11. März 2022 Redaktion Sozialismus.de: Der Nationale Volkskongress berät über die Zukunft
Die Volksrepublik China vor Herausforderungen
In Beijings Großer Halle des Volkes berät der Nationale Volkskongress mit 3.000 Delegierten eine Woche lang über die zukünftige Entwicklung des Landes, und lobt sich nebenbei für die Errungenschaften des Landes.
Nach dem Parteikongress im Herbst des letzten Jahres ist es das zweitwichtigste Treffen für Chinas Politiker*innen. Der Volkskongress ist das oberste Gesetzgebungsorgan der Volksrepublik. Aus westlicher Sicht handelt es sich nur um ein »Scheinparlament«, da es unter der Kontrolle der kommunistischen Partei Chinas stehe. Die Reden von Staats- und Parteichef Xi Jinping und seinen Ministern sowie die gefassten Beschlüsse sind gleichwohl verbindliche Vorgaben für die innen- wie auch außenpolitische Strategie des Landes.
Zu Beginn der jährlichen Tagung blickt die Regierung in einem Arbeitsbericht zurück auf die Leistungen im vergangenen Jahr und setzt die Ziele für das neue Jahr. Dazu gehört neben einem BIP-Wachstum von circa 5,5% auch die Erhöhung des Verteidigungshaushalts um 7,1%, um die nationale Sicherheit weiterhin gewährleisten zu können.
Ministerpräsident Li Keqiang sorgte mit seiner Ankündigung zu dem Wachstumsziel für Überraschung, auf das sich die führenden Politiker des Landes verständigt haben. Im Jahr 2020 hatte die KP-Führung wegen der Pandemie darauf verzichtet, ein Ziel für das Wirtschaftswachstum auszugeben. Im vergangenen Jahr stieg das Bruttoinlandsprodukt (PIB) dann doch um 8,1%. Allerdings war das Wachstum nicht stetig, im ersten Quartal wurde noch ein Wert von 18,3% verzeichnet, im letzten Quartal 2021 waren es »nur« noch 4%.
Die Planvorgabe von 5,5 % ist das niedrigste Wachstumsziel seit drei Jahrzehnten, aber am oberen Ende der Erwartungen. Außerdem sollen elf Millionen neue Arbeitslätze geschaffen werden, während die Konsumentenpreisinflation 3% nicht übersteigen soll. Die Ausgaben für das Militär sollen um 7% steigen. Das Wachstumsziel basiere auf der Wahrung einer stabilen Beschäftigung, der Grundbedürfnisse und dem »Schutz vor Risiken«, sagte Li in seiner Rede, die als chinesische Version einer Rede an die Nation gilt.
Er versprach Steuererleichterungen und Maßnahmen zur Stabilisierung der Immobilienpreise und der Märkte, um das Wachstum zu fördern: »Die Erholung des Konsums und der Investitionen verläuft schleppend«, und es werde zunehmend schwierig, das Wachstum bei den Ausfuhren aufrechtzuerhalten. China, das lange Jahre eine Lokomotive der Weltwirtschaft war, steht vor den größten Herausforderungen seit mehr als zwei Jahrzehnten. Die Turbulenzen am Immobilienmarkt, die Corona-Pandemie, hohe Rohstoffpreise, aber auch strukturelle Probleme wie die rasch alternde Gesellschaft sorgen für kräftigen Gegenwind. Der Krieg in der Ukraine und die geopolitischen Verwerfungen könnten den Druck noch verstärken.
Programm der KP und Regierungsagenda
Wachsender Wohlstand für die Bürger*innen und sicherer Arbeitsplätze sind die wichtigsten Vorgaben. Daran wird der Vorsitzende der Kommunistischen Partei und Präsident der Volksrepublik China Xi Jinping gemessen und das Erreichen dieser Ziele hat ihn in den letzten zehn Jahren so mächtig gemacht. Im Herbst auf dem Parteitag der Kommunistischen Partei werde er – so die Vermutungen – sich seine Machtausübung in Staat und Partei verlängern lassen – und zwar auf unbestimmte Zeit. Ein Novum in der Geschichte der modernen Chinas.
Wirtschaftliche Stabilität, national wie international, die sichere Versorgung mit Rohstoffen (u.a. Ausbau der neuen »Seidenstraße«), ein stetiger geostrategischer Machtzuwachs (auch durch Aufrüstung und Zurückdrängen von USA und NATO), Brechen der Dominanz des demokratischen Westes in internationalen Institutionen und ihrer Einflusssphären (»Kampf der Systeme«) – das sind die weiteren zentralen Ziele wie Bausteine für die Kommunistische Partei und Xi Jinping.
Auf dem Volkskongress musste die Führung anders als in den vergangenen Zeiten die Republik auf größere wirtschaftliche Unsicherheiten einstimmen. Die zweitgrößte Ökonomie der Erde steht unter dreifachem Druck: schrumpfende Nachfrage, gestörte Lieferketten und sich abschwächendes Wachstum. Chinas Regierung will mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen die schwächelnde Konjunktur stützen.
Im Mittelpunkt stehen Erleichterungen für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sowie Solo-Selbständige. Diese sollen in den Genuss von Steuerkürzungen und niedrigeren Abgaben kommen. Insgesamt plane die Regierung Steuererleichterungen und Reduzierungen von Abgaben in Höhe von umgerechnet mehr als 350 Mrd. Euro, sagte Li. Außerdem will Peking dafür sorgen, dass die Banken des Landes vermehrt Kredite an KMU vergeben. Li peilt eine Steigerung von 40% für das laufende Jahr an. Bisher scheuen sich die zumeist staatseigenen Institute, die zumeist privaten KMU mit Krediten zu versorgen, weil ihnen das Risiko von allfälligen Kreditausfällen zu groß ist.
Keine Abstriche beim Militär
Der Verteidigungshaushalt wird zu einem Anstieg von mehr als 7% zurückkehren – die höchste Wachstumsrate des Verteidigungshaushalts seit Beginn der COVID-19-Pandemie. Für 2021 war noch ein Wert von 6,8% und für 2020 von 6,6% angesetzt worden. Seit 2016 hat China sein jährliches Wachstum im Verteidigungshaushalt stets im einstelligen Bereich gehalten.
Die Erhöhung des Verteidigungsbudgets für 2022 erfolgt vor dem Hintergrund einer instabilen Sicherheitslage in Chinas Umgebung und um die militärische Modernisierung voranzutreiben. Das Ziel sei Dank des positiven Wirtschaftswachstums, das durch Chinas wirksame COVID-19-Präventions- und Kontrollmaßnahmen erreicht wurde, auch realisierbar.
Ein chinesischer Militärexperte erläuterte: Die Aufstockung des Militärbudgets sei angemessen und vernünftig: Bis zum 100. Jahrestag der Gründung der chinesischen Volksbefreiungsarmee im Jahr 2027 soll das Jahrhundertziel der umfassenden militärischen Entwicklung erreicht werden. Bis 2035 soll das Land dann die Modernisierung seiner nationalen Verteidigung und seiner Streitkräfte erreichen, hieß es auf der Sitzung des Volkskongresses.
Die Aufstockung des Budgets sei notwendig, weil einige externe Akteure ihre militärischen Einsätze ständig verstärken und in Chinas unmittelbarer Nähe Unruhe stiften würden. Dazu gehörten die provokativen monatlichen Durchfahrten von Kriegsschiffen des US-Militärs in der Straße von Taiwan, Aufklärungsflüge mit Spionageflugzeugen im Ostchinesischen Meer und im Südchinesischen Meer sowie das Eindringen von Kriegsschiffen in chinesische Hoheitsgewässer im Südchinesischen Meer.
Darüber hinaus dürfe man auch die Mobilisierung von US-Verbündeten wie Frankreich, Deutschland und Großbritannien nicht vergessen. Auch diese Länder würden Kriegsschiffe entsenden und sich den Maßnahmen zur Unruhestiftung in der Region anschließen, kritisierten mehrere Experten.
China lehne separatistischen Aktivitäten, die auf die Unabhängigkeit Taiwans abzielen sowie jegliche ausländische Einmischung entschieden ab, heißt es im Arbeitsbericht der Regierung. Nur mit einem ausreichenden Verteidigungshaushalt könne das chinesische Militär ein besseres Sicherheitsumfeld schaffen und Chinas nationale Souveränität und territoriale Integrität schützen.
Wachstumsziele und eine unsichere Gründungsoffensive
China hat das Wachstumsziel für dieses Jahr auf rund 5,5% festgelegt. Angesichts der Ukraine-Krise und der damit verbundenen Lieferketten-Engpässe sowie des Preisanstiegs bei Rohstoffen hatten Experten mit einem niedrigeren Wachstumsziel gerechnet. Premierminister Li Keqiang hatte auf »Risiken aus dem Ausland« und ein »zunehmend volatiles und unsicheres externes Umfeld« verwiesen. Der Krieg in der Ukraine wurde nicht explizit erwähnt.
Trotz dieser Risiken sei die chinesische Wirtschaft am besten auf die globalen Verwerfungen vorbereitet. Seit einigen Jahren arbeitet man mit Hochdruck an der Konzeption der »zwei Kreisläufe«. Ein Binnenkreislauf soll möglichst autark funktionieren, während man in einem zweiten Wirtschaftskreislauf die Außenwirtschaftsbeziehungen regele: Hier liege das Hauptgewicht auf der Stärkung der Exporte.
Die Umsetzung einer Strategie der innovationsgetriebenen Entwicklung werde von grundlegender Bedeutung sein, um den Wandel des chinesischen Wachstumstyps zu beschleunigen, die tief verwurzelten Probleme der wirtschaftlichen Entwicklung zu lösen und die wirtschaftliche Vitalität zu steigern, machte KP-Chef Xi deutlich. Deswegen will man die einheimische Produktion von Weizen um 650 Millionen Tonnen steigern. Er betonte mehrfach, wie wichtig Lebensmittel- und Energiesicherheit seien.
China dürfe sich nicht mehr auf Importe aus dem Ausland verlassen. Xi wies darauf hin, dass gerade die Versorgung mit Nahrungsmitteln der Menschen am wichtigsten sei und erinnerte daran, dass das Land lange eine unterernährte Bevölkerung von 400 Millionen hatte. Heute könnten 1,4 Milliarden Menschen gut und mit einer großen Auswahl von qualitativ hochwertigen Lebensmitteln versorgt werden. Trotz Chinas Industrialisierung sollte die Nahrungsmittelversorgung nie als unbedeutendes Problem betrachtet werden, und wir man könne sich nicht nur auf den internationalen Markt verlassen, um sie zu lösen, warnte er. China sei zudem in der Lage, ein Fünftel der Weltbevölkerung mit 9% des Ackerlandes und 6% der Süßwasserressourcen zu versorgen.
Anlässlich der jährlichen »zentralen ländlichen Arbeitskonferenz« bekräftigten die chinesischen Führungskräfte, dass das Land jederzeit seine eigene Nahrungsmittelversorgung sicherstellen müsse, was den Schutz des Ackerlandes und der Stabilisierung der Getreideproduktion unterstelle. Chinas Haltung zur Gewährleistung der Ernährungssicherheit ist seit Jahren dieselbe. Die Sicherheit der entsprechenden Ressourcen hänge mit der nationalen Sicherheit zusammen, betonte Xi. Bei der Entwicklung der Saatgutindustrie des Landes seien Anstrengungen erforderlich, um die Eigenständigkeit in der Saatguttechnologie zu erhöhen. Zudem betonte er die Bedeutung der Reform des agrarwissenschaftlichen Mechanismus und der tragenden Rolle der Unternehmen.
Hinzu komme, so Xi, die langfristige Aufgabe, die »Lebensmittelverschwendung in der Gastronomie zu stoppen, […] wir müssen am Ball bleiben und weiter daran arbeiten, eine ressourcenschonende Gesellschaft aufzubauen«. China hat zudem das Ziel, gemäß einer Richtlinie der Akademie der Agrarwissenschaften (CAAS) für den 14. Fünfjahresplan bis 2025 ein modernes agrarwissenschaftliches und technologisches Innovationssystem aufzubauen.
Xi wies auch darauf hin, dass weitere Anstrengungen unternommen werden müssten, um die qualitativ hochwertige Entwicklung der sozialen Sicherheit zu fördern. Es müsse ein besseres soziales Sicherheitsnetz entwickelt werden, um das Wohlergehen der Menschen zu gewährleisten.
Ministerpräsident Li erklärte in seinem Rechenschaftsbericht, dass die Regierung die Arbeitslosenquote in den Städten in diesem Jahr auf maximal 5,5% begrenzen will. Bis Ende Jahr sollen in den Städten 11 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen. Im Zuge der Konjunkturabkühlung wird es gerade für Hochschulabsolventen immer schwieriger, adäquate Jobs zu finden. Für das laufende Jahr rechnen die Behörden mit weiteren 10 Millionen Hochschulabgängern.
Gerade im Dienstleistungssektor gebe es »große Kapazitäten« für Beschäftigung, erklärte er. Weil aber vor allem Gastronomie, Hotellerie, der Tourismus und der Detailhandel unter den rigiden Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung litten, wolle man diesen Firmen ganz besonders helfen. Lis Aufruf an junge Chines*innen, sie möchten bitte eigene Firmen gründen, ist angesichts des rauen Konjunkturklimas jedoch wenig überzeugend.
Die geplanten Maßnahmen der Regierung könnten dafür sorgen, dass sich die Wirtschaft im zweiten Halbjahr ein wenig stabilisiert. Eine nachhaltige Erholung dürfte aber erst in Sicht kommen, wenn der Zentralstaat sein rigides Regime zur Pandemiebekämpfung lockert. Danach sieht es vorerst nicht aus. Zwar werde man die Maßnahmen ständig überarbeiten, versprach Li. An den Außengrenzen aber würden die Kontrollen noch verschärft.
Stabilität in unsicheren Zeiten einer »neuen Weltordnung«
Wirtschaftliche Stabilität müsse »oberste Priorität« haben, sagte Li vor den Delegierten. Chinas Wirtschaft ist zentraler Motor für die globale Wirtschaft und auf nationaler Ebene entscheidend für die Kommunistische Partei. Deren Legitimität stützt sich zu großen Teilen auf stetiges wirtschaftliches Wachstum und die Verbesserung des Lebensstandards.
In diesem Jahr sind von der Sitzung des Nationalen Volkskongresses im Unterschied zu den vergangenen Jahren keine bedeutenden neuen Gesetze zu erwarten. Allerdings werden Diskussionen über Strategien zur Steigerung der Geburtenrate erwartet, nachdem diese im vergangenen Jahr auf ein Rekordtief gefallen war. Li kündigte eine bessere Unterstützung für Familien an, um einer befürchteten demographischen Krise entgegenzuwirken.
Auf Russlands Krieg gegen die Ukraine ging Li trotz der damit verbundenen Unsicherheiten nicht ein. China hat eine öffentliche Verurteilung des Vorgehens Russlands bislang vermieden. In der zuvor veröffentlichten Erklärung aus Anlass des Besuches von Präsident Putin heißt es: Die Demokratie sei ein »universeller Wert«, Einmischungen in die inneren Angelegenheiten anderer Länder werden kritisiert. China unterstützt die Kritik Russlands an der NATO-Erweiterung. Die »neuen« Beziehungen zwischen Russland und China seien der politischen und militärischen Allianz des Kalten Krieges überlegen, heißt es.
Beim Treffen am Tage der Eröffnung der Olympischen Winterspiele vereinbarten die beiden Länder zudem, dass Russland China Öl und Gas im Volumen von umgerechnet gut 100 Milliarden Euro liefern wird. Schon jetzt ist Russland drittgrößter Gas-Lieferant des weltgrößten Energieverbrauchers.
Historisch gesehen standen sich China und Russland oft misstrauisch gegenüber. Doch jetzt, wo sich beide Staaten durch die sicherheitspolitischen Initiativen von USA und auch NATO militärisch bedrängt zeigen, sieht China die Präsenz der USA vor »seiner Haustür« im Indopazifik als Bedrohung. Dabei hofft China auf russische Unterstützung bei den Territorialstreitigkeiten mit Nachbarn im Süd- und Ostchinesischen Meer wie auch der angestrebten Lösung des Taiwan-Problems.
Moskau wiederum, das angesichts der weltweiten Sanktionen vor dem wirtschaftlichen Kollaps steht, hofft darauf, dank China den Zusammenbruch zu verhindern und mittelfristig den Finanzsektor und die Wirtschaft wieder aufzubauen und die Versorgung der russischen Bevölkerung zu gewährleisten.
China ist in diesen Tagen bemüht, in seinen diplomatischen Botschaften Russlands militärisches Vorgehen in der Ukraine nicht direkt zu kritisieren und zeigt Verständnis für Putins geostrategische Positionen. Auf der anderen Seite bemüht sich Xi Jinping um diplomatische Lösungen zur Beendigung des Krieges, um einerseits Schaden für die weitere ökonomisch-politische Entwicklung der Volksrepublik abzuwenden und andererseits die Beziehungen zu Europa und den USA nicht weiter zu beschädigen.
Mehr Bedeutung als dem Nationalen Volkskongress kommt im November 2022 dem 20. Parteikongress der Kommunistischen Partei zu. Dort will Staatspräsident Xi Jinping ein drittes Mal als Parteiführer im Amt bestätigt werden.