veränderte meine Sicht. Zwar hatte ich mich zuvor nie als privilegiert betrachtet, aber mir wurde klar, dass ich aufgrund reiner Zufälle – wo ich geboren wurde und welchen Pass ich besitze – von den israelischen Behörden anders behandelt wurde. Ich sah, wie Palästinenserinnen und Palästinenser schikaniert und misshandelt wurden, während ich wie ein normaler Mensch behandelt wurde. Ich fuhr nach Hebron und sah Straßen, die nur für Juden zugänglich waren, sowie Gemeinden, die täglich von Siedlern und Soldaten angegriffen wurden. All das war schwer zu begreifen. Noch verwirrender war jedoch, dass wir – unser Land, unsere Gesellschaft – dies zuließen. Dadurch wurde ein Internationalismus in mir geweckt: eine tiefe Ablehnung von imperialer Macht, Apartheid, Siedlerkolonialismus und militärischer Besatzung.
Als ich mich in der National Union of Students engagierte, wurde mir klar, dass ich mit meiner politischen Einstellung nicht allein war. Es ist ein wirklich magischer Moment, wenn man entdeckt, dass man mit seiner politischen Einstellung nicht allein ist. Ich begann, mich für Themen wie kostenlose Bildung, Unterhaltszahlungen, Antirassismus und Wohnungsnot zu engagieren und mich für die BDS-Initiative einzusetzen. Erst nach meinem Studienabschluss wurde mir jedoch bewusst, wie zerrüttet unser Sozialvertrag ist. Ich hatte große Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Ich ging zum Jobcenter, sah mir meinen Lebenslauf an und fragte mich, warum ich trotz meines Abschlusses und meiner Erfahrung keinen Platz in dieser Wirtschaft fand. Und dann waren da auch noch die 50.000 Pfund Schulden.
Als Jeremy Corbyn 2015 zum Vorsitzenden der Labour Party gewählt wurde, dachte ich: »Endlich gibt es eine landesweite politische Bewegung, die junge Menschen nicht hasst!« Also stürzte ich mich mit voller Energie in die Jugendarbeit der Partei. Ich hatte Jeremy bereits bei Protesten, Veranstaltungen und Streikposten sprechen hören. Er sprach genau die Themen an, die mir am wichtigsten waren. Da fühlte ich mich sofort bei Labour zu Hause. Er gründete eine »Community Organising Unit« mit dem Ziel, eine andere Art von Politik zu entwickeln, die in den materiellen Sorgen der Menschen verwurzelt ist. Ich stieg in diese Kampagnengruppe mit ein und hatte so die Möglichkeit, in meiner Heimatregion mitzuorganisieren, unter anderem in Gebieten wie Halesowen, Wolverhampton und Stourbridge, die alle für den Brexit gestimmt hatten. Wir führten Kampagnen zu lokalen Themen durch, organisierten Schulungen und bauten die politische Kraft der Communities aus. So hatte ich die Möglichkeit, bei den Europawahlen und schließlich bei den Parlamentswahlen 2019 zu kandidieren und Abgeordnete zu werden.
Die heutige Labour Party ist eine völlig andere Partei: Sie betreibt Austeritätspolitik, verwässert Arbeitsschutzgesetze und unterstützt aktiv Völkermord. Monatelang habe ich versucht, die Starmer-Regierung dazu zu bewegen, populäre Maßnahmen wie eine Steuer für Superreiche, die Verstaatlichung von Versorgungsunternehmen und kostenlose Schulmahlzeiten für alle zu erwägen. Ich habe auch gegen einige ihrer schlimmsten Exzesse gekämpft: die Beibehaltung der Begrenzung von Kindergeld auf zwei Kinder, die Kürzung der Heizkostenzuschüsse für Rentnerhaushalte und der persönlichen Aufwandsentschädigungen für Menschen mit Behinderung sowie den Verkauf von Waffen an die israelische Kriegsmaschinerie.
Infolgedessen gehörte ich zu der Gruppe von Abgeordneten, denen im vergangenen Jahr die Fraktionszugehörigkeit entzogen wurde. Als ich das letzte Mal mit dem Chief Whip, dem Hauptgeschäftsführer der Fraktion, sprach, deutete er an, dass die Aufhebung meiner Suspendierung nie infrage käme, da ich die Mitschuld der Regierung an den Kriegsverbrechen Israels kritisiert hatte. Entgegen einigen unzutreffenden Berichten hatten sie jedoch nie vor, mich endgültig aus der Parlamentsfraktion auszuschließen. Sie wollten mich auf Dauer in der Schwebe halten. Ich blieb standhaft. Ich sagte dem Chief Whip, dass der Völkermord in Palästina ein Lackmustest sei – nicht nur für mich, sondern für Millionen von Menschen im ganzen Land – und dass das für mich weitaus wichtiger sei als meine politische Karriere.
Der Austritt aus der Partei war also schon länger nur noch eine Frage des Zeitpunkts. Mir war jedoch wichtig, zu meinen eigenen Bedingungen zu gehen, um der Labour-Führung nicht die Deutungshoheit zu überlassen. Ich habe mich dafür entschieden, dies in einer entscheidenden Woche zu tun. In jener Woche hatte die Regierung beschlossen, die persönlichen Aufwandsentschädigungen für Menschen mit Behinderung zu kürzen und die Aktivistengruppe »Palestine Action” als Terrorgruppe einzustufen und damit zu verbieten. Es könnte kein deutlicheres Spiegelbild dessen geben, wo die Labour Party gelandet ist. Wir haben es jetzt mit einer Partei zu tun, die einigen der am stärksten benachteiligten Menschen in unserer Gesellschaft Kürzungen auferlegen will, um Investoren zufriedenzustellen. Wir haben es jetzt mit einer Partei zu tun, die zum ersten Mal in der britischen Geschichte eine auf direkte Aktion setzende, aber gewaltfreie Aktivistengruppe kriminalisiert und die repressivsten Teile des Staates einsetzt, um die Gewinnmargen von Waffenherstellern zu schützen. Wenn das keine roten Linien sind, was dann?
Die Labour Party ist tot. Sie hat ihre Prinzipien und ihre Popularität zerstört. Einige Labour-Abgeordnete, die sich selbst als links bezeichnen, klammern sich jedoch immer noch an ihre Leiche. Sie behaupten, durch ihren Verbleib ihren politischen Einfluss bewahren zu können. Meine Antwort ist einfach: Ihr habt die Kürzungen für Menschen mit Behinderung nicht verhindern können und ihr habt den Waffenexport in einen genozidalen Apartheidstaat nicht stoppen können. Wo ist also dieser Einfluss, von dem ihr sprecht? Es hat keinen Sinn, herumzustehen und auf einen Führungswechsel zu warten, während Menschen sterben – nicht nur in Gaza, sondern auch an Armut in diesem Land. Es ist Zeit, auszusteigen, etwas Neues aufzubauen und alle einzuladen, sich anzuschließen.
Für viele Menschen unserer Generation war der Corbynismus ein Paradigma für radikale Politik. Angesichts der historischen Kluft zwischen 2015 und 2025 stellt sich jedoch die Frage, wie er sich an die Gegenwart anpassen lässt.
Ich denke, wir befinden uns in einer ganz anderen politischen Situation. Wir sollten auf den Stärken des Corbynismus aufbauen, also seiner Energie, seiner Massenattraktivität und seiner mutigen politischen Plattform. Aber wir müssen auch seine Grenzen erkennen. So hat er sich beispielsweise der IHRA-Definition von Antisemitismus gebeugt, in der Antisemitismus und Antizionismus gleichgesetzt werden. Selbst ihr Hauptautor Kenneth Stern hat sie inzwischen öffentlich kritisiert. Beim Brexit hat die Partei keine eindeutige Position eingenommen, wodurch viele Wählerinnen verprellt wurden. Es war der Corbynschen Parteiführung nicht gelungen, durchzusetzen, dass Kandidierende für das Unterhaus und die Kommunalparlamente von den Parteimitgliedern vor Ort gewählt werden. Stattdessen begnügte sie sich mit einem Kompromiss zugunsten von Interventionen der Parteiführung und behielt damit einige undemokratische Strukturen der Partei bei. Unzureichend waren auch die Anstrengungen, ihre stark angewachsene Mitgliedschaft zu einem aktiven Engagement in den Gewerkschaften und den Mieterbewegungen zu motivieren, wodurch die soziale Basis der Partei gestärkt worden wäre.
Als die Parteiführung um Corbyn von Staat und Medien angegriffen wurde, hätte sie sich wehren müssen – in der Erkenntnis, dass es sich dabei um Klassenfeinde handelt. Stattdessen war sie verängstigt und viel zu versöhnlich. Das war ein schwerer Fehler. Wenn wir die Staatsmacht herausfordern, müssen wir mit heftigen Gegenreaktionen rechnen und benötigen die institutionelle Widerstandsfähigkeit, um ihnen standzuhalten. Man darf diesen Leuten keinen Zentimeter nachgeben. […]
Wir haben jetzt eine jüngere Generation, die aufgrund der katastrophalen Politik des Establishments in den Bereichen Wohnen, Bildung, Beschäftigung und Krieg stark politisiert ist. Zu Recht fordern sie einen Platz am Tisch und die Möglichkeit, tatsächliche Macht auszuüben. Meine Vision für die neue Partei ist eine solche aktive Beteiligung, denn so bin ich selbst in die Politik gekommen: nicht auf dem traditionellen Weg als Mitglied in einem Stadtrat, sondern über soziale Bewegungen. Jede und jeder muss das Gefühl haben, einbezogen zu werden, und die Organisation muss repräsentativ für die gesamte Gesellschaft sein. Das bedeutet auch, dass wir unseren Antirassismus nicht verwässern dürfen. Einige wollen, dass wir uns ausschließlich auf wirtschaftliche Fragen konzentrieren. Wenn Klassenpolitik jedoch von einer Politik des Eintretens gegen Rassismus getrennt wird, ist sie zum Scheitern verurteilt. Denn egal, wer unsere Nachbarn sind: Die Abwehr von Zwangsräumungen und Abschiebungen ist immer derselbe Kampf.
Du hast recht, dass jedes linke Projekt, das eine illusorische Trennlinie zwischen Rasse und Klasse zieht, letztendlich seine Basis spaltet und gleichzeitig politisch degeneriert. Doch wie wird sich die neue Partei gegenüber den Rechtspopulisten von Reform UK positionieren? In einigen Äußerungen wurde betont, dass die extreme Rechte gestoppt und der Reform-UK-Vorsitzende Nigel Farage besiegt werden müsse. Ich denke, wir sind uns alle einig, dass dies notwendig ist. Besteht aber nicht die Gefahr, dass die neue Partei, indem sie sich in erster Linie als antifaschistische Partei präsentiert, die Aufmerksamkeit von der Regierung als unserem Hauptgegner ablenkt oder Labour als Teil einer Art Volksfront legitimiert?
Ich denke nicht, dass man sich entscheiden muss, ob man sich auf Reform UK oder Labour konzentriert. Man kann Farage entgegentreten, aufzeigen, was er dem Land antun würde, und zugleich die Regierung dafür kritisieren, dass sie sich wie eine Reform-UK-Light-Partei verhält. Ich erinnere an das Zitat von Sivanandan: »Was Enoch Powell heute sagt, sagt die Konservative Partei morgen, und die Labour-Partei verabschiedet es am Tag danach.«[1] Wenn wir diese Powellsche Politik nicht überall bekämpfen, wo sie auftaucht, erweisen wir den Menschen, die wir vertreten wollen, einen Bärendienst. Richtig ist, dass wir den Aufstieg des rassistischen Nationalismus nicht einfach als moralisches Problem behandeln können. Wir müssen seine strukturellen Ursachen angehen, nämlich die Art und Weise, wie er sich aus der Wut und Verzweiflung in Gebieten nährt, die vom Westminster-Konsens zerstört wurden. Aber die Rechte hat kein Monopol auf diese Wut. Auch ich bin wütend. Wir sollten alle wütend sein, wenn wir daran denken, was mit diesen vorwiegend von Arbeiterinnen und Arbeitern bewohnten Kommunen geschehen ist. Wir sollten diese Gefühle nutzen, um ein klares Argument vorzubringen: Das Problem sind nicht die Arbeitsmigranten, sondern ausbeuterische Vermieter, gierige Energiekonzerne und die Privatisierung von Dienstleistungen der Daseinsvorsorge. Wir müssen den Menschen weder Vorschriften machen noch ihre Frustrationen als unberechtigt abtun. Auch jedweder Form von Nativismus dürfen wir nicht nachgeben. Wir können von unserer Politik überzeugt sein und sie durch lokale Kampagnen und überzeugende Gespräche vermitteln.
Das ist ein langer Prozess, der Monate oder sogar Jahre dauern kann – insbesondere an Orten, an denen diese Argumente den meisten Menschen fremd sind. Es gibt jedoch Möglichkeiten, sie durchzusetzen. Eine davon ist, über die Gesellschaft zu sprechen, die wir uns tatsächlich wünschen, und sie detailliert zu beschreiben, statt nur Slogans zu verbreiten. Was sind unsere langfristigen Ziele? Mehr Zeit mit unseren Lieben, mehr Grünflächen, eine universelle Kinderbetreuung, kostenloser öffentlicher Nahverkehr, keine Sorgen um Rechnungen. Das sind Dinge, über die Farage und Starmer nicht sprechen. Somit können wir unsere positive Vision ihrer völlig negativen gegenüberstellen.
Und dann ist da noch die Frage: Wie sollen wir das bezahlen? Nun, wir könnten die massiven Militärausgaben einstellen, die Öl- und Gasunternehmen besteuern und die seit der Pandemie beschleunigte Umverteilung von Vermögen vom öffentlichen zum privaten Sektor rückgängig machen. Wir sollten uns verpflichten, den kostenlosen öffentlichen Nahverkehr zu finanzieren, statt endlose Kriege. Das sind politische Maßnahmen, die für die Menschen Sinn ergeben. Wir müssen genauso vehement für sie eintreten, wie die Rechten es für ihre Interessen tun.
Das beschreibt unseren langfristigen Horizont sehr gut. Was sind die kurzfristigen Ziele des Projekts?
Wir befinden uns zwar noch in einem frühen Stadium, haben aber bereits mehr als 700.000 Menschen erreicht, die ihr Interesse bekundet haben. Daher sollten wir uns derzeit darauf konzentrieren, unsere Basis zu aktivieren und zu definieren, wofür wir stehen. Das ist übrigens auch der Grund, warum ich der Meinung bin, dass wir uns »The Left« nennen sollten. Der Name ist ein unapologetischer Ausdruck dessen, wofür wir stehen. Gleichzeitig müssen wir im ganzen Land neue Mitglieder werben, auch in Gegenden, die nicht so politisch aktiv sind wie London. Wir haben großes Interesse im Nordwesten und Nordosten Englands festgestellt, was sehr spannend ist. Natürlich würde ich mir auch mehr Engagement in den West Midlands wünschen. Meiner Meinung nach sollte auch Schottland und Wales ein hohes Maß an Autonomie gewährt werden. Seit der Gründung der Partei sind viele inoffizielle lokale Gruppen entstanden, aber wir werden unsere Strukturen auf der kommenden Konferenz formalisieren. Die Gesamtstruktur der Partei muss einheitlich sein, sonst wird es kein kohärentes Projekt, das das bestehende Spektrum an Bewegungen und Kämpfen vereint. Ein loser Zusammenschluss verschiedener Gruppen könnte am Ende nicht viel mehr als das sein; er wäre nicht in der Lage, Menschen zu mobilisieren oder in die Offensive zu gehen.
Um all dies zu erreichen, ist eine vollständig demokratische Konferenz erforderlich. Dies hängt von mehreren Faktoren ab. Erstens darf sie nicht nur von Abgeordneten geleitet werden. Derzeit gibt es sechs Abgeordnete in der Independent Alliance, davon sind fünf Männer. Das sollte nicht das zukünftige Bild unserer Partei sein. Daher sollte das Komitee, das die Konferenz organisiert, geschlechtergerecht sowie ethnisch und regional vielfältig besetzt sein. Alle Mitglieder sollten die gleichen Rechte und Stimmrechte haben. Alles andere wäre ein Männerclub. Zweitens müssen diejenigen, die an unserer Gründungskonferenz teilnehmen, sich sinnvoll einbringen können. Das kann nur durch das Prinzip »ein Mitglied, eine Stimme” gewährleistet werden. Der Veranstaltungsort sollte gut erreichbar sein. Zudem sollte die Teilnahme über digitale Medien mit niedrigen Zugangsbarrieren möglich sein. Wir sollten eine breite Beteiligung anstreben statt einer engen Delegiertenstruktur, da diese unsere Basis möglicherweise nicht repräsentativ widerspiegelt. Schließlich sollten wir ein echtes Forum für Debatten und Diskussionen sein und keine Situation zulassen, in der Entscheidungen von einer Führungsriege getroffen werden und alle anderen sie nur abnicken.
[…] Wir können eine Plattform schaffen, die die alltäglichen Sorgen der Menschen anspricht, und eine starke Präsenz im ganzen Land aufbauen. Unser Ziel ist nicht nur der Wahlkampf, sondern ein Projekt, das mit Mietervereinigungen, den Gesundheitswesens und der Solidaritätsbewegung für Palästina verbunden ist.
Um an all diesen Fronten effektiv kämpfen zu können, benötigen wir klare Forderungen, so wie sie Zohran Mamdani in New York formuliert hat. Selbst hier in Britannien sind seine wichtigsten Ziele weithin bekannt. Er hat sie so formuliert, dass sie jeder verstehen kann. Sie finden auf einer viel tieferen Ebene Resonanz als die meisten politischen Diskurse. Wenn wir damit beginnen, werden wir erkennen, dass wir nicht an die archaischen Traditionen des Westminster-Systems gebunden sind, das darauf ausgelegt ist, Politik exklusiv zu gestalten.
Ein weiteres Thema, das diskutiert wird, ist das Gleichgewicht zwischen der Macht des Volkes und der Macht des Parlaments. […] Wo stehst du in dieser Debatte?
Das ist eine falsche Dichotomie. Ich sehe meine Aufgabe im Unterhaus darin, eine Brücke zwischen sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und dem Parlament zu schlagen. Die heute als selbstverständlich betrachteten fortschrittlichen Gesetze – wie die Arbeitsschutzrechte, der Mutterschaftsurlaub, die Wochenarbeitszeit, sogar das Wahlrecht – sind nur zustande gekommen, weil die Abgeordneten gezwungen waren, auf den Druck der breiten Bevölkerung zu reagieren. Die Kämpfe, die diese Zugeständnisse erzwungen haben, werden oft aus der Geschichte getilgt. Heute sehen wir Labour-Abgeordnete, die ihre Unterstützung für die Rechte von Frauen bekunden, indem sie Suffragetten-Schärpen tragen, während sie gleichzeitig für ein Verbot von Palestine Action stimmen. Wir sollten ihrem Beispiel nicht folgen, so zu tun, als gäbe es eine notwendige Kluft zwischen der Macht des Volkes und der Macht des Parlaments. Eine Partei, die sich nur um Wahlen kümmert, wird außerhalb des Wahlzyklus irrelevant sein. Und eine Partei, die das Parlament ignoriert, wird ein Vakuum schaffen, das unweigerlich von der extremen Rechten ausgefüllt werden wird.
Was ich mir wünsche – und ich kann mir nur schwer vorstellen, wie eine erfolgreiche linke Partei anders aufgebaut werden könnte –, ist eine kampagnen- und sozialbewegungsorientierte Ausrichtung in Verbindung mit einer starken parlamentarischen Präsenz. […]
Bei bestimmten strategischen Entscheidungen könnte es jedoch zu Entweder-Oder-Entscheidungen kommen. Sollte die Partei beispielsweise eine zentrale Abteilung einrichten, um die Massenorganisation in den Kommunen zu anzuleiten, wie es bei der Organisationabteilung war, für die du früher einmal gearbeitet hast? Oder sollte sie die Organisation der Kooperation mit den Bewegungen in den Kommunen den Ortsverbänden selbst überlassen?
Theoretisch finde ich die Idee großartig, die Organisation der Massen in den Kommunen als Teil der DNA der Partei zu verankern. Es gibt Menschen, die sich bereits heute täglich dafür einsetzen, dass niemand in ihrer Gemeinde hungern muss und dass die extreme Rechte keine Asylunterkünfte angreifen kann. Die neue Partei sollte auf diese Menschen zugehen, die nicht unbedingt den traditionellen Vorstellungen einer politischen Führung entsprechen, sie einbinden und bitten, die Organisation mitzugestalten. Außerdem sollte sie sie für Führungspositionen fördern. Aber sollte dies in Form einer »Community Organising Unit« (COU), also einer Abteilung für Mobilisierungsarbeit in den Kommunen, erfolgen, wie wir sie in der Labour Party hatten? Hier sehe ich gewisse Grenzen. Meiner Erfahrung nach waren die Ergebnisse der COU nicht immer optimal, auch weil diese Art von Mobilisierung und Kooperation, wenn sie an eine Partei gebunden ist, sofort mit bestimmten Assoziationen behaftet ist. Das könnte diejenigen abschrecken, die verständlicherweise genug von Parteipolitik haben. Es gab auch Situationen, in denen die COU mit anderen Teilen der Labour Party in Konflikt geriet, beispielsweise, wenn die Mitglieder in den kommunalen Räten und Behörden ihren Mitarbeitern keine fairen Löhne zahlten. Ich sage nicht, dass dies bei dem neuen Projekt passieren würde, aber es besteht immer die Gefahr, dass verschiedene organisatorische Aktivitäten einer Partei auf nationaler Ebene nicht perfekt zusammenpassen und Spannungen entstehen.
Die Mobilisierung in den Kommunen wäre effektiver, wenn sie nicht von einer bestimmten Einheit geleitet würde, sondern wenn sie zur festen Praxis der gesamten Partei würde – in Bezug auf die Art und Weise, wie wir Sitzungen, Schulungen, Wahlwerbung und Kampagnen durchführen. So könnte die Partei eine neue politische Massenkultur entwickeln. Es sollte für die Menschen selbstverständlich sein, sich politisch zu engagieren und Mietervereinigungen, Buchclubs, Anti-Räumungsgruppen oder ähnliche Organisationen zu gründen, die ihren lokalen Bedürfnissen entsprechen. Auf diese Weise würde die Partei eine Rolle bei der Ankurbelung populärer Kämpfe spielen, ohne diese verwalten und kontrollieren zu müssen. Ein wesentlicher Bestandteil wäre dabei politische Bildung. Das instinktive Gespür der Menschen für das, was in der Gesellschaft nicht stimmt, müsste in eine radikale Weltanschauung übersetzt werden. Wenn wir nur die Hälfte der Menschen, die sich als Unterstützer angemeldet haben, in die politische Bildung einbinden könnten, hätte das transformative Auswirkungen. […]
Ein Argument gegen ein vollständig mitgliedergeführtes Parteimodell könnte etwa wie folgt lauten: Da wir noch keine politische Massenkultur haben, wissen viele Menschen, die sich politisch engagieren möchten, nicht genau, was das bedeuten würde. Sie möchten ihre Energie daher vielleicht lieber in eine bestimmte Richtung lenken, anstatt alles selbst zu steuern. Das Fehlen einer Massenpolitik hat außerdem zur Folge, dass die organisierte Linke aus verschiedenen, relativ kleinen Gruppen mit unterschiedlichen Prioritäten besteht. Ohne Intervention von oben können diese nur schwer in einer einheitlichen Struktur zusammengeführt werden. Hinzu kommt das Risiko, dass einige dieser Prioritäten nicht besonders repräsentativ für die Gesellschaft als Ganzes sind. Was sagst du dazu?
Wenn wir dieser Argumentation folgen, werden wir die Probleme aller anderen politischen Parteien lediglich reproduzieren. Dazu gehören Kontrolle von oben, undurchsichtige Entscheidungsprozesse, interne Streitigkeiten und die Vergabe von Posten an Freunde. Ich halte die Argumente gegen eine mitgliedergeführte Demokratie für bizarr, denn unser Ziel besteht schließlich darin, die Menschen zu stärken. Das ist nicht möglich, ohne sie einzubeziehen und ihnen Verantwortung für Politik, Strategie und Führung zu übertragen. Das wird zwangsläufig zu schwierigen Situationen führen, in denen unterschiedliche Positionen und Perspektiven aufeinanderprallen. Das ist jedoch zu erwarten.
Wenn es Themen gibt, bei denen wir keine Mehrheit überzeugen können, dürfen wir sie nicht einfach umgehen oder ignorieren. Das wäre eine Abkehr von der politischen Verantwortung. Stattdessen müssen wir noch härter arbeiten. Ich habe beispielsweise keine Bedenken, mich für ein entschlossen antirassistisches, transgenderfreundliches und sozialistisches Programm einzusetzen, auch wenn Teile davon für manche Menschen umstritten klingen mögen. Nur wenn wir diese Diskussionen offen und über die richtigen Kanäle führen, können wir etwas schaffen, das sich grundlegend von den anderen Parteien in Westminster unterscheidet. Wenn das nicht unser Ziel ist, was machen wir dann hier?
Apropos andere Parteien: Wie stehst du zu Wahlbündnissen?
Ich bin offen für Wahlbündnisse, allerdings nur, wenn diese von den Mitgliedern unterstützt werden. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass wir bereit sein sollten, mit allen zusammenzuarbeiten, die uns dabei unterstützen, das Establishment zu besiegen. Wir müssen pragmatisch sein, insbesondere solange wir im Mehrheitswahlsystem arbeiten. Die Durchsetzung einer Wahlreform sollte jedoch ebenfalls ein Ziel sein. Es wäre jedoch verfrüht, zum jetzigen Zeitpunkt Wahlkreise aufzuteilen und zu entscheiden, wo wir kandidieren und wo wir uns zurückziehen, da wir noch nicht das volle Ausmaß dessen erfasst haben, was wir aufbauen. Bevor wir die Partei gegründet haben und ein Gespür für ihre Fähigkeiten und Grenzen entwickelt haben, können wir das nicht im Detail tun. Bis zur nächsten Parlamentswahl sind es noch vier Jahre. Zunächst müssen wir die Strukturen der Partei entwickeln. Anschließend werden wir die Verhandlungen über eine solche Strategie aufnehmen, sofern die Mitglieder ihr zustimmen. […]
Zarah Sultana ist Abgeordnete im britischen Unterhaus. Oliver Eagleton ist Mitglied des Redaktionsausschusses von New Left Review sowie Autor der politischen Biografie The Starmer Project: A Journey to the Right (Verso Books, 2022). Das hier dokumentierte und gekürzte Interview (Übersetzung: Hinrich Kuhls) erschien zuerst am 17.8.2025 auf Sidecar, dem Blog der New Left Review, unter dem Titel »The Alternative«.
Anmerkung
[1] Ambalavaner Sivanandan (1923–2018) war Romanautor, Herausgeber der Zeitschrift »Race & Class« und seit 1964 Chefbibliothekar am Institute for Race Relations (IRR) in London. Der Belegschaft des Instituts war das Recht verbrieft, die Regierungspolitik in Sachen Ethnien zu hinterfragen und die rassistischen Rahmenbedingungen der politikorientierten Forschung des Instituts in Frage zu stellen, was Ende der 1960er-Jahre zu Konflikten mit dem Institutsvorstand führte. Der Grundstein für die Kontroverse war schon früher gelegt worden, nämlich mit dem Aufkommen neofaschistischer Gruppen in Großbritannien und der rassistischen Anti-Immigrationsgesetzgebung (beginnend mit dem Commonwealth Immigrants Act von 1962), vor der auch die Labour Party kapitulierte. Sivanandan fasste das später so zusammen: »Was Enoch Powell heute sagt, sagt die Konservative Partei morgen, und die Labour Party erlässt am Tag danach Gesetze.« Enoch Powell (1912–1998) war Altphilologe und ein zunächst rechtskonservativer, später rechtsextremer Politiker. Er hatte sich 1965 erfolglos um den Vorsitz der Konservativen Partei beworben. In seiner im April 1968 in Birmingham gehaltenen »Ströme-von-Blut«-Rede prophezeite er eine Katastrophe, wenn weiterhin jährlich 50.000 nicht-weiße Migrant*innen ins Königreich kämen. Die xenophobe Rede hallte lange zugunsten der Tories nach und trug 1970 zur Niederlage der Labour-Regierung mit Premier Wilson bei. Im Mai 2025 bemühte Keir Starmer in einer Rede zur Migrationspolitik das rechtsradikale Bild einer »von Fremden bevölkerten Insel« und evozierte damit die migrationsfeindliche Rede Powells. Anfang Juli bedauerte Starmer seine fremdenfeindliche Bemerkung und gab an, sein Redemanuskript vor Verlesung nicht gekannt zu haben. (Anm. d. Übers.)













