24. Juli 2020 Redaktion Sozialismus: Die Türkei bleibt dennoch im Krisenmodus
Hagia Sophia als neues Symbol
Mit dem Freitagsgebet wurde heute in Istanbul in Anwesenheit des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der selbst einige Koranverse zitierte, die Zurückwandlung der Hagia Sophia von einem säkularen Museum zur Moschee vollzogen. Tausende AKP-Anhänger*innen warteten davor stundenlang auf das historische Ereignis.
Der weltweit umstrittene Vorgang – das Oberste Verwaltungsgericht der Türkei hatte am 10. Juli der Hagia Sophia den Status als Museum aberkannt, der Präsident ordnete sofort an, das sie für das islamische Gebet als Moschee zu öffnen – soll die Unzufriedenheit seiner Anhängerschaft mit den wirtschaftlichen Problemen dämpfen. Umfragen zufolge kommt seine AKP-Partei derzeit auf etwa 30% und ist damit weit entfernt von früheren Werten um die 50%.
Bereits Ende Juni musste Erdoğan verkünden, dass die Lohnunterstützungen, die zu Beginn der Corona-Pandemie installiert wurden, um einen Monat verlängert werden sollen. Dies gilt auch für die Hilfen für bedürftige Familien. Denn die Pandemie und ihre Folgen sind in der Türkei nicht eingedämmt. Das schlägt sich vor allem im Tourismus nieder, einem der wichtigsten Wirtschaftszweige. Insgesamt sind durch die Corona-Pandemie die Tourismuszahlen stark eingebrochen. Im Mai kamen rund 30.000 Besucher in das Land und damit 99,26% weniger als im Vorjahreszeitraum, wie das Tourismusministerium mitteilte.
In den ersten fünf Monaten des Jahres gingen die Besucherzahlen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 66,35% zurück. Vergangenes Jahr machten nach offiziellen Angaben mehr als fünf Millionen Deutsche dort Urlaub. Die deutsche Regierung hatte die im März wegen der Corona-Pandemie verhängte weltweite Reisewarnung inzwischen für 32 europäische Länder aufgehoben, für die Türkei gilt sie allerdings bis zum 31. August weiterhin. Außerdem hat sie das Land als Corona-Risikogebiet eingestuft.
Trotz der massiven ökonomisch-sozialen Probleme fährt die türkische Regierung nicht nur gegenüber Europa einen Konfliktkurs, sondern auch in ihrer Nachbarschaft hat sie viele Staaten gegen sich aufgebracht. Sie führt Kriege, die sie beschönigend »grenzüberschreitende Operationen« nennt. Es geht ihr um Einfluss, um militärische Vorherrschaft, um Energievorkommen und um eigenmächtig abgesteckte Seegrenzen.
Die Türkei ist zu einem bestimmenden Akteur in Libyen geworden und zu einer Kriegsmacht am Mittelmeer und im Nahen Osten, an der keiner mehr so leicht vorbeikommt. Erdoğan will den weiteren Aufstieg seines Landes sicherstellen. Aber diese Außenpolitik hat ein sehr fragiles ökonomisches Fundament, denn auf Europas Handelspartner, Investoren und Touristen ist Ankara angewiesen.
Die Pandemie und die damit verbundenen wirtschaftlichen Verwerfungen in der Türkei verschärfen die Probleme der Flüchtlingsbevölkerung und der EU massiv. Die ohnehin geringe staatliche Unterstützung greift nicht für den informellen Sektor. Zudem nimmt im Zuge der anhaltenden Rezession die Ablehnung gegenüber der großen Zahl an Flüchtlingen – kein Land beherbergt mehr Schutzsuchende als die Türkei – weiter zu. Angesichts des zugespitzten Konflikts zwischen der Türkei und Griechenland um die Seegrenzen im Mittelmeer muss man damit rechnen, dass die Türkei erneut versuchen wird, über die vier Millionen Flüchtlinge im Land Druck auszuüben.
Unter dem autoritären Regime Erdoğans entfernt sich das Land mit dem islamistisch-populistischen Kurs immer weiter vom säkularen Erbe. Die Rückumwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee bestätigt viele EU-Politiker in ihrer Skepsis gegenüber der Regierung Erdoğan. In einer scharfen Erklärung verurteilten die EU-Außenminister den Beschluss während einer der Türkei gewidmeten Sitzung und riefen dazu auf, die Entscheidung rückgängig zu machen.
Während die Entscheidung im Ausland als Affront gegen die westlichen Partner und die griechischen Christen begriffen wurde, wird sie im eigenen Land vor allem als weiterer Schlag gegen das säkulare Fundament der Republik verstanden. Erdoğan hatte schon früh Sympathie für Forderungen nach einer Rückumwandlung der Hagia Sophia gezeigt, zögerte aber angesichts des Widerstands der säkularisierten Republikaner in der Türkei und der zu erwartenden Konsequenzen aus Europa. Dass er nun die Eingliederung eines international herausragenden Symbols in die islamische Kultur umgesetzt hat, wird von vielen Beobachtern als Versuch gewertet, angesichts fallender Popularitätswerte und verbreiteter Unzufriedenheit über die Wirtschaftslage seine konservativ-muslimische Basis zu mobilisieren.
In einer Rede wertete Erdoğan die Entscheidung der Umwidmung des vielleicht wichtigsten Symbols der türkischen Republik als Triumph für die Muslime in aller Welt. »Die Wiederauferstehung der Hagia Sophia ist der Vorbote für die Befreiung des Felsendoms«, sagte er mit Blick auf das islamische Heiligtum in Jerusalem und »Feuer der Hoffnung für alle Unterdrückten«.
Allerdings geht es den subalternen Schichten in der mehrfach umgebauten türkischen Republik nicht gut. Seit 2018 läuft die Wirtschaft nicht mehr rund. Für 2020 prognostizierte der Internationale Währungsfonds (IWF) der Türkei einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um 5%. Überdies hat die türkische Lira in den vergangenen zwei Jahren gegenüber dem Dollar fast 60% an Wert verloren. Das Investitionsklima ist eingetrübt. Die Unternehmen investierten bereits vor der Corona-Krise eher zurückhaltend.
Die Lage hat sich durch die Corona-Pandemie verschlechtert. Seit März 2020 berichten die meisten Unternehmen von Nachfrageeinbrüchen im In- und Auslandsgeschäft. Viele haben ihre Kapazitäten runtergefahren. Die Unsicherheit über die weitere Entwicklung ist groß. Die Türkei hofft, von einer möglichen Neuausrichtung der Lieferketten europäischer Firmen infolge der Corona-Krise profitieren zu können, entweder über Exporte oder ausländische Direktinvestitionen.
In den Jahren vor der Pandemie sorgten große Infrastrukturprojekte für ein überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum. Brücken und Tunnels, Autobahnen und Flughäfen. Mit diesen gigantischen Bauten wollte der Staatschef seine Macht zementieren. Aber immer mehr Megaprojekte blieben wegen der Verschlechterung der nationalen Wirtschaft und der Finanzierungsbedingungen stecken.
Die hohe Inflation, die gesunkene reale Kaufkraft der Verbraucher und Unwägbarkeiten infolge der Corona-Krise bremsen die Binnenwirtschaft. Die Verbraucherpreise stiegen im Juni gegenüber dem Vorjahresmonat von 11,39% 12,62%. Viele Haushalte verzeichnen Einkommenseinbußen etwa durch Kurzarbeit oder müssen um ihre Arbeitsplätze fürchten.
Das türkische Parlament hatte bereits am 16. April einen Gesetzentwurf ratifiziert, um die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Corona-Pandemie zu mildern. Die Unterstützungsmaßnahmen gelten für Personen, die nach dem 15. März ihren Arbeitsplatz verloren haben. Die Regierung zahlt 60% der Gehälter von Unternehmen, die aufgrund der Covid-19-Pandemie ihre Geschäfte einstellen mussten. Nach dem neuen Gesetz können Arbeitsverträge für einen Zeitraum von drei Monaten nicht gekündigt werden, allerdings mit wenig präzisierten Ausnahmesituationen.
Die Regierung zahlt außerdem drei Monate lang 39,2 türkische Lira (ca. 5,18 Euro) pro Tag an Beschäftigte, die aufgrund von Corona gezwungen sind, unbezahlten Urlaub zu nehmen. Mit den Maßnahmen wurden laut Auskunft des Finanzministers rund 120.000 Unternehmen mit 107,4 Mrd. Lira (ca. 14,2 Mrd. Euro) unterstützt. Weitere 16,8 Mrd. (ca. 2,2 Mrd. Euro) wurden zur Unterstützung der Ladenbesitzer bereitgestellt. Außerdem wurden 4,4 Millionen Familien mit 1.000 Lira (ca. 132,30 Euro) finanziell unterstützt, wobei insgesamt 22,3 Milliarden Lira (rund 2,95 Milliarden Euro) zur Deckung der Grundbedürfnisse bereitgestellt wurden.
Die Regierung gab bekannt, dass die Mehrwertsteuer- und die Prämienzahlungen von über zwei Millionen Steuerzahlern – insgesamt rund 53,6 Mrd. Lira (ca. 7,09 Mrd. Euro) – um sechs Monate verschoben wurden. Ebenfalls ausgesetzt wurden die Einkommenssteuern von 1,9 Millionen Steuerpflichtigen, sowie die Zahlungen und Erklärungen von Steuerzahlern ab 65 Jahren. Die zuvor für diesen Sommer geplante Steuerausweitung wurde ebenfalls bis Januar 2021 verschoben.
Die Banken haben ihrerseits die Rückzahlung von Kapital und Zinsen von Unternehmen mit Cashflow-Störungen aufgeschoben und bieten zusätzliche Finanzierungsunterstützung. Von dem Pandemie-Ausbruch betroffene Unternehmen erhalten Zugang zu günstigen Krediten, sofern sie Mitarbeiter weiterbeschäftigen. Um Exporte zu unterstützen, stellen Banken Unterstützungsfonds für Aktien bereit, um die Kapazitätsauslastung zu sichern.
Das Risiko einer Zahlungsbilanzkrise steigt. Investoren haben Kapital abgezogen, die Währungsreserven sind niedrig und drohen weiter zu sinken, die Inflation ist hoch und die türkische Lira hat erneut stark an Wert verloren. Das Land erlitt im Jahr 2018 bereits eine starke Währungsabwertung. Von der folgenden Rezession hatte sich die Türkei noch nicht erholt, als die Corona-Krise begann.
Seit dem Ausbruch der Krise in Europa legte der Euro gegenüber der türkischen Lira deutlich von 6,86 auf jetzt 7,92 zu, derzeit läuft das Währungspaar in großen Schritten wieder in Richtung 8,17 (dem Höchstkurse von August 2018) und die Lira damit in Richtung eines neuen Allzeittiefs.
Auf der einen Seite gibt es die Schwäche der Lira selbst. Die Inflation steigt jüngst wieder, und liegt dank zahlreicher Zinssenkungen der Zentralbank in Ankara spürbar über dem Leitzins. Auch die Corona-Krise schwächt die türkische Wirtschaft, vor allem den Tourismus, der trotz der schwachen Währung und damit für Euro-Zahler eigentlich immer attraktiver, besonders betroffen ist.
Auf der anderen Seite erweist sich der Euro als besonders stark. Europa scheint die Corona-Krise relativ gut zu meistern. Zudem hat die EU mit ihrem 750 Milliarden Euro-Paket signalisiert, dass sie die Konjunktur beschleunigen will. Dies stärkt den Euro gegen den US-Dollar, aber auch gegen andere Währungen wie die Lira.
Zudem erschüttern interne Vorgänge rund um die türkische Zentralbank das Vertrauen internationaler Beobachter in ihre Unabhängigkeit. So hat die türkische Regierung jüngst ein Dekret erlassen, wonach Direktoren anders als bislang keine zehnjährige Erfahrung mehr in dem Beruf haben, sondern nur noch ein Studium vorweisen müssen. Auch der Grundsatz, wonach der stellvertretende Gouverneur der Zentralbank nur auf Empfehlung des Chefs für fünf Jahre ernannt werden kann, gilt nicht mehr.
Eine schwache Lira ist auch im Hinblick auf die geringen Währungsreserven und die hohe Importabhängigkeit negativ zu bewerten. Zudem erhöhen sich Zins- und Rückzahlungen bestehender Schulden in ausländischer Währung. In der Türkei betrifft dies 52% der Bruttoverschuldung. Gerade Unternehmen, die in der Währungskrise im Jahr 2018 Schulden angehäuft haben, laufen jetzt Gefahr säumig zu werden. Der Kreditversicherer Coface rechnet für 2020 mit einem Anstieg der Unternehmensinsolvenzen in der Türkei um 50%.
Dass an sich eine schwache Lira nicht nur den Tourismus attraktiver, sondern auch türkischen Exporte und Direktinvestitionen in der Türkei günstiger machen würde, davon dürfte die Türkei in der aktuellen Lage kaum profitieren können. Auch die positive Wirkung des Ölpreiseinbruch – das Land ist in hohem Maße auf Importe von Energieträgern angewiesen – wird daran wenig ändern.
Die türkischen Einfuhren waren im April 2020 um ein Viertel geringer als im selben Monat des Vorjahres. Die Rückgänge bei den Lieferungen aus Deutschland (nach der VR China das zweitgrößte Lieferland) fielen mit -1% noch relativ gering aus. Das volle Ausmaß der Folgen der Corona-Krise für die Im- und Exporte wird sich erst mit zeitlicher Verzögerung zeigen.
Die türkische Tourismusbranche, die sechstgrößte der Welt, hofft, im Sommer und Frühherbst wieder internationale Gäste begrüßen zu können, Strände, Nationalparks, Museen und historische Stätten wurden mit strikten Auflagen wieder geöffnet, ebenso Hotels und Ferienanlagen. Man hat fünf Unternehmen damit beauftragt, eine Zertifizierung von Anlagen als »coronafrei« zu erreichen.
Ob allerdings die Saison zu retten ist, hängt nicht nur vom weiteren Verlauf der Pandemie ab und darf bezweifelt werden. Denn der Niedergang des Tourismus in der Türkei ist auch ein Indiz für die massiven ökonomischen Probleme des Landes und der autokratischen Strukturen einer Erdoğan-Republik.