3. Juni 2022 Björn Radke: 50 Jahre nach der ersten Umweltkonferenz in Stockholm
»Die Welt muss lernen, mit mehreren Krisen fertig zu werden!«
Stockholm war 1972 Schauplatz der ersten Konferenz der Vereinten Nationen, die sich mit Fragen der Umwelt des Menschen beschäftigt hatte. Das Treffen gilt somit als Geburtsstunde der internationalen Umweltpolitik und zur Gründung des UN-Umweltprogramm UNEP führte.
Heute, nach 50 Jahren, findet das zweite Treffen dieser Art statt unter dem Motto »Ein gesunder Planet für den Wohlstand aller – unsere Verantwortung, unsere Chance«. Allzu hohe Erwartungen an die Ergebnisse dieses Treffen dürften aber nicht geknüpft werden, denn die UNEP-Chefin Inger Andersen machte klar, es handle sich um keine Konferenz, auf der Vereinbarungen verhandelt würden. Vielmehr gehe es darum, Ideen zusammenzubringen und die globale Umweltagenda voranzubringen.
Angesichts der Tatsache, dass der Angriffskrieg Russlands die vorherrschende öffentliche Wahrnehmung prägt, warnte sie davor, andere globale Krisen wegen des Ukraine-Kriegs nicht zu vergessen. »Die Welt muss lernen, mit mehreren Krisen fertig zu werden und nicht eine zugunsten einer anderen loszulassen«. Die Solidarität mit den Menschen, die unter Krieg litten, sei groß. Dies dürfe jedoch nicht bedeuten, dass man anderes außer Acht lassen könne.
Schweden richtet die zweitägige Umweltkonferenz gemeinsam mit Kenia und in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen aus. Wie zu erwarten, ist den Klima- und Umweltaktivisten eine unverbindliche Jubiläumsveranstaltung zu wenig und sie kritisierten, dass der Gipfel keine neuen Verpflichtungen und konkrete Beschlüsse zutage fördern wird. UNEP-Chefin Andersen sagte dazu, 50 Jahre globaler Umweltpolitik sollten gefeiert werden.
Zum anderen soll das Treffen auch als Sprungbrett für die Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) und des Pariser Weltklimaabkommens dienen. »Dies ist kein Treffen, das neue Ziele setzt, denn die Welt hat sich bereits ehrgeizige Ziele gesetzt«, sagte Schwedens Ministerpräsidentin Magdalena Andersson. Zweck von Stockholm+50 sei vielmehr, dass nach der Konferenz mehr und dies dann auch schneller getan werde. An Absichtserklärungen zahlreicher Staaten für ein schnelleres Vorgehen im Kampf gegen die ökologischen Krisen des Planeten hat es nicht gemangelt.
»Die natürlichen Systeme der Erde können mit unseren Anforderungen nicht Schritt halten«, sagte UN-Generalsekretär António Guterres. »Wir müssen jetzt unseren Kurs ändern und unseren sinnlosen und selbstmörderischen Krieg gegen die Natur beenden.« Diese Ansicht – viel sei getan worden, aber umso mehr liege noch vor der Menschheit – hallte in etlichen Reden aus den teilnehmenden Staaten wider. Schwedens Regierungschefin Andersson sah die Welt an einer entscheidenden Kreuzung, an der die Umsetzung von Maßnahmen beschleunigt werden müsse. Die Klima- und Umweltkrise betreffe alle Menschen, aber die Ärmsten würden am härtesten getroffen.
Unbestreitbar ist im Rückblick die weltweite Sensibilität für Umweltfragen gestiegen. Im Dezember 1968 lieferte die Apollo-8-Mission der NASA das erste Foto des gesamten und vollständig beleuchteten Planeten und zeigte die Erde als Kugel im Universum. Das Ende des Jahres war damals geprägt vom Krieg in Vietnam, dem Kalten Krieg mit dem Wettrüsten zwischen den Systemblöcken, der Ermordung Martin Luther Kings, der Niederschlagung des Prager Frühlings und anderen Krisen. Dann flimmerte am 24. Dezember 1968 eine Aufnahme in die Wohnstuben, die der Menschheit vor Augen führte, wie klein und zerbrechlich ihr Planet war. »Die Erde ist winzig, ein unbedeutendes Sandkorn im Universum«, sagt Astronaut Bill Anders im Rückblick. »Aber es ist unser einziges Zuhause, also sollten wir besser darauf aufpassen.«
So wahr es ist, dass dieses Bild eine Veränderung des Bewusstseins vieler Menschen weltweit über die Verletzlichkeit des Planeten Erde mit bewirkt hat, so wahr ist aber auch, worauf UN-Generalsekretär Guterres in seiner Eröffnungsrede hinwies: »Aber heute ist das globale Wohlergehen in Gefahr, zum großen Teil, weil wir unsere Versprechen in Bezug auf die Umwelt nicht eingehalten haben.« Mit zunehmender Bevölkerungszahl und größerem Wohlstand sei der ökologische Fußabdruck der Menschheit unerträglich groß geworden.
Die Herausforderungen sind umso größer geworden, je mehr durch viele wissenschaftliche Berichte bestätigt ist, dass das 1,5 Grad Ziel von Paris nicht mehr zu halten ist. Am 28. Februar dieses Jahres stellte der Weltklimarat (IPPC) seinen neuesten Bericht vor. Die weltweit zu beobachtenden Brände, Überschwemmungen und andere Extremwetterereignisse seien als Folgen der Erderwärmung deutlich zu sehen. Der Zeitraum, das Ruder noch herumzureißen, ist laut Weltklimarat begrenzt. Nur zwei Monate später warnt die Weltmeteorologieorganisation (WMO), schon in den nächsten vier Jahren könnte die Durchschnittstemperatur der Erde eine wichtige Schwelle überschreiten. Es bestehe eine 50:50-Chance, dass die globale Mitteltemperatur in mindestens einem der nächsten fünf Jahre zwischen 2022 und 2026 zumindest vorübergehend 1,5 Grad Celsius über dem Niveau vor Beginn der Industrialisierung liegt, schreiben die Expert*innen (siehe dazu auch meinen Beitrag »Klimawandel: Extreme Wetterlagen gefährden globale Ernährung« im Juni-Heft der Printausgabe von Sozialismus.de).
Damit steht der kommende G7-Gipfel am 26.-28. Juni in Schloss Elmau/Bayern unter besonderen Handlungsdruck. Um diesen Druck zu verstärken, fordern nun die nationalen Wissenschaftsakademien in einem dringenden Appell an die sieben Regierungen eine schnelle Abkehr von fossilen Energieträgern. Die nationalen Wissenschaftsakademien der G7 haben bestimmten Themen mit einer gemeinsamen Stellungnahme besonderen Nachdruck verliehen – darunter dem Klimaschutz, dem Schutz der Ozeane und der sogenannten Kryosphäre, der Gesamtheit von Eis und Schnee im Klimasystem. Die G7-Staaten seien für fast die Hälfte der globalen kumulativen Emissionen verantwortlich. Und sie stießen derzeit etwa 25% der jährlichen globalen CO₂-Emissionen aus.
»Alle Hauptemittenten haben die Verpflichtung, ihre wirtschaftliche und technologische Stärke zu nutzen, um bei den Bemühungen um die Erreichung der Ziele des Pariser Abkommens weltweit führend zu sein«, heißt es in der Stellungnahme. Unverzügliches Handeln sei notwendig, schreiben die Akademien weiter: »Aufgrund der relativ langen Fristen und des erforderlichen tiefgreifenden technologischen und sozialen Wandels ist besonders wichtig, die Maßnahmen jetzt umzusetzen und anzupassen, um die Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern zu erreichen.« (Dieses und alle folgenden Zitate sind aus der Presseerklärung der LEOPOLDINA.)
Mit Blick auf die Klimaziele seien folgende Punkte besonders wichtig:
- Viele Sektoren müssten zügig elektrifiziert werden, was zu einem steigenden Strombedarf führe. Eine »fundamentale Transformation« der Energieversorgungssysteme der Welt sei notwendig.
- »Mehr denn je« gelte es, einen Fokus auf erneuerbare Energiequellen zu setzen – vor allem auf Solar- und Windenergie, die schon heute zu wettbewerbsfähigen Kosten zur Verfügung stünden.
- Während vorübergehend Erdgas den Energiemix vervollständigen könne, sagen die Wissenschaftsakademien entschieden: »Höchste Priorität hat der weltweite Ausstieg aus der Kohleverbrennung in Kraftwerken.«
- Der Ausbau eines elektrischen Nahverkehrs müsse vorangetrieben werden.
- Für das Heizen von Gebäuden sollten Solarenergie und Geothermie genutzt werden, außerdem seien neue Standards für den Hausbau erforderlich.
- Auch in der Industrie seien Anpassungen nötig: In der Stahlproduktion könne Wasserstoff verstärkt genutzt werden, für die Herstellung von Glas oder Beton solle verstärkt auf Recycling gesetzt werden.
- Ebenfalls sehen die beteiligten Wissenschaftler*innen Änderungsbedarf in der Landwirtschaft. Sie schlagen etwa vor, die Viehhaltung zu reduzieren und Düngemittel effizienter einzusetzen.
- Darüber hinaus müsse der Entwaldung entgegengewirkt werden, die Wälder von Kohlenstoffsenken in Kohlenstoffquellen verwandele und sich so auf die globale Erwärmung auswirke.
- Ein international koordinierter Mindestpreis für Kohlenstoffemissionen sollte eingeführt werden. »Dies wird dazu beitragen, dass institutionelle und individuelle Verhaltensweisen zugunsten kohlenstoffarmer Produktions- und Verbrauchsentscheidungen angepasst werden.«
Unterzeichnet ist die Stellungnahme von den Leiterinnen und Leitern der Wissenschaftsakademien aus Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien, Japan, Kanada und den USA. Sie schließen mit den Worten: »Auf dem Weg zur Klimaneutralität gibt es noch immer grundlegende wissenschaftliche und technologische Herausforderungen sowie regulatorische, skalierende und soziale Fragen, die angegangen werden müssen. Bei all diesen Bemühungen müssen die G7-Staaten eine führende Rolle bei der Entwicklung von Lösungen übernehmen.«
Einen weiteren Schwerpunkt setzten die Wissenschaftsakademien auf die Ozeane und die Eis- und Schneeflächen der Erde: »Das Leben, wie wir es kennen, hängt direkt oder indirekt vom Meer ab.« Die Ozeane nähmen mehr als 90% der überschüssigen Wärme und etwa 25% der gesamten anthropogenen Kohlendioxidemissionen auf. So hätten sie die Menschheit bisher vor den schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels bewahrt, heißt es in dem entsprechenden Papier. Das Meer spiele eine zentrale Rolle bei der Klimaregulierung.
Weil die Folgen des Klimawandels besonders in den hohen Breiten und Höhenlagen zu spüren seien, gelte den Polarmeeren und der Kryosphäre, die Gletscher, Eisschilde, Schneedecken und den Permafrost umfasst, besondere Aufmerksamkeit. Sie seien »eines der wirksamsten Frühwarnsysteme unseres Planeten für die fortschreitende globale Erwärmung und den Klimawandel«, fassen es die Forscherinnen und Forscher zusammen. Die G7 seien verantwortlich, die Meere und die Kryosphäre zu schützen.
Ob die Warnung der UNEP-Chefin Inger Andersen ernstgenommen wird und konkrete Maßnahmen auf dem Gipfel beschlossen werden, bleibt angesichts der gegenwärtigen Konfliktlagen auch innerhalb der G7 eher zweifelhaft. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.