31. Dezember 2024 Jeremy Corbyn: Das Zaudern in der Klimapolitik beenden
Die Klimakatastrophe packt die Lebenden
Die Fakten über die drohende Klimakatastrophe auf unserem Planeten sind eindeutig, und es gibt keinen Grund, die Entwicklung als überkomplex darzustellen: Ein globaler Temperaturanstieg von 3,1°C ist mit dem Überleben der Menschheit unvereinbar.
Darauf steuern wir zu, wenn wir jetzt nicht handeln.[1] Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird die Erderwärmung dauerhaft über 1,5°C liegen und könnte bis zum Ende des Jahrhunderts 2,6°C bis 3,1°C erreichen.
Für einen Menschen mag der Unterschied nur der zwischen einem leichten Pullover und einer warmen Jacke sein. Für die Menschheit aber ist es der Unterschied zwischen Überleben und Untergang. Paris und Berlin werden in Hitzewellen verbrennen. New York wird von häufigen Sturmfluten heimgesucht werden. Küstenstädte werden überschwemmt. 800 Millionen Menschen leben heute auf Land, das unter Wasser stehen wird.[2]
In weiten Teilen der Tropen und der Subtropen wird die Hitzegrenze überschritten werden, ab der der menschliche Organismus nicht mehr überlebensfähig ist. Wir müssen nicht in die Zukunft blicken, um die Schrecken des Klimakollapses zu erkennen. Er findet bereits hier und jetzt statt. Laut einer Studie der Monash University sind 9,4% aller Todesfälle zwischen 2000 und 2019 auf extreme Wetterereignisse zurückzuführen.[3]
Allein im vergangenen Jahr haben Hitzewellen in Myanmar 1.500 Menschen getötet, Überschwemmungen in Ostafrika mehr als 700.000 Menschen betroffen und mehr als 400.000 Menschen im Süden Brasiliens vertrieben, und Waldbrände in Chile haben mehr als 14.000 Häuser zerstört. Hinzu kommt der katastrophale Verlust an biologischer Vielfalt: In nur 50 Jahren hat die Welt mehr als zwei Drittel ihrer Tierwelt verloren.
Wenn unsere Politiker*innen in Führungspositionen sich in ihren Entscheidungen von Menschlichkeit leiten ließen, würde die Not anderer ausreichen, um sie zum Handeln zu bewegen. Mangels Empathie müssen wir es ihnen deutlicher sagen: Die Klimakrise wird auch euch packen, denn sie trifft uns alle.
Ohne dringende Gegenmaßnahmen werden bisher einmalige Ereignisse – die Überflutung der New Yorker U-Bahn, Taifune, die Menschen in China aus ihren Häusern reißen, regionale Waldbrände – zur neuen Routine des Alltags. Das Ziel, den Klimakollaps zu verhindern, hat die Politik längst aufgegeben. Wir haben eine viel grundsätzlichere Forderung: Wir müssen verhindern, dass der Klimakollaps in eine neue Phase der existenziellen Katastrophe eintritt.
Das bedeutet, bestimmte »Kipp-Punkte« zu vermeiden, die die Menschheit auf einen unumkehrbaren Weg in die Katastrophe führen würden. Der Zusammenbruch der Atlantischen Umwälzzirkulation würde beispielsweise die Regenfälle unterbrechen, von denen Milliarden von Menschen in Westafrika, Südamerika und in Indien für ihre Ernährung abhängen. Das Auftauen der Permafrostböden würde zu einer irreversiblen Freisetzung von Kohlendioxid führen. Und das Abschmelzen des Eisschildes auf Grönland würde den Anstieg der Meere katastrophal beschleunigen.
Nur wenige Politiker*innen leugnen, dass die vom Menschen verursachte globale Erwärmung real ist. Aber hierzulande stellt sich die Labour-Regierung nicht den Fakten. Stattdessen geht sie mit einer anderen, heimtückischeren Art der Leugnung hausieren. Eine Leugnung, die sich vom Unglauben an die Klimakrise zu dem Glauben entwickelt, dass graduelle Veränderungen das Problem lösen können.
So hat die Labour-Regierung ihr Versprechen, 28 Mrd. Pfund in grüne Investitionen zu stecken, bereits um die Hälfte gekürzt und durch blindes Vertrauen in die Marktkräfte und eine Investition von 22 Mrd. Pfund in die Kohlenstoffabscheidung ersetzt. Das ist eine Politik, die es der fossilen Brennstoffindustrie erlaubt, unsere natürliche Welt weiter zu zerstören. Unabhängig davon hat die Labour Party eine Spende in Höhe von vier Mio. Pfund von einem auf den Cayman-Inseln registrierten Hedge-Fonds angenommen, der im Öl- und Gassektor tätig ist.
Diese Regierung hat es nicht nur versäumt, den fossilen Energieriesen die Stirn zu bieten. Sie hat es auch versäumt, sich dem Wirtschaftssystem entgegenzustellen, das sie begünstigt. Das reichste Prozent der Bevölkerung ist für mehr Kohlendioxidemissionen verantwortlich als die ärmsten 66% zusammen, aber unsere Regierung weigert sich immer noch, eine Vermögenssteuer einzuführen, um die Ungleichheit zu verringern. Wenn die Regierung nicht den Mut aufbringt, die Regeln unserer umweltzerstörenden Wirtschaft neu zu schreiben, werden ihre Klimaziele bald nur ein weiteres gebrochenes Versprechen sein.
Unser Planet kann nicht durch warme Worte gekühlt werden, wir brauchen einen grundlegenden Wandel, und zwar jetzt. Ein Green New Deal würde in erneuerbare Energien und Wasser in öffentlichem Besitz investieren. Er würde Millionen grüner Arbeitsplätze schaffen. Er würde eine nachhaltige Landwirtschaft fördern, die auf den Grundsätzen der Agrarökologie beruht. Und er würde eine Wirtschaft ankurbeln, die sich an den Bedürfnissen der Menschen und nicht an der Gier der Konzerne orientiert.
Die Klimakrise ist ein globales Problem und erfordert globale Lösungen. Das Mindeste, was diese Regierung tun könnte, wäre, den Ländern, die am wenigsten zur Erderwärmung beigetragen haben, aber unter den Auswirkungen am heftigsten leiden, ein wenig Respekt entgegenzubringen. Als Premierminister Keir Starmer sagte, Reparationen stünden nicht auf der Tagesordnung, ignorierte er geflissentlich die anhaltenden kolonialen Ungleichheiten, die gefährdete Gemeinschaften der Klimakatastrophe aussetzen. Ist es angesichts einer solchen Geschichtsvergessenheit verwunderlich, dass die Delegationen kleinerer Nationen die Verhandlungen auf der COP29 vorübergehend verlassen hatten?
In einem Punkt ist Großbritannien weltweit führend: Es geht hart gegen Klimaaktivist*innen vor. Die britische Polizei verhaftet Umweltschützer*innen fast dreimal so häufig wie der weltweite Durchschnitt – ein schockierendes Beispiel für ein Establishment, das diejenigen kriminalisiert, die unsere natürliche Welt retten wollen, und diejenigen belohnt, die sie zerstören wollen.
Auf ähnliche Weise versucht die Regierung, den globalen Wettlauf gegen die Immigration zu gewinnen. Der Premierminister weiß, was er tut, wenn er vom britischen »Experiment der offenen Grenzen« spricht. Er schürt den Hass, den wir im letzten Sommer auf den Straßen gesehen haben. Und er trägt zur Dämonisierung von Menschen bei, die genau vor der Klimakrise fliehen, die seine zögerliche Politik nicht abzumildern, geschweigen denn zu verhindern vermag.
Klimapessimismus ist ebenso wenig eine Option wie die fortgesetzte Marginalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen. Solange es Leben auf dieser Erde gibt, wird die Einsicht in die Notwendigkeit, unsere gemeinsame Menschlichkeit zu verteidigen, nicht verschwinden. Die Zukunft sieht düster aus, aber es ist nie zu spät, eine bessere, nachhaltigere Welt aufzubauen.
Anmerkungen
[1] United Nations Environment Programme: Emissions Gap Report 2024. No more hot air… please! With a massive gap between rhetoric and reality, countries draft new climate commitments. Nairobi, Oktober 2024; https://doi.org/10.59117/20.500.11822/46404.
[2] Our underwater future: What sea level rise will look like around the globe, CNN, 12.10.2021; https://edition.cnn.com/2021/10/12/world/3-degrees-sea-level-rise-climate-central/index.html
[3] Zhao, Qi; et al. (2021): Global, regional, and national burden of mortality associated with non-optimal ambient temperatures from 2000 to 2019: a three-stage modelling study. In: The Lancet Planetary Health 5 (7), e415 - e425; https://www.thelancet.com/journals/lanplh/article/PIIS2542-5196(21)
Jeremy Corbyn ist Mitglied des britischen Unterhauses. Als unabhängiger Abgeordneter vertritt er den Londoner Wahlkreis Islington North. Von 2015 bis 2020 war er Vorsitzender der Labour Party. Sein hier dokumentierter Beitrag (Übersetzung: Hinrich Kuhls) erschien zuerst am 20.12.2024 unter dem Titel The facts about a planet facing climate disaster are clear. Why won’t this Labour government face them? in The Guardian.