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376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

10. Dezember 2019 Bernhard Sander: Proteste gegen die Rentenreform in Frankreich

Die Straße gegen Macron

Foto: picture alliance/dpa

Mögen es nun 1,5 Millionen oder 800.000 oder doch nur 500.000 gewesen sein, die am 5. Dezember gegen die Pläne zur Rentenreform in ganz Frankreich auf den Straßen demonstrierten. Das waren fünf Mal mehr Demonstrant*innen, als die Gewerkschaften zuletzt gegen die Arbeitsmarktreformen oder gegen die Rechtsformänderung der Eisenbahn aufbieten konnten. Mithin ein machtvolles Zeichen, auch wenn sich die Scooter- und Velo-Verleihfirmen in den Metropolen eine goldene Nase verdienen.

Noch hat Ministerpräsident Edouard Philippe keinen Gesetzentwurf vorgelegt, da ereilt die Regierung mitten im Protest das Ungemach, dass der Hohe Kommissar für die Rentenreform, den man gerade in einen Ministerrang erhoben hat, wegen des Verschweigens eines lukrativen Nebenjobs ausgerechnet in der Ausbildungsanstalt für Führungskräfte der privaten Versicherungswirtschaft in Verruf gerät. Das Projekt wird darüber nicht scheitern, aber es wird die Wut nähren, die sich seit langem in den Herzen der französischen Bürger*innen eingefressen hat – auf die da oben, die nur an sich denken.

Ob der Skandal und der große Mobilisierungserfolg nun auch die anderen Gewerkschaftsbünde zum Mitmachen bewegen, bleibt abzuwarten. Immerhin haben sie noch erhebliche Bataillone in diesen offenen Klassenkonflikt zu führen:

  • die christliche CFTC = 142.000 Mitglieder
  • CGC cadres/Führungskräfte = 150.000)
  • die von der Selbstbestimmung (»autogestion«) zum Co-Management konvertierte CFDT = 868.000
  • und die aus unabhängigen Belegschaftslisten entstandene UNSA.

Staatspräsident Emmanuel Macron ist mit einem Projekt der Modernisierung der französischen Gesellschaft angetreten und gewählt worden, das nicht nur die Säulen des nationalen Sozialstaatsmodells erschüttert, sondern auch die Produktivität der Volkswirtschaft erhöhen soll. Dabei beteuert er, dass das persönliche Fortkommen ganz auf der Anstrengung und Leistung des Einzelnen beruhen solle.

Diesem Glauben, mit dem gleichzeitig die sogenannten Lohnnebenkosten der Unternehmen reduziert werden sollen, folgt auch das vorgeschlagene Rentenmodell. Relative Kampferfolge einzelner Beschäftigtengruppen aus der Vergangenheit werden darum als Privilegien denunziert, die nicht mehr in die Zeit passen. Das neue Modell wird als das gerechtere verkauft.

An die Stelle des asymmetrischen politischen Grundkonsenses der französischen Gesellschaft nach der Zeit der Nazi-Okkupation soll ein meritokratisches Punktesystem treten, das die Rentenansprüche begründen und vergleichbar machen soll. Ende Juli legte der extra berufene Hochkommissar Jean-Paul Delevoye seine Vorschläge einer Rentenreform der Öffentlichkeit vor, über die er 18 Monate mit den Sozialpartnern beraten hatte.

Die Rente ist Bestandteil des Gesellschaftsvertrages, den die Gewerkschaft CGT und die verschiedenen Widerstandsbewegungen 1944 noch vor der Befreiung ausgehandelt hatten. Dazu gehörte auch »eine Rente, die es den älteren Arbeitern gestattet ihre Tage in Würde zu beenden«. Macron hat sich vorgenommen, diesen Konsens (ebenso wie bereits die Regulierung von Einstellung und Entlassung) auszuhebeln.

In den »Trente Glorieuses« (den 30 Jahren des Wirtschaftswunders) wurde in 42 branchen- oder berufsbezogenen Sondersystemen sehr viel höhere Ansprüche und/oder frühere Renteneintrittsmöglichkeiten durchgesetzt, als die Bürger*innen nach den macronitischen Reformen zu erwarten haben.

Formell und zur Beruhigung halten sich die Reformvorschläge an Macrons Wahlversprechen. Vor allem soll es bei einem möglichen Renteneintritt mit 62 Jahren bleiben. Die Rentenansprüche sollen generell ohne Verluste umgestellt werden auf ein Punktesystem, in dem über den Gesamtverlauf der Erwerbstätigkeit für zehn Euro Beitrag ein Punkt angerechnet wird. Der Punkt wird ab 2025 konvertiert in einen Rentenanspruch von 0,55 Euro. 40.000 gesammelte Rentenpunkte entsprechen dann beispielsweise einem Anspruch von jährlich 22.000 Euro oder 1.830 Euro monatlich.

Wer früher ausscheiden will, muss Abschläge von ca. 10% verkraften. Wer künftig eine vergleichbar hohe Rente wie bisher erreichen möchte, wird bis zum Alter von 64 Jahren oder noch länger arbeiten müssen, ohne formell gesetzlich dazu gezwungen zu sein. Für Menschen mit einer komplexeren Erwerbsbiografie (Phasen der Teilzeitarbeit und Arbeitslosigkeit) wird eine Mindestrente angekündigt, die 85% des erzielten niedrigsten Einkommens betragen soll (wenn man 43 Jahre Lohnarbeit nachweisen kann).

Auch diese Regelung läuft auf einen stummen Zwang zur Verlängerung des Arbeitslebens hinaus. Aber das angekündigte Niveau von 85% des niedrigsten Nettoeinkommens liegt über dem derzeitigen Niveau von 81% in der Privatwirtschaft und 75% in der Landwirtschaft. Zwar sollen besonders belastende Tätigkeiten durch einen vorgezogenen Renteneintritt honoriert werden, aber die finanziellen Auswirkungen werden in den Vorschlägen nicht konkretisiert.

Das »Gleichgewichtsalter«, mit dem der Hochkommissar für die Berechnung der Basisrente operiert, soll ab dem Jahr 2025 auf 64 Jahre fixiert werden, für die Geburtsjahrgänge nach 1980 bereits auf 65 Jahre und fünf Monate und die Jahrgänge nach 1990 auf 66 Jahre und drei Monate. Wer dann mit 62 Jahren in Rente gehen will, muss schon mit Abschlägen von 20% rechnen.

Das avisierte System ist so komplex, dass nur im Einzelfall abzusehen ist, wie hoch die Verluste bzw. die Notwendigkeit zu längerer Erwerbsarbeit ausfallen. Sehr viel mehr als heute wird der Lebensstandard von den Wechselfällen der Konjunktur und individuellen Lebensentscheidungen abhängen.[1]

Nach der Vorstellung der Rentenpläne schoss vor allem die rechtspopulistische Nationale Sammlung (RN) von Marine Le Pen gegen die Reformen. Das bedeutet einen Unterschied im Vergleich zum Winter 1995: Der konservative Premierminister Alain Juppé wollte damals das Rentensystem der Beamten an jenes des Privatsektors angleichen. Mehr als eine Million Demonstrant*innen gingen auf die Straße, die Regierung gab klein bei und kippte die Reform. Staatspräsident Chirac, der die »soziale Spaltung« des Landes konstatierte, rief danach Neuwahlen aus, in deren Folge die plurale Linke unter Beteiligung der Kommunisten die Regierungsgeschäfte übernahm.

Der Unterschied zu 1995 ist, dass es heute kein Parteiensystem mehr gibt, in dem sich eine Regierungslinke mit einer Rechten messen und parlamentarische Mühlen rotieren lassen kann, um einen passiven Konsens herzustellen. In dieses zerfallene politische System interveniert Le Pen, wenn sie sich –im Gegensatz zu ihrem Vater damals – auf die Seite des Protests stellt.

Nach den Zugeständnissen in den Gelbwesten-Protesten gilt Macron heute nur noch bedingt als Garant der Aufstiegsorientierten und der Pensionäre. Sein prekäres Bündnis aus Modernisten der ehemals linken und rechten Parteien ist intern von Kräften bedroht, die auch in diesem sozialen Konflikt eher zurückweichen wollen. Für den Staatspräsidenten hat mit dem Streik, in den Eisenbahner, Busfahrer, Lehrer, Krankenpfleger und andere Berufsgruppen getreten sind, die neue Kraftprobe gerade erst begonnen. Auch 1995, vor der ersten Demonstration, sagte der Premierminister Alain Juppé, er werde sein Gesetzesvorhaben niemals zurückziehen.

»Die Dinge entwickeln sich schnell. Die Wut ist groß. Die Regierung sollte vorsichtig sein«, meint Philippe Martinez, der Generalsekretär der CGT. Auch zu Beginn der Woche fuhren nur einer von fünf Hochgeschwindigkeitszügen, drei von zehn Regionalzügen und nur die beiden automatisierten Metrolinien. Das ist eine hohe Beteiligung angesichts der Tatsache, dass es keine zentralen Streikkassen gibt und täglich dezentral über die Fortsetzung des Streiks abgestimmt wird.

Knickt Premier Philippe ein, ist Macrons Glaubwürdigkeit dahin. Und das nicht nur in Frankreich. Auch auf europäischer Ebene hätte es der Franzose dann schwer, die von ihm angestrebte Führungsrolle wahrzunehmen. Macrons »Republik in Bewegung« wäre durch die Macht der Straße zum Stillstand gekommen.

Auch für die Gewerkschaften steht viel auf dem Spiel. Sie finden in den Organisationen, die ihnen in der Privatwirtschaft den Rang abgelaufen haben, bisher kaum Unterstützung. Sie haben im politischen Raum keine Verbündeten mehr oder wenigstens Formationen, die Macron ablösen könnten.

Unter den früheren Bedingungen eines funktionierenden Parteiensystems musste es nicht unbedingt die Aufgabe von Gewerkschaften sein, sich über die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen oder die Staatsverschuldung Gedanken zu machen. Aber in der gegenwärtigen politisch-ökonomischen Transformationsphase gibt es keine konzeptionellen Vorstellungen auf der Linken für deren Gestaltung, die sich mit der Volksfront 1936 vergleichen ließen, als die Einführung eines bezahlten Urlaubs, Arbeitszeitverkürzung und neue kulturpolitische Konzepte den beschleunigten Übergang der gesellschaftlichen Betriebsweise in den Fordismus attraktiv machten.

Die Linke löste damals nicht nur bei Intellektuellen und Künstler*innen Begeisterung aus, sondern fand auch die Unterstützung der Modernisten im bürgerlichen Lager. Dies versprach auch für das Kapital die vergleichsweise reibungslose Transformation in den Fordismus und ermöglichte für die Lohnabhängigen die soziale Ausgestaltung, die auf antagonistische Weise erst nach der Nazi-Besetzung in den »Trentes Glorieuses« voll zum Tragen kam. Das bewahrte das Land vor einer Machtübernahme der Reaktionäre und Faschisten, die bereits täglich tödliche Revolten inszenierten.

Anmerkung

[1] Siehe hierzu Bernhard Sander, Frankreich – die extreme Rechte vor einem weiteren Durchbruch, in: Sozialismus.de, Heft 11/2019.

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