11. August 2017 Otto König/Richard Detje: NSU-Prozess – Anklagekonstruktion der Bundesanwaltschaft verhindert Aufklärung
»Drei-Täter-Theorie«
Die Endphase der rechtlichen Aufarbeitung der Morde des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) wurde mit den Plädoyers der Generalbundesanwaltschaft (GBA) eingeläutet. Der Prozess gegen die fünf Angeklagten – Beate Zschäpe und Ralf Wohlleben, André E., Holger G. sowie Carsten S. – wurde vor mehr als vier Jahren am Münchner Oberlandesgericht (OLG) eröffnet.
Unter dem Vorsitzenden Manfred Götzl versuchte das Richtergremium an fast 400 Verhandlungstagen einem Urteil im NSU-Prozess näher zu kommen.[1] Im Mittelpunkt der juristischen Aufarbeitung stehen die zehn Morde an neun türkischen und griechischen Geschäftsleuten sowie einer Polizistin,[2] zwei Sprengstoffanschläge in Köln und 15 Raubüberfälle in den Jahren 2000 bis 2007 durch die Rechtsterroristen des NSU Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe.
Fest steht: Die Opfer mussten allein deshalb sterben, weil sie Ausländer waren. Die staatlichen Ermittlungsbehörden hatten die Mordanschläge auf die Migranten, die sogenannten »Döner-Morde«, und das Kölner »Nagelbomben«-Attentat mit 22 Verletzten lange Zeit nicht Rechtsterroristen, sondern vermeintlichen kriminellen türkischen Gruppen zugerechnet. Der institutionelle Rassismus (»Türken morden Türken«) ließ die Ermittler in eine Richtung recherchieren, in der Opfer zu Tatverdächtigen wurden. Die Angehörigen wurden mit den ungeheuerlichen Vorwürfen konfrontiert, ihre hingerichteten Männer, Söhne und Brüder seien in kriminelle Machenschaften verstrickt gewesen.
Am 375. Sitzungstag hob der Chefankläger Herbert Diemer im Saal 101 des OLG zum Schlussplädoyer an: Die Anklage gegen »alle fünf Angeklagten (sei) in allen wesentlichen Punkten« bestätigt worden. Für die Generalbundesanwaltschaft (GBA) ist das Motiv für die Morde die »rechtsextreme Ideologie und der Wahn von einem ausländerfreien Land«, mit dem einem »widerwärtigen Naziregime« der Boden bereitet werden sollte. Für die GBA steht fest: Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sind die alleinigen Täter – die beiden Männer die Ausführenden, die Frau die Abdeckende, »die Archivarin« im Hintergrund.
Obwohl im Zuge des Verfahrens – durch parlamentarische Untersuchungsausschüsse, Anwälte, Journalisten – immer wieder neue Teilskandale aufgedeckt wurden, die auf eine Verwicklung von Sicherheitsbehörden und rechten Netzwerken im NSU-Komplex hinweisen, versucht die Bundesanwaltschaft alle Puzzlestücke ihrer Ermittlungen durch das Nadelöhr der »Drei-Täter-Theorie« zu zwängen. Die Anklagebehörde minimiert damit den Kreis der unmittelbaren Täter wie den der terroristischen Vereinigung. Nur Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe seien die Mitglieder gewesen und mit dem Tod der beiden Männer habe die NSU aufgehört zu existieren. Damit wird das Ausmaß des Unterstützungsnetzwerks des NSU, das Wohnungs- und Autoanmietungen, Spendensammlungen und ideologische Unterstützung leistete, ausgeblendet.
Oberstaatsanwältin Anette Greger, die den 22-stündigen Beweismarathon der GBA fortsetzte, arbeitete in ihrem Vortrag heraus, dass Beate Zschäpe nicht die harmlose, schwache Frau war, emotional von den beiden Männern abhängig und unfähig, sich von ihnen zu lösen, sondern innerhalb der Dreiergruppe eine zentrale Rolle innehatte – sie war »gleichberechtigtes Mitglied« des rechtsterroristischen NSU und an der Planung und Organisation der rassistischen und rechtsextremen Morde beteiligt. Als »Tarnkappe« habe sie die Ausführung der Taten ermöglicht und zugleich für die Dokumentation der Taten sowie das soziale Leben der drei gesorgt.
Im Komplex »Beihilfe zum Mord« zeichnete Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten den Weg der Tatwaffe, eine Pistole vom Typ »Ceska 83« aus der Schweiz zum NSU nach, die die beiden Angeklagten Ralf Wohlleben und Carsten S. im Auftrag der Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt beschafft haben. Wohlleben, den die Anklage das »Mastermind« der Unterstützerszene nennt, hätte wissen, wer da geschossen habe. Und schließlich sind da noch Holger G. und Andre E., die den NSU mit Waffen, Ausweisen und bei der Flucht unterstützt haben sollen.
Was die reinen Tatbeiträge der fünf Angeklagten betrifft, sind die Darlegungen der Bundesanwaltschaft bisher überzeugend, stellt die Anwältin Antonia von der Behrens, die die Familie des Opfers Mehmet Kubasik vertritt, fest (FR, 2.8.2017). Nicht belegt sei jedoch die alleinige und ausschließliche Täterschaft des Trios.
Die Fragen der Opferfamilien gehen weiter. Warum wurden ihre Angehörigen ermordet? Warum wurden die Täter nie gefasst? Laufen andere Täter noch frei herum? Und immer wieder: Welche Personen aus der militanten Naziszene unterstützten den NSU auch an den Tatorten und was wussten die staatlichen Behörden aufgrund der Vielzahl von V-Leuten im engeren Umfeld von der Existenz und den Taten des NSU?
Es sind die Opferfamilien und ihre Anwälte, die die Hintergründe der Mordserie aufzuklären versuchen. Doch sowohl die Anklagevertretung wie der Vorsitzende Richter bügelten die drängenden Fragen der Nebenkläger immer wieder ab: Anträge wurden abgelehnt, Fragen nicht zugelassen. Ankläger und Richter verstehen sich in erster Linie als Hüter der Interessen der Sicherheitsbehörden und ignorieren selbst die Erkenntnisse aus den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen[3] über die Verstrickung des Bundesamts und der Landesämter Verfassungsschutzes beispielsweise in Hessen und Thüringen.
Mit Blick auf die Nebenkläger wies Diemer in seinem Plädoyer »haltlose Spekulationen selbsterklärter Experten«, die »wie Irrlichter, wie Fliegengesurre« seien, zurück. Der Anklagevertreter beließ es jedoch nicht bei der Auffassung, solche Untersuchungen seien Sache der Politik und der Ermittlungsbehörden und nicht Aufgabe eines Strafprozesses, sondern verstieg sich letztlich zu der kategorischen Behauptung, die Ermittlungen hätten »keine Anhaltspunkte« dafür erbracht, dass »staatliche Stellen in die rechtsextremistisch motivierten Verbrechen involviert waren, sie geduldet oder sie durch Unvermögen« zugelassen hätten.
Warum dieser Tatbestand so hartnäckig ignoriert wird, hat auch etwas mit der zweifachen Funktion der obersten Strafverfolgungsbehörde der Bundesrepublik zu tun: Zum einen ist die GBA anklagende Instanz und zum anderen vertritt sie die Bundesrepublik als Geschädigte in einem Verfahren, das wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung nach § 129a StGB geführt wird. Damit ergeben sich bei der Strafverfolgung von Organisationsdelikten, bei denen V-Leute, also InformantInnen aus der beobachteten Szene, involviert sind, Konfliktlinien zwischen der Unabhängigkeit der Rechtspflege und dem Staatswohl.
In seltener Offenheit erklärte beispielsweise Klaus-Dieter Fritsche (CSU), Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt in den Jahren 2005-2009, vor dem ersten parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Bundestags, die konsequente Aufklärung des NSU-Komplexes und die Verstrickungen der Behörden sei nachrangig und sogar kontraproduktiv, wenn dadurch das Staatswohl gefährdet und das Regierungshandeln unterminiert werden könnte.[4] Diese »Staatsräson« führte dazu, die Rolle des Verfassungsschutzes aus dem Prozess herauszuhalten.
Die bewusste Vernichtung von Akten über V-Leute in der Neonaziszene im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in Köln wenige Tage nach Bekanntwerden des NSU im November 2011 legt nahe, dass die bekannt gewordenen Skandale nur die Spitze eines Eisbergs sind. Der für die Aktenvernichtung verantwortliche BfV-Referatsleiter Axel M., Decknamen Lothar Lingen, hatte als Motiv dafür angegeben, angesichts der schieren Zahl der V-Leute würde die angebliche Wahrheit – dass nämlich das Amt von nichts gewusst habe – »unglaubwürdig klingen«.
Auch die absurde Sperrfrist von 120 Jahren für einen internen Bericht durch das hessische Landesamt für Verfassungsschutz, in dem es auch um den NSU-Mord von Kassel und die mögliche Verwicklung des V-Mannes Andreas Temme[5] geht, schürt den Verdacht, dass brisante Fakten geheim gehalten werden sollen. Während die Behörde gegenüber der Süddeutschen Zeitung die Frist mit dem »Schutz der Zuträger« und deren »Nachkommen« verteidigte, ist wohl eher anzunehmen, dass hier Mittäter oder Helfer geschützt werden sollen – was einer Strafvereitelung im Amt gleichkommt.
Die Plädoyers im NSU-Prozess werden noch einige Zeit in Anspruch nehmen, da nach der Bundesanwaltschaft berechtigterweise die Nebenkläger, die Anwälte der Familien von zehn Mordopfern und die der Verletzten zweier Bombenanschläge sowie die fünf Verteidigerteams zu Wort kommen. Das Urteil gegen die fünf Angeklagten könnte möglicherweise Ende des Jahres verkündet werden. Doch selbst wenn Beate Zschäpe für ihre Tatbeteiligung und die vier weiteren Angeklagten wegen Mittäterschaft abgeurteilt werden, ist der Mordkomplex »NSU« nicht abgeschlossen. Und dies nicht nur, weil gegen neun Personen noch Ermittlungen[6] laufen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) versprach bei ihrer Gedenkrede für die Opfer und ihre Angehörigen am 23 Februar 2012: »Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.« Dieses Versprechen wird durch den NSU-Prozess vor dem Münchner OLG nicht eingelöst. Deshalb darf es keinen Schlussstrich geben. Für die Familien ist mit dem zu erwartenden Urteil das geschehene Unrecht nicht abgeschlossen. Es setzt einen vorläufigen Schlusspunkt in der juristischen Bewertun. Es bedarf jedoch der weiteren politischen Aufklärung.
[1] Zu weiteren Facetten des NSU-Skandals, der in der bundesrepublikanischen Geschichte kein Einzelfall war, siehe ausführlicher das Buch von Hajo Funke, Sicherheitsrisiko Verfassungsschutz. Verschweigen, Vertuschen und Vernichten im V-Mann-Land, das im September im VSA: Verlag erscheint.
[2] Im Herbst 2011 flog der »Nationalsozialistischer Untergrund« auf. Nach einem Banküberfall in Eisenach erschossen sich am 4. November 2011 nach fast 14 Jahren im Untergrund Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. In Zwickau steckte Beate Zschäpe die Wohnung der drei in Brand. Ihre Opfer waren Enver Simsek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodorus Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat sowie die Bereitschaftspolizistin Michèle Kiesewetter.
[3] Der Bundestag und mehrere Landtage setzten insgesamt 14 Untersuchungsausschüsse ein, die das Versagen der Sicherheitsbehörden im Fall des NSU beleuchten sollten. Im Bundestags-Untersuchungsausschuss warfen Abgeordnete dem federführenden Bundesanwalt Herbert Diemer vor, Beweisen nicht nachgegangen zu sein, um mögliche Verstrickungen des Verfassungsschutzes in die NSU-Mordserie zu verheimlichen. Der Vorsitzende des letzten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages, Clemens Binninger (CDU), stellte fest, dass es ein Netzwerk gegeben haben muss, an das man aber nicht rankommt.
[4] Vgl. Andreas Kallert/Vincent Gengnagel: Staatsraison statt Aufklärung, RLS-Analyse Nr. 39.
[5] Andreas Temme, damals V-Mann-Führer im Landesamt für Verfassungsschutz in Hessen, war am 6. April 2006 beim Mord an Halit Yozgat in dessen Internetcafé in Kassel am Tatort. Unter einem »Nickname« hatte sich Temme an einem der Rechner eingeloggt. Er bestreitet etwas gehört oder gesehen zu haben, verstrickte sich jedoch bei mehreren Befragungen in Widersprüche.
[6] Neben den fünf Angeklagten wird gegen neun weitere Verdächtige wegen Unterstützung des NSU oder Beihilfe ermittelt: André Kapke (einst Kameradschaft Jena und Thüringer Heimatschutz), Thomas Müller, (einst Blood and Honour , Unterschlupfgeber für das Trio und V-Person der Berliner Polizei), Jan Botho Werner (Anführer von Blood and Honour in Sachsen), Matthias Dienelt (Hauptmieter von Wohnungen des Trios), Mandy Struck (Unterschlupfgeberin), Susann Eminger (Ehefrau des Angeklagten André E.), Max-Florian Burkhardt (Passgeber für Uwe Mundlos) sowie Hermann Schneider und Pierre Jahn (beide wg. Waffenbeschaffung). Von einer Anklageerhebung ist bisher nichts bekannt.