9. Juli 2023 Michael Wendl: Fiskalpolitik der Regierung verschärft die Rezession
Die Krisenmacher
Deutschland befindet sich seit dem 4. Quartal 2022 in einer schwachen Rezession, die gleichzeitig durch hohe Preissteigerungsraten gekennzeichnet ist. Bei der Entwicklung der Preise ist allerdings mit einer Abschwächung zu rechnen, weil Erzeuger- und Großhandelspreise bereits deutlich sinken.
Dass das Verbraucherpreisniveau dem nicht zeitnah folgt, liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit daran, dass viele Unternehmen in durch Preissetzungsmacht gekennzeichneten Märkten die Preise und damit ihre Renditen hochhalten. Es liegt daher nahe von einer Profit-Preis-Inflation zu sprechen. Da nahezu alle Tarifabschlusse 2022/23 mit spürbaren Reallohnverlusten verbunden sind, kann von einer lohngetriebenen Inflation keine Rede sein.
Deshalb verfehlen die Leitzinserhöhungen der EZB auch ihr Ziel. Sie blockieren den wirtschaftlichen Aufschwung, verteuern Kredite und wirken nahezu nicht gegen das hohe Preisniveau. Die deutlich unterschiedlichen Inflationsraten in den Euro-Ländern, die wie im Fall Spanien bereits unter der Zielinflationsrate der EZB von 2% liegen, zeigen zugleich, dass die gängige Inflationserklärung durch eine zu große, von den Zentralbanken geschöpfte Geldmenge falsch ist.
Die Inflation wird ganz überwiegend von der Angebotsseite getrieben. Hohe Leitzinsen der Zentralbanken erzielen hier keine Wirkung. Der Staat könnte mit Übergewinnsteuern und Preiskontrollen eingreifen, was in Deutschland im Unterschied zu anderen Eurostaaten nicht der Fall war.
Der Bundeshaushalt 2024, der auf der Anwendung der Schuldenbremse aufbaut, wird dieser makroökonomischen Konstellation nicht gerecht. Im Gegenteil: Er wirkt prozyklisch und verlängert und vertieft die deutsche Rezession. Diese ist durch eine zu schwache konsumtive Nachfrage und Kostensteigerungen auf der Angebotsseite geprägt.
Der Staat müsste hier durch zusätzliche öffentliche Transfers und Investitionen in nicht-fossile Energien positive makroökonomisch wirkende Impulse setzen. Das tut er nicht, weil die Mehrheit in der Koalition der Annahme folgt, es sei eine über die Regeln der Schuldenbremse hinausgehende öffentliche Kreditaufnahme nicht mehr notwendig. Diese Annahme ist falsch, sie wird auch nicht richtig, wenn der Bundeskanzler sie ausspricht.
Ein weiteres Aussetzen der Schuldenbremse und eine zusätzliche öffentliche Kreditaufnahme bleiben daher notwendig. In der gegenwärtigen langfristigen Transformation von Umwelt und Wirtschaft wirkt die Schuldenbremse als Hemmnis der Entwicklung. Sie blockiert auch die notwendigen Reformen auf dem Verkehrssektor und im Gesundheitssystem. Die zusätzlichen Finanzmittel, die durch die Aussetzung der Schuldenbremse zur Verfügung stehen, müssten kurzfristig einerseits für die Erhöhung sozialer Transfers, wie dem Bürgergeld und der Kindergrundsicherung, und andererseits für die Kostensenkung im Energiebereich verwendet werden. Hier kann ein subventionierter Industriestrompreis sinnvoll sein. Das wären dann die Sofortmaßnahmen, die ein weiteres Abgleiten in eine stärkere Rezession verhindern.
Wenn wir die Wirkungen dieser Haushaltspolitik aus saldenmechanischer Sicht, also aus dem Zusammenhängen der großen volkswirtschaftlichen Sektoren betrachten, so sehen wir, dass sowohl die Privathaushalte wie der Unternehmenssektor relativ hohe Ersparnisse gebildet haben, im Fall der Unternehmen ein Zeichen einer schwachen Investitionstätigkeit. In dieser Situation müssen die beiden anderen Sektoren, der Staat und das Ausland, diese Ersparnisse durch eine entsprechende Verschuldung ausgleichen.
So prognostiziert das Ifo-Institut für 2023 positive Finanzierungssalden des Unternehmenssektors in Höhe von 55,4 Mrd. Euro und der privaten Haushalte in Höhe von 215,9 Mrd. Euro. Diese hohen Ersparnisse der finanziellen und nicht-finanziellen Unternehmen zeigen an, wie überflüssig eine Senkung der Unternehmenssteuern ist. Die deutschen Unternehmen investieren zu wenig und das werden sie nicht ändern, wenn ihre Überschüsse zusätzlich steigen.
Dem stehen gegenüber eine Verschuldung des Staates von 68,9 Mrd. Euro und eine Verschuldung der übrigen Welt von 202,3 Mrd. Euro. 2024 soll sich dann die Verschuldung des Staates auf 27,2 Mrd. Euro verringern und die Verschuldung der übrigen Welt auf 249,8 Mrd. Euro zunehmen. 2022 lag dieser negative Finanzierungssaldo der übrigen Welt noch bei 126,8 Mrd. Euro. Er muss sich daher, soll die Prognose zutreffen, fast verdoppeln. Hier wird unterstellt, dass der Außenhandelsüberschuss von rund 76 Mrd. Euro (2022) sich mehr als verdoppelt und auf 160,1 Mrd. Euro steigt. 2024 soll er dann in der Ifo-Prognose auf 195,3 Mrd. Euro steigen.
Der Rückgang des negativen Finanzierungssaldos des Staates, also der Staatsverschuldung um über 40 Mrd. Euro muss daher durch einen entsprechenden Anstieg der Verschuldung des Auslands in Folge steigender Defizite im Außenhandel ausgeglichen werden, was entsprechende Verschuldungsspielräume in der übrigen Welt unterstellt (Quelle: Ifo-Konjunkturprognose Sommer 2023 in: Ifo-Schnelldienst, Sonderausgabe Juni 2023).
Der Staat fällt hier im Unterschied zu den vergangenen vier Jahren nahezu aus – eine Folge der Beachtung der Schuldenbremse –, so dass die übrige Welt durch hohe und stark steigende Verschuldung die Ersparnisse der Privathaushalte und der Unternehmen ausgleichen muss, weil sich die Forderungen der Gläubiger und die Verbindlichkeiten der Schuldner zu Null saldieren. Da es in einer tendenziell stagnierenden Weltwirtschaft diese hohen Verschuldungsspielräume nicht geben wird, ist ein entsprechender Anstieg der deutschen Exporte völlig illusorisch. Die deutsche Wirtschaft wird daher 2023 bis 2024 durch diese Politik der Austerität durch ein schrumpfendes Bruttoinlandsprodukt gekennzeichnet sein. Das bedeutet zugleich, dass den aktuellen Steuerschätzungen die Grundlage entzogen wird, und der Staat weniger Steuereinnahmen erhält, als heute noch angenommen wird.
Die diesen Saldenrechnungen eigene makroökonomische Perspektive ist dem Finanzminister, der sich, wie sein Berater Lars Feld, den Dogmen des Ordoliberalismus verpflichtet fühlt, völlig fremd. Dieser deutsche Ordoliberalismus, der mehr Tugendlehre eines sparsamen Hauswirtschaftens als empirisch orientierte Wirtschaftswissenschaft ist, hat auch den Geist der deutschen Schuldenbremse geprägt. Christian Lindner verspricht sich von der Rückkehr zur Schuldenbremse eine angebotspolitische Wende, gemeint ist eine Stärkung der Angebotsseite der deutschen Wirtschaft.
Die Wirtschaft wird aber nicht durch die Angebotsseite gesteuert, sondern durch die aggregierte, also öffentliche und private Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Diese Nachfrage, die in den Jahren 2020 bis 2023 durch rund 750 Mrd. Euro öffentliche Kredite ausgeweitet worden ist, wird jetzt drastisch zurückgefahren. Die Folge ist ein Angebotsschock, also eine Kontraktion der Produktion. Der einzige Ausweg wäre, dass ein enorm hoher Außenhandels- und Leistungsbilanzüberschuss und eine dementsprechende exzessive Verschuldung des Auslands die deutsche Konjunktur tragen müssen. Danach sieht es nicht aus, weil der Export trotz eines aktuellen Überschusses im Außenhandel relativ schwach bleiben wird, und das Wachstum der Weltwirtschaft gedämpft bleibt.
Von Olaf Scholz, unter dessen Zuständigkeit die Schuldenbremse in den Jahren 2020 bis 2022 ausgesetzt und für 2023 durch Sondervermögen faktisch ausgehebelt wurde, hätten wir annehmen können, dass ihm die Notwendigkeit einer antizyklischen Finanzpolitik und der damit verbundenen Nettokreditaufnahme bekannt ist. Er hatte sich in diesen Jahren auch entsprechend zu einer antizyklischen Finanzpolitik bekannt. Aktuell war er aber nicht bereit, die für eine weitere Aussetzung der Schuldenbremse notwendige grundsätzliche Auseinandersetzung mit Lindner und der FDP in Kauf zu nehmen. Vermutlich wollte er einer Debatte über die Schuldenbremse aus dem Weg gehen, weil er kalkuliert, dass diese im Alltagsbewusstsein einer Mehrheit der Bevölkerung noch populär ist, oder er die notwendige Auseinandersetzung mit der FDP scheut.
Deshalb hat er öffentlich seine Zustimmung zu Schuldenbremse ausgedrückt. »Es ist jetzt klar, dass wir nun wieder Haushalte aufstellen werden, die nicht mit diesen zusätzlichen kreditfinanzierten Mitteln versuchen, Krisen zu bekämpfen.« (WELT vom 5.7.23). Hinter dieser Aussage steht nicht nur die falsche Annahme, dass die Krisen vorbei sind, sondern zugleich die völlig unbegründete Hoffnung, dass Deutschland vor einem neuen Wirtschaftswunder steht. Hier hat sich Scholz der Propaganda von Lindner angeschlossen.
Es zeigt sich, dass die Hoffnungen, Scholz hätte in den vergangenen Jahren Grundsätze der keynesianischen Makroökonomie verstanden, die ihn zu einer expansiven Fiskalpolitik geführt hätten, nicht begründet waren. Scholz hat, wie das auch der Mainstream der neoklassischen Ökonomen vorschlägt, in der Krise mit der Ausweitung öffentlicher Ausgaben reagiert. Aktuell glaubt er, dass diese Krisen vorbei sind und eine angebotsorientierte Fiskalpolitik angesagt ist. Wer von ihm in schwierigen Zeiten Führung erwartet, sieht wie unter Schröder 2002 eine »ruhige Hand«, die damals zu hoher Arbeitslosigkeit geführt hatte.
Fatal daran ist, dass es in der SPD gegen diese Politik der Austerität kaum Widerstand gibt, obwohl aktuell die Kritik einiger, nicht nur keynesianischer Ökonomen deutlich ausgefallen ist. So hat auch Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft den Verzicht auf öffentliche Investitionen in diesem Haushalt kritisiert (SPIEGEL vom 5.7.23)
Auch der DGB spricht mit »Sparkurs verschärft Krisen« die prozyklische und krisenverschärfende Stoßrichtung des Bundeshaushalts 2024 offen an, der der SPD nahestehende wirtschaftspolitische Thinktank »Dezernat Zukunft« äußert sich entscheiden kritisch. Aus der Bundestagsfraktion der SPD sind allerdings keine kritischen Stimmen zu hören. Scholz ist es offensichtlich gelungen, die Fraktion zum Schweigen zu verpflichten. Kritik aus der Partei selbst kann er verkraften, weil diese kaum in die Öffentlichkeit dringt.