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Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
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26. Januar 2023 Joachim Bischoff: Anmerkungen zum Jahreswirtschafsbericht 2023

»Die Zahlen sind nicht gut« (Robert Habeck)

Rezessionsangst ade – Wirtschaft und Politik schauen zuversichtlicher auf 2023 und täuschen sich über den Übergang in eine Ära des schrumpfenden Wohlstandes. »Die Zahlen, die wir im Jahreswirtschaftsbericht vorgelegt haben, sind nicht gut«, räumt der Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ein, aber doch besser als lange befürchtet.

Zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahresdurchschnitt 2023 werde es damit jedoch, anders als noch im Herbst erwartet, voraussichtlich nicht kommen. »Die Ausgangslage zum Jahreswechsel stellt sich günstiger dar als in der Herbstprojektion angenommen«, heißt es in dem Jahreswirtschaftsbericht, in dem ein Plus von 0,2% beim BIP veranschlagt wird. Im Herbst war noch ein Minus von 0,4% erwartet worden.

Der Wirtschaftsminister betonte bei dessen Vorstellung, die Krise im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine sei mittlerweile beherrschbar: »Deutschland hat seine Widerstandsfähigkeit bewiesen und sich wirtschaftlich sehr gut geschlagen.« Angesichts gut gefüllter Gasspeicher und abflauender Inflation schwindet in Wirtschaft und Politik die Sorge vor einer Rezession. Auch in den Chefetagen der Unternehmen macht sich zunehmend Erleichterung breit, dass eine Energiekrise im Winter abgewendet wurde und sich die Aussichten aufhellen. Dies sei »eine große Gemeinschaftsleistung dieses Landes«.

Die Wirtschaft schrumpft nicht, aber das Wachstum ist schwach. So steht es im Jahreswirtschaftsbericht, in dem Habeck zudem von einem weiteren Absinken der zurzeit hohen Inflation ausgeht. Nach 7,9% im vergangenen Jahr erwarte er für 2023 im Jahresschnitt 6%, sagte der Grünen-Politiker. Im Verlauf des Jahres werde man laut Prognosen die Inflation eindämmen und den Trend brechen können. Die Preisspirale müsse bei den Energiepreisen durchbrochen werden, aber auch die Kerninflation müsse sinken.


Kritik von Konservativen und AfD, Zuversicht bei FDP und Instituten

Vertreter der CDU/CSU-Fraktion warfen Habeck Schönfärberei vor. »Weniger schlimm ist immer noch schlimm«, sagte Fraktionsvize Jens Spahn. Allein von einer Trendumkehr bei der Teuerung zu sprechen, reiche nicht. »Inflation ist Raub am kleinen Mann.« Generell handle die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP zu zögerlich. Es drohe eine lange Phase niedrigen Wachstums. AfD-Fraktionsvize Leif-Erik Holm warnte, der Wohlstand Deutschlands sei in Gefahr, zudem gebe es zu viel Bürokratie etwa durch das Lieferkettengesetz, das auf bessere Arbeitsbedingungen bei der Erzeugung von Importprodukten abzielt.

Die Linksfraktions-Vorsitzende Amira Mohamed Ali bilanzierte: »Ja, Herr Habeck, das war wieder sehr schöne Lyrik, war leider auch viel Schönfärberei dabei. Die Lage ist wesentlicher ernster, als Sie sie darstellen, und Sie haben leider keinen vernünftigen Plan.« Es drohten Arbeitsplatzverluste und das Aus für Unternehmen. Mit derlei Kritik ist wenig Orientierung verbunden.

Für die Freien Demokraten ist nun die Zeit für deutliche Kurskorrekturen angesagt. Es gehe darum, »nicht nur Wohlstand zu verteilen, sondern neuen Wohlstand zu schaffen«, warb FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner für eine stärker angebotsorientierte Wirtschaftspolitik. Es mangele an Dynamik, sagte er auf dem Wirtschaftsgipfel der »Welt«. In die gleiche Kerbe schlug FDP-Präsidiumsmitglied und Fraktionschef Christian Dürr. Über die wirtschaftliche Erholung könne man nur dann sprechen, wenn man sich auch über die strukturellen Fragen unterhalte: »Und dazu gehört insbesondere auch die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes.« Er mahnte am Rande einer Fraktionssitzung: »Die Modernisierung unserer Infrastruktur ist ein wichtiger Faktor für unseren Wirtschaftsstandort, der im internationalen Vergleich an Attraktivität verliert.« Wir müssten jetzt dafür Sorge tragen, dass der Staatshaushalt aus dem aktuellen Defizit herauswächst und die Schuldenquote des Staates wieder sinkt.

Sachsens Energieminister Wolfram Günther (Grüne) sieht im Jahreswirtschaftsbericht eine gute Nachricht für die Bürger*innen: »Entlastungspakete und Energiepreisbremsen tragen Früchte. Die Inflation geht spürbar zurück. Dadurch verbessern sich die wirtschaftlichen Aussichten«. Die Anstrengungen von Bund und Ländern hätten dazu geführt, dass »wir besser durch diese Zeit kommen und wirtschaftlich besser dastehen als noch vor Kurzem. Die große Herausforderung der kommenden Jahre sei der Arbeitskräftemangel […] Für Sachsen heißt das: Es braucht mehr Anstrengungen, was die Willkommenskultur angeht. Das ist eine Frage der Humanität, aber das entscheidet auch über unseren wirtschaftlichen Erfolg.«

Einen wirtschaftlichen Erfolg sieht auch der Ifo-Geschäftsklimaindex, der im Januar den vierten Monat in Folge stieg, um 1,6 auf 90,2 Zähler. »Die deutsche Wirtschaft startet zuversichtlicher ins neue Jahr«, so Ifo-Präsident Clemens Fuest. Die anfangs sehr pessimistischen Prognosen, bei der aufgrund einer Gasmangellage ein historischer Einbruch befürchtet wurde, seien abgewendet worden. »Die Energieversorgung ist weiterhin sicher und stabil.« Eine deutliche Rezession zeichne sich daher nicht mehr ab.


Frühjahr soll Besserung bringen

Bei der Inflation, die 2022 mit 7,9% auf dem höchsten Stand seit Jahrzehnten lag, rechnet die Regierung für dieses Jahr mit 6,0%. »Die hohen Preise waren und sind für private Haushalte eine Last, aber wir konnten den Preisdruck abfedern«, räumte Habeck ein. Es mehren sich die Anzeichen dafür, dass der Höhepunkt der Inflationsentwicklung überwunden ist. »Dies lässt die Konjunkturerwartungen steigen, genauso wie die inzwischen robuste Versorgungslage beim Erdgas. Von einer tiefen Rezession oder gar industriellen Kernschmelze kann derzeit keine Rede mehr sein.«

Die hiesige Wirtschaft wird nach Prognose des Ifo-Instituts ungeachtet der deutlich aufgehellten Konjunkturerwartungen im ersten Quartal dennoch etwas schrumpfen: »Das Bruttoinlandsprodukt dürfte leicht sinken«, sagte der Leiter der Ifo-Umfragen, Klaus Wohlrabe, »das liegt vor allem am privaten Konsum.« Der dürfte von Januar bis März niedriger ausfallen als zum Jahresende 2022, auch wegen Vorzieheffekten. So seien im Dezember noch viele Elektroautos abgesetzt worden, da die Käufer in den Genuss der staatlichen Prämie kommen wollten. »Diese Nachfrage fehlt nun«, zudem müssten viele Verbraucher ab Jahresbeginn deutlich mehr für Strom und Gas bezahlen. »Das Geld fehlt für andere Ausgaben.«

Eine klassische Rezession, die Ökonomen mit zwei Minus-Quartalen in Folge definieren, sieht der Ifo-Experte aber nicht kommen: »Im Frühjahr dürfte die Wirtschaft wieder wachsen.« Doch auch wenn die Sorgen vor einem Einbruch in Deutschland überwunden zu sein scheinen, stellen sich Wirtschaftsverbände aller Weltregionen für 2023 auf ein erneut schwieriges Jahr ein.

Denn einer globalen Umfrage zufolge werden anhaltende geopolitische Spannungen wie der russische Krieg gegen die Ukraine die größte Herausforderung bleiben, gefolgt von der hohen Inflation und der Sicherung von Energie, wie der europäische Wirtschaftsverband mitteilte. »Die alten Probleme sind nicht verschwunden. Es gebe aber Hoffnungsschimmer aus Richtung China und den Golf-Staaten.« Europa sei dagegen weiter in einer schwierigen Lage, »es gibt kein starkes Wachstum.« Auch wenn viel erreicht worden sei, um die Energieabhängigkeit von Russland zu reduzieren, der Einkauf stärker koordiniert und auch mehr in erneuerbare Energien investiert wurde, sei aber die Inflation immer noch zu hoch. Neben der teuren Energie spielten hier Lieferkettenstörungen eine Rolle. Diese würden sich auch nicht von heute auf morgen auflösen.

Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), folgt dieser Einschätzung weitgehend, verweist ebenfalls auch fortbestehende Risiken: Der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung unterstreiche die Widerstandsfähigkeit der deutschen Wirtschaft nach drei Jahren Krise. Nach der Corona-Pandemie konnte sie auch die Folgen des Krieges in der Ukraine bisher besser schultern als noch vor wenigen Monaten befürchtet. Wir würden 2023 wohl eine Stagnation erleben und die Arbeitslosigkeit dürfte gering bleiben. Das werde so aber nur eintreffen, wenn es keine bösen Überraschungen gibt. Solche sind jedoch alles andere als ausgeschlossen.


Der Unterschied von Wirtschaftswachstum und Wohlstand

Anders als Habeck sieht Fratzscher die Ursache für die verbesserten Aussichten nicht hauptsächlich in dem Handeln der Ampel-Regierung. »Die besser als noch vor kurzem erwartete Entwicklung ist vor allem der hohen Anpassungsfähigkeit der Unternehmen hierzulande zu verdanken, aber auch den massiven Entlastungspaketen der Bundesregierung. In kaum einem Land der Welt hat die Politik so massive finanzielle Hilfen ausgerollt wie in Deutschland. Dies konnte sich der deutsche Staat deshalb leisten, weil er vergleichsweise niedrig verschuldet und gleichzeitig ein Gewinner der hohen Inflation ist, die ihm große Steuermehreinnahmen beschert.«

Zugleich mahnt der DIW-Chef und verweist auf die soziale Spaltung im Land: »Wir dürfen nicht den Fehler machen, Wirtschaftswachstum mit Wohlstand zu verwechseln. Einer stagnierenden Wirtschaftsleistung steht ein massiver Wohlstandsverlust für viele Bürgerinnen und Bürger gegenüber. Nach durchschnittlich 7,9% im Jahr 2022 dürfte die Inflation in diesem Jahr immer noch bei über 6% liegen, wogegen die Löhne im Durchschnitt lediglich um 4–5% steigen dürften. Die meisten Menschen in Deutschland werden somit auch in diesem Jahr einen deutlichen Verlust der Kaufkraft ihrer Einkommen und ihres Wohlstands erfahren. Meine größte Sorge sind die sozialen Auswirkungen von Pandemie und Ukrainekrieg, die Menschen mit geringen Einkommen um ein Vielfaches stärker treffen. So erfahren Menschen mit geringen Einkommen individuell häufig eine zwei bis drei Mal höhere Inflation, da sie einen höheren Anteil ihres monatlichen Einkommens für Energie und Lebensmittel ausgeben müssen. Auch wenn die Bundesregierung große Entlastungspakete aufgelegt hat, so sind die Hilfen zu wenig sozial ausgewogen und Menschen mit geringen Einkommen erhalten zu wenig Unterstützung durch die Sozialsysteme. Eine Modernisierung der Sozialsysteme ist dringend erforderlich. Eine Kindergrundsicherung wäre dafür ein wichtiges Element, wenn es überzeugend umgesetzt wird.«


»Zeitenwende« auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik

Und er fordert eine »Zeitenwende« auch im Bereich Wirtschaft und Soziales: »Die Bundesregierung muss 2023 ernst machen mit ihrer Zeitenwende auch in der Wirtschaftspolitik. 2022 war geprägt von der Krisenbekämpfung. 2023 muss nun der Beginn der ökologischen und wirtschaftlichen Transformation sein. Deutschland droht eine Deindustrialisierung und Schwächung seines Wirtschaftsmodells, nicht durch hohe Energiepreise – sondern weil Wirtschaft und Politik in den letzten zehn Jahren die Transformation zu nachhaltigen und innovativen Technologien und den Klimaschutz verschlafen haben.

Die Bundesregierung braucht eine neue Wirtschaftspolitik, die als wichtigsten Fokus eine ökologische und digitale Investitionsoffensive hat. Sie muss die überbordende Bürokratie abbauen und bessere Bedingungen für private Investitionen schaffen. Dazu gehört auch eine bessere Strategie zur Gewinnung von Fachkräften, bei der vor allem das Potenzial der Frauenerwerbstätigkeit und die Zuwanderung aus dem Ausland im Mittelpunkt stehen sollten. Die Bundesregierung sollte nicht versuchen, die Probleme mit weiteren Subventionen, durch Protektionismus, Klientelpolitik und nationale Alleingänge zu lösen – so wie dies zu häufig in den vergangenen zehn Jahren passiert ist.

Eine der entscheidenden Fragen wird sein, ob die Bundesregierung den Mut hat, Zukunftsinvestitionen als Priorität über die Schuldenbremse und über die Verweigerung von Steuererhöhungen zu setzen. Nicht nur die Bundeswehr braucht deutlich mehr Geld, sondern unter anderem auch das Bildungssystem, die Infrastruktur, der Klimaschutz und der Ausbau erneuerbarer Energien.«[1]

Fratzschers Argumentation wird von einigen Unternehmen gestützt. »Über 70 Jahre lang ist der Wohlstand in Deutschland gewachsen, lediglich von kurzen Phasen der Rezession unterbrochen. Eine steigende Zahl an Erwerbstätigen und ausreichende Erhöhungen der Arbeitsproduktivität haben dafür gesorgt, dass wirtschaftliches Wachstum als sicher gelten konnte. Es reichte dafür aus, wenn die deutsche Wirtschaft im internationalen Wettbewerb mithält und vorübergehende Schocks verdaut. Diese Zeiten sind vorbei. Das Fundament für weiteres Wohlstandswachstum bröckelt.«[2]

Die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) nimmt die bekannten Beobachtungen und Analysen auf, denen zufolge In den entwickelten Volkswirtschaften das Produktivitätswachstum seit den 1970er-Jahren tendenziell gesunken ist. Als Ursachen werden die zögerliche Transformation in der gesellschaftlichen Betriebsweise (Energiewende, Digitalisierung, Automation, Innovation) ausgemacht, aber auch der demografische Wandel und der Einfluss- und Machtverlust der Gewerkschaften. »Der demografische Wandel wird daher zu einem Strukturwandel innerhalb der Unternehmen führen, den die Tarifvertragsparteien nur bedingt gestalten und sicherlich nicht werden aufhalten können. Sie sind vielmehr gut beraten, diesen Wandel durch die Bereitschaft zur Förderung anpassungsfähiger Strukturen zu unterstützen. Die Politik sollte ihrerseits die flexible Anpassung betrieblicher Strukturen zulassen und gleichzeitig vor allem die Bildungsanstrengungen steigern, um die Menschen zur Anpassung an sich rasch verändernde Wirtschaftsstrukturen zu befähigen.«[3]

Weil die politische Beförderung und Steuerung der Transformation der Betriebsweise unzureichend ist, sehen wir in allen kapitalistischen Metropolen ein sich abschwächendes Produktivitätswachstum. In Deutschland erhöhte sich z.B. »die Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigem […] seit dem Jahr 2012 um magere 0,3% pro Jahr. Bleibt das Produktivitätswachstum derart schwach und verstärkt sich gleichzeitig der Rückgang des inländischen Fachkräfteangebots, bedeutet dies eine Zeitenwende: Deutschland träte noch in diesem Jahrzehnt in eine Ära anhaltend stagnierenden, womöglich schleichend schrumpfenden Wohlstands ein. Andauernde Wohlstandsverluste ließen zunehmende Verteilungskonflikte und eine verstärkte Nutzungskonkurrenz um knappe Ressourcen erwarten.«[4]


Eine neue Grundlage für die Bemessung des Wohlstands?

Die Bundesregierung unterstreicht im Jahreswirtschaftsbericht, dass das BIP als Kennzahl für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik allein nicht ausreicht. Auch nichtfinanzielle, sozial-ökologische Aspekte fließen in die Betrachtungen mit ein. Aber diese Vorschläge sind noch nicht mutig genug. Es ist bemerkenswert, dass die Bundesregierung sowohl im letzten Jahreswirtschaftsbericht wie in der aktuellen Ausgabe auch die Entwicklung nichtfinanzieller Aspekte in ihre Analyse und Interpretation des vorangegangenen Wirtschaftsjahres einfließen lässt. Es ist ein Fortschritt, sie den Wohlstand auch anhand sozialer Kriterien messen will. Denn ein gutes Leben bedeutet nicht, möglichst viel Kapital und Besitztümer anzusammeln. Ein gutes Leben ist geprägt von Gesundheit für Mensch und Natur, fairen Bildungs- und Berufschancen, einer gerechten Teilhabe und einer funktionierenden Infrastruktur. Das sind gleichzeitig die Voraussetzungen für eine lebendige Demokratie.

Im Jahresbericht 2023 findet sich das Bekenntnis einer Erweiterung der Leistungsmessung: »Die Bundesregierung unterstützt den schrittweisen Aufbau der Ökosystemgesamtrechnungen als neues Modul der Umweltökonomischen Gesamtrechnungen (UGR) beim Statistischen Bundesamt, mit dem auf Basis eines UN-Standards der Zustand und die Leistungen der Ökosysteme in Deutschland systematisch erfasst und bewertet werden sollen (perspektivisch eventuell auch monetär).«[5]

Die Zielsetzung der Transformation der Wirtschaft ist positiv hervorzuheben: »Ziel der Bundesregierung ist eine Transformation der aktuell überwiegend linear organisierten in eine weitgehend zirkuläre Wirtschaft, die nachhaltiges Wirtschaftswachstum und Ressourcenschonung verbindet und so maßgeblich dazu beiträgt, die Klimakrise zu begrenzen, den Verlust der Biodiversität und Schadstoffeinträge in die Umwelt zu reduzieren sowie eine nachhaltige Rohstoffversorgung und gesteigerte Resilienz der deutschen Wirtschaft zu sichern.«[6]

Aber diese Orientierung einer radikalen Veränderung der Berechnung gesellschaftlichen Leistung, also die die Berechnung des BIP, sollte durch die Erfassung des »Nationaleinkommens« abgelöst werden. Neben den Abschreibungen und Kapitalverzehr müsste in diese quantitative Erfassung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses auch der Verzehr der natürlichen Ressourcen abgebildet werden. Es geht also darum, die Emissionen und Umweltschäden in die jährliche Leistungsrechnung einzubeziehen, was vielfach bedeutet: das Nationaleinkommen wird in Wirklichkeit negativ, sofern man die sozialen und destruktiven Kosten der Treibhausgase und Umweltschäden einkalkuliert.

Das Bruttoinlandsprodukts als Kennzahl hat wenig mit den Werten zu tun, die den wahren Wohlstand einer Gesellschaft ausdrücken. Wenn wir Wohlstand im Sinne eines guten Lebens verstehen wollen, müssen Ökonom*innen neben rein ökonomischen Aspekten, wie etwa Wachstum, auch soziale Fragen und ökologische Werte zwingend einbeziehen. Sie sind nicht nur das Fundament einer Wirtschaft. Vielmehr sollten sie Sinn und Zweck unseres Wirtschaftens sein.

Durch die neue Art des Wohlstands wird auch die Notwendigkeit gesunder Ökosysteme und stabiler sozialer Fundamente für eine funktionierende Volkswirtschaft ebenso wie für eine lebendige Demokratie anerkannt. Leider bleibt das reine Wirtschaftswachstum dem Bericht zufolge weiterhin vorrangiges Ziel deutscher Wirtschaftspolitik, auch wenn nichtfinanzielle Kriterien im Bericht genannt werden. Es gilt die Bundesregierung zu ermutigen, weitere Schritte in Richtung eines echten Paradigmenwechsels zu gehen.

Wirtschaftswachstum darf kein Selbstzweck sein. Wenn es um die Frage geht, wie es um den Wohlstand in Deutschland steht, müssen auch Biodiversität, soziale Gleichheit, Gleichstellungsfragen, Förderung der Demokratie und der Kampf gegen die Klimakrise miteinbezogen werden. Zudem wäre es sinnvoll, die Ökonomie nach genau solchen Aspekten zu steuern. Das heißt, Maßnahmen sollten an genauen sozial-ökologischen Kennzahlen ausgerichtet werden.

So könnte der Erfolg einer Wirtschaftspolitik neben der Steigerung des BIP daran gemessen werden, wenn der Gini-Koeffizient gestiegen wäre. Das würde anzeigen, dass die Schere zwischen Arm und Reich zurückgegangen ist. Auch ein höherer Artenreichtum wäre ein Gradmesser für den Erfolg. Erst wenn wir wirtschaftliche Stärke nicht länger separat betrachten, sondern ihn systemisch als Aspekt gesellschaftlicher Entfaltung verstehen lernen, kann eine Wirtschaftspolitik nachhaltig konzipiert werden.

Anmerkungen

[1] Marcel Fratzscher: »Wir brauchen eine Zeitenwende auch in der Wirtschaftspolitik« www.diw.de/de/diw_01.c.864066.de/wir_brauchen_eine_zeitenwende_auch_in_der_wirtschaftspolitik.html
[2]  KfW Research Zeitenwende durch Fachkräftemangel: Die Ära gesicherten Wachstums ist vorbei, Nr. 414, 23. Januar 2023.
[3] Schwaches Produktivitätswachstum – zyklisches oder strukturelles Phänomen? Wirtschaftsdienst 2, 2017 S. 92
[4] KfW Research: »Zeitenwende durch Fachkräftemangel: Die Ära gesicherten Wachstums ist vorbei«; www.kfw.de/PDF/Download-Center/Konzernthemen/Research/PDF-Dokumente-Fokus-Volkswirtschaft/Fokus-2023/Fokus-Nr.-414-Januar-2023-Fachkraftemangel.pdf.
[5] Jahreswirtschaftsbericht 2023, Ziffer 310; www.bmwk.de/Redaktion/DE/Publikationen/Wirtschaft/jahreswirtschaftsbericht-2023.html
[6] Ebd., Ziffer 311

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