30. März 2015 Bernhard Sander: Zweiter Wahlgang bestätigt Rechtsruck
Die »Waisen der Linken« Frankreichs?
Bei der zweiten Runde der Départements-Wahlen in Frankreich hat sich der Rechtsruck bestätigt. Von 61 Départements sind der Linken 34 geblieben: eine Abstrafung. Die Wahlbeteiligung war erneut schlecht, auch wenn sie nicht unter das Niveau des ersten Wahlgangs sank. Obwohl der Front National in 43 von 98 Départements stärkste Partei wurde, konnten die Rechtspopulisten kein Département für sich gewinnen.
Zwar war gut ein Viertel der UMP-WählerInnen entschlossen, die Stimme auf den Front national zu übertragen, wo es zu Gegenüberstellungen zu Kandidaten der Linken/Sozialdemokraten käme. 85% der PS-Anhängerschaft stimmte in republikanischer Disziplin gegen die Rechtspopulisten, wenn der linke Kandidat nicht mehr im Rennen war. Nur die Hälfte der UMP-WählerInnen zeigte sich in einer Umfrage bereit, der Empfehlung Sarkozys des »Weder-noch« zu folgen. Es gibt also wohl keine Sarkozy-Dynamik.
Marin Le Pen hat in einem Interview mit Le Monde den Blick bereits fest auf die nächste Stufe gerichtet. Es gebe »keine gläserne Decke«. »Es installiert sich eine einige Kraft – der FN – gegenüber einem System –dem UMPS. Lokal auf einem historisch hohen Niveau. Die Frage ist, was bei den Regionalwahlen passieren wird. Wird es in der zweiten Runde dann eine Fusion von PS und UMP geben, was einen Zusammenbruch bei den Präsidentschaftswahlen auslösen wird. Oder wird einer der beiden zum Rückzug gezwungen, was bedeutet, dass ein Parteischild für sechs Jahre aus einer Region mit Millionen von Einwohnern verschwinden wird. Die Falle schließt sich um sie. Und sie wissen es.« Der FN setzt weiterhin auf »lokale Verankerung, Professionalisierung, Normalisierung«.
In verschiedenen großen Stichproben nach der Wahl gewinnt man von den WählerInnen der Sarkozy-Partei UMP und den WählerInnen des Front National ein relativ klar abtrennbares Bild: Nirgendwo ist die Ablehnung eines Euro-Ausstiegs so stark wie unter den WählerInnen der UMP (40% gegen den Ausstieg – positiv dazu eingestellt 10%). Anders als vor der Wahl abgefragt, waren 70% der UMP-Wählerschaft in den Einkommensgruppen 2.000-3.500 Euro im Monat bzw. darüber.
Sarkozy ist es gelungen, die größeren Teile der Mittelschichten bei der UMP zu halten, da der ökonomisch-soziale Erosionsprozess Frankreichs einstweilen an Fahrt verloren hat. Er punktete vor allem bei den RentnerInnen (37%), die auch noch weit überdurchschnittlich zur Wahl gingen (69%). Le Pen konnte bei den RuheständlerInnen nur 20% erzielen, denen bei ihren Altersbezügen in der Null-Zins-Phase vermutlich die Schweißperlen auf die Stirn treten. Bei WählerInnen mit selbstgenutztem Wohneigentum erzielte Sarkozy ähnlich hohe Zustimmung (37%). Der Anteil unter den christlich gebundenen und praktizierenden WählerInnen ist bei der UMP sehr hoch (51%).
Sarkozy ist zwar in mehrere Strafverfahren verstrickt, erscheint aber den UMP-AnhängerInnen als Hoffnungsträger. Die Gruppen der Erwerbstätigen jenseits der 50 Jahre mit den mittleren Einkommen oberhalb des Durchschnitts (2.000-3.000 Euro) neigten bis kurz vor der Wahl zu großen Teilen dem FN zu; der Swing zurück erscheint in zugespitzter Situation wieder möglich.
Aber diesmal blieben diese abstiegsbedrohten Mittelschichten bei Wahlen vorsichtig, denn es geht bei der Wahl des FN immer auch ums eigene Portemonnaie. Sie scheuen die Risiken mit ungewissem Ausgang wie dem Euro-Ausstieg. Daran änderte auch die Wahlkampfhilfe der Attentäter von Tunis nichts.
Sarkozys Polemik gegen den FN, er treibe dasselbe Spiel mit der Sozialromantik wie Syriza, verhinderte erfolgreich den Absprung der verunsicherten Mittelklassen. Er will auch weiterhin keine Rücksicht auf die Hungerleider und Kostgänger der »Leistungsträger« nehmen. Umso mehr könnte der FN den Kulturkampf forcieren, mit dem er bereits tief in die UMP-Anhängerschaft eingedrungen ist, und die Stigmatisierung muslimischer und anderer Bevölkerungsteile radikalisieren.
Dass man sich in Frankreich nicht mehr zuhause fühle und traditionelle Werte nicht mehr genügend gewürdigt werden, ist gemeinsame Grundüberzeugung der FN- und UMP-Anhängerschaft. Man teilt die Auffassung, dass es zu viele Einwanderer gebe und dem Islam und den Moslems zu viele Rechte zugestanden werden. Man müsse gegen Kleinkriminelle und Rückfalltäter mit harter Hand vorgehen.
In diesem trüben Brei aus Ressentiments, in dem FN- und UMP-WählerInnen rühren, versucht die UMP der Abwerbung von WählerInnen vorzubeugen, indem sie gegen die »Parallelgesellschaft« polemisiert, die der PS fördere. Wahlkampfmunition dafür liefert vielleicht der Umstand, dass die Sozialdemokraten unter den Moslems einen fast dreimal so hohen Stimmanteil erzielen konnten wie im Landesdurchschnitt, und auch der Front de Gauche mit 12% hier doppelt so gut abschnitt wie im Durchschnitt, aber diese Wählergruppe ist quantitativ gering. Deren sozialen und kulturellen Belange finden allerdings in der gesamten Linken keine Berücksichtigung.
Die Übernahme der anti-islamischen Rhetorik produziert in der UMP interne Spannungen, die die Bereitschaft in den Kreisen um die unterlegenen Kandidaten um den Parteivorsitz fördert, sich mit einer vom sozialistischem Traditionsbezug geläuterten PS zu einer neuen Formation der Moderne zusammenzutun.
Derzeit scheint die Mehrheit in der UMP entschlossen, das Feld der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit den »Frontisten« streitig zu machen. Eine Eheschließung im exklusiven Nice verweigerte der UMP-Bürgermeister (das Departement Var hatte beste Aussichten, an den FN zu gehen) mit dem Hinweis auf der Zugehörigkeit zu einer islamistisch-dschihadistischen Vereinigung. Dies ist aufgrund einer Änderung des bürgerlichen Gesetzbuches aus dem Jahr 2006 (Sarkozy) möglich. Die Republik gibt sich selbst auf. Statt Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gilt die Uminterpretation Laizität, Mehrheitsgesellschaft, Exklusion.
Le Pen erzielte ihre stärksten Zustimmungsquoten bei den Monatseinkommen unter 1.000 Euro, wo auch Front de Gauche-Kandidaten punkteten, bzw. unter 2.000 Euro, also bei den ärmeren und den unteren mittleren Einkommen. Der Facharbeiter- bzw. Angestelltenlohn lag 2010 bei etwa 1.650 Euro landesweit. Auch unter den MieterInnen von Sozialwohnungen erzielte Madame Le Pen einen Stimmenanteil von etwa einem Drittel (durchschnittlich ein Viertel). Hohe Anteile hat der Front National auch bei den erwerbsfähigen Altersgruppen, insbesondere zwischen 50 und 64 Jahren (34%), bei Geschiedenen und frei Zusammenlebenden. Eine Verschärfung des sozialen Diskurses würde den FN zweifelsfrei in Konfrontation mit den realen Besitz- und Verteilungsverhältnissen bringen. Das bleibt das Feld der Linken, hier könnte sie gegen die Ressentiments punkten.
Die Rechtspopulisten sind keine Partei der Jugend. In der Gruppe der 25 bis 34-jährigen erzielten sie zwar 29%, aber hier liegt die Enthaltung auch bei 66%. In ihren Ohren muss die Aussage des Wirtschaftsministers über den Sinn des Regierungshandelns wie Hohn klingen: »Die Jugend kann davon träumen, Millionär zu sein.« Der Unterschied zu Sarkozys »Ein gelungenes Leben ist die Rolex mit 50« ist nicht mehr zu erkennen.
Der Front National hat ebenfalls überdurchschnittlich gute Resultate (48/38%) unter den einfachen Arbeitern und Angestellten, aber die Wahlbeteiligung auch dieser Schichten liegt unter dem Durchschnitt (36/48%).
Die WählerInnen Mélenchons und des Front de Gauche sind verbreiteter den Urnen fern geblieben als andere politische Familien (56 bzw. 53%), und Sarkozy konnte mit 61 bzw. 71% überdurchschnittlich die AnhängerInnen der UMP und seiner Person zur Wahl motivieren (was man in diesem Lager auch als ein Signal werten muss, dass man die selbstzerstörerischen Grabenschlachten der Partei-Granden leid ist). Selbst das PS/Hollande-Umfeld beteiligte sich stärker an der Wahl. Den Spitzenwert erzielte aber der FN: Die wiederholte Versicherung Marine Le Pens, man sei die stärkste Partei Frankreichs, mobilisierte 74% derjenigen, die schon bei der EU-Wahl hingingen. Das konnte im zweiten Wahlgang nur nachlassen.
Die Reserven des Front National, aber auch der Linken sind bei den NichtwählerInnen sehr hoch. Denn unter ihnen ist der Anteil Zahl der Sozialmieter (61%), der Kleinsteinkommen (63%) und der frei Zusammenlebenden (61%) sowie der nicht praktizierenden Christen und der Moslems (62%) enorm. In diesen Kreisen, die nicht zur Urne gegangen sind, werden zur Hälfte Meinungen vertreten, die auch stark bei den FN-WählerInnen zu finden sind: Frankreich müsse sich schützen, die Zugehörigkeit Frankreichs zu Europa sei keine gute Sache, und man stehe positiv zum Ausstieg aus dem Euro bzw. zur Rückkehr zum Franc.
Für die Linke stellt sich damit die Frage, welchen Sinn die gleichgerichtete Agitation gegen Brüssel macht. Es ist zwar richtig, dass in einer Währungsunion die Konkurrenz auf den Märkten über die Kostenfaktoren Steuerquote, Lohnhöhe usw. geführt wird, und die Unternehmen entsprechend versuchen, ihre Machtmittel und ihren Einfluss bei der Regierung und bei der Kommission in diesem Sinne zu nutzen. Auf dieser Argumentation aufbauend hat der FN jedoch einen ideologischen Vorsprung, in dem Brüssel und den jeweiligen willfährigen Handlangern im Elysées-Palast die Schuld am Lohndumping durch Einwanderer, an fehlenden Handelshemmnissen gegen Billigimporte, Nahrungsmittelverfälschung (Chlorhühnchen, mal-bouffe) und Unterminierung der Lebensweise der Mehrheit zugewiesen wird.
Für die Linke ist also in solcher Polemik gegen die EU-Kommission kein Land mehr zu gewinnen. Der Versuch, den in nationalen Grenzen definierten Sozialstaat zu verteidigen, erweist sich als immer schwieriger, und wird in der sozialen Agitation des FN (»an eurer Verarmung sind die zuwandernden Hungerleider schuld«) aufgesogen. Die gänzlich andere Richtung wäre ein Sofortprogramm: Aufbruch für den Mittelstand, Infrastruktur auf dem Land aufbauen, Industriearbeitsplätze und Verteidigung sozialer Mindeststandards.
Die These vom Dreiparteiensystem dient dem Zweck, alles hinter die Positionen der Sozialdemokraten zurücktreten zu lassen. Die Linke der Linken, will sie sich nicht neoliberalen Glaubenssätzen und dem Diktat der EU-Kommission und der deutschen Bundesregierungen unterordnen, kann nur eine Chance haben, wenn die Mobilisierung der PS-Dissidenten, der Rest-Grünen, der Kommunisten und vor allem der NichtwählerInnen für ein Sofortprogramm, das die aktuellen Notstände beseitigt und erste Schritte zu einem anderen Politikweg/Transformation gelingt. Das wäre aber erst noch zu schreiben.
Pierre Laurent, Vorsitzender der Kommunistischen Partei und der Europäischen Linkspartei, appellierte noch in der Wahlnacht an die verschiedenen oppositionellen Strömungen und rief zur Bildung einer gemeinsamen Plattform mit dem Anspruch auf, die Mehrheit zu gewinnen. Dem PCF, in den 1970er Jahren noch eine der stärksten Kommunistischen Parteien im Westen und heute das Rückgrat der Linksfront, verbleibt von zwei Départements nun nur noch Val de Marne. Weder stellt man sich der Frage, warum die Enttäuschung über die regierenden Sozialdemokraten an der Macht sich nicht in ein linkes Votum umsetzt – man rechnet sich das Ergebnis mit 9,4% eher schön. Noch kommt man aus der Logik heraus, Regierungsmaßnahmen auf der Straße kritisieren und abwehren zu können.
Die Linke mobilisiert nicht mehr. In einem Viertel der Wahlbezirke schied sie schon nach der ersten Runde aus, ein böses Omen für die Präsidentschaftswahl. Nicht nur für die Sozialdemokraten stellt sich die Frage nach der Identität, die Le Pen nationalistisch und anti-islamisch beantwortet. Die gesellschaftliche Spaltung zwischen oben und unten hat dazu geführt, dass der PS oftmals diejenigen Départements verliert, in denen die ärmeren Schichten besonders stark vertreten sind, die nicht mehr zur Wahl gehen. Der Soziologe François Miquet-Marty spricht in Libération von den »Vergessenen der Demokratie«, die aber auch die »Waisen der Linken« sind, »Wähler, die nicht mehr glauben, dass man sich noch um sie kümmert und wo der PS auch gar nicht mehr vorhat, das zu tun«.
Das Front de Gauche-Mitglied Christian Picquet benennt vier Herausforderungen für die Linke: 1. Die Wahlenthaltung der Hälfte der Bevölkerung, nachdem noch »2012 die Mehrheit der Arbeiter und Angestellten, der Arbeitslosen und der prekär Beschäftigten, vor allem in der Jugend einen Kandidaten der Linken gewählt haben«. 2. Der Aufstieg des Front National, dessen Politik des Ressentiments und der Sündenböcke gerade bei den ärmeren Schichten verfange, um die man sich mit der Linken streite. 3. Die Gefahr für die Linke, in einer Konfrontation von rechts und ganz rechts zerrieben zu werden. 4. Die Krise der Linken selbst, zu der die Wählerschaft auf Distanz gehe, weil sie kein Interesse an politischen Manövern hat.
Einen Syriza-Effekt aufgrund der Vielfalt von Listenverbindungen mit Sozialdemokraten, Ökologen, Bürgerinititativen usw. hat es nicht gegeben. »Das politische Angebot muss die Form eines Programms der nationalen Erneuerung, des wirtschaftliches Aufbaus, des sozialen Fortschritts und der Erneuerung der Demokratie annehmen.«