23. September 2019 Michael Wendl
Durchblicke als Tunnelblicke?
In einer Reihe von Texten, viele davon von Heiner Flassbeck, Friederike Spiecker, in denen die Tarifpolitik der deutschen Gewerkschaften – insbesondere der Jahre 1996 bis 2006 – kritisiert wird, spielt das Konzept der produktivitätsorientierten Tarif- oder Lohnpolitik, hier auch als goldene Lohnregel bezeichnet, eine wichtige Rolle.
Den Gewerkschaften wird vorgehalten, den mit diesem Konzept definierten Verteilungsspielraum über den genannten Zeitraum verfehlt zu haben, weil nominale Lohnsteigerungen vereinbart wurden, die mehr oder minder deutlich unterhalb dieses Spielraums gelegen waren. Diese Kritik ist nicht falsch, aber sie berücksichtigt einmal die Praxis der Tarifpolitik nur unzureichend, zum zweiten ignoriert sie den merkantilistischen deutschen Entwicklungspfad, in den die deutschen Industriegewerkschaften eingebunden sind.
Die produktivitätsorientierte Tarifpolitik – Ideal und Wirklichkeit
In den meisten Beiträgen, zuletzt auf Makroskop.eu am 25.7.2019 durch Rainer Land (»Neue Wirtschaftspolitik und Primärverteilung«), wird ein Zielmodell für die Primärverteilung zwischen den Tarifvertragsparteien vorgestellt, das idealistisch und unrealistisch zugleich ist. Es entspricht dem Idealtypus einer Volkswirtschaft, in der die primäre Einkommensverteilung der Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität so folgt, dass sowohl abhängig Beschäftigte bzw. ihre Gewerkschaften wie Unternehmen und ihre Verbände der Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität gleichermaßen folgen.
Für einen solchen Verteilungsprozess wurde 1965 von damaligen (dem ersten) Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung unter dem Vorsitz von Helmut Meinhold das Konzept einer produktivitätsorientierten Tarifpolitik vorgeschlagen. Die Erhöhung der Löhne sollte sich danach an zwei Größen orientieren, einmal dem Anstieg der gesamtwirtschaftlichen (Arbeits-)Produktivität und zweitens am Anstieg der Verbraucherpreise. Folgen beide Parteien diesem Idealtyp, so bleibt die Lohnquote stabil und es entsteht kein Druck auf die Preise durch zu hohe Löhne. Bei 3% Produktivitätswachstum und 3% Inflation ergibt das dann eine Lohnerhöhung von nominal 6% und real 3%. Die Summe beider Größen wurde als (verteilungsneutraler) Verteilungsspielraum verstanden.
Das Modell ist bestechend einfach und damit werden zwei Ziele verfolgt. Einmal die gleichgewichtige Beteiligung der Arbeitseinkommen an der wachsenden Wertschöpfung und andererseits Preisstabilität. Mit der zweiten Größe wurde die Voraussetzung für systematische Außenhandelsüberschüsse geschaffen, weil die Bundesbank mit ihren geldpolitischen Instrumenten die Inflation unter der Inflation der meisten anderen Wirtschaftsgesellschaften halten konnte. Dazu war es nötig, dass die Gewerkschaften mit ihren Tarifabschlüssen diesen Verteilungsspielraum nicht überschreiten und eine Lohn-Preis-Spirale auslösen. Im theoretischen Kern war dieses Modell einer produktivitätsorientierten Tarifpolitik neoklassisch fundiert, auch wenn es eine makroökonomische Perspektive, nämlich die Stabilisierung der Lohnquote und damit der konsumtiven Nachfrage, hatte.
Der in den 1960er Jahren dominierende Standardkeynesianismus basierte auf der Vorstellung von drei Märkten, die, jeder für sich, im Gleichgewicht sein sollten. Gütermarkt (I=S), Kapitalmarkt (L=M) und Arbeitsmarkt. Hier sollten sich die Investitionen und Ersparnisse, die Kapitalnachfrage und das Kapitalangebot und zugleich Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt im Gleichgewicht befinden. Als dieses Modell »erfunden« wurde, herrschte annähernd Vollbeschäftigung, es ging daher darum diesen Zustand fortzuschreiben. »Keynesianisch« an diesem Modell war nur die Beachtung der Nachfrageseite einer Volkswirtschaft. »Neoklassisch« an diesem Modell des IS-LM-Keynesianismus war das Denken in Modellen, die aus der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie abgeleitet wurden. »Neoklassisch« wurde auch der Arbeitsmarkt gedacht, weil die Löhne bei Arbeitslosigkeit nach unten flexibel sein sollten.
Der deutsche Handelsmerkantilismus – das »Modell Deutschland«
Die in den 1950er Jahren eher noch unbewusste, nicht intendierte Berücksichtigung dieses Modells führte zur Entwicklung eines »stabilitätsorientierten Handelsmerkantilismus«,[1] der seit 1953 Handelsbilanzüberschüsse produzierte. Die Akteure dieses Prozesses waren die Bundesbank, die Bundesregierung und die Tarifparteien. Die ökonomischen Gewinner dieser Konstellation waren die Exportindustrie wegen der damit verbundenen Effekte einer realen Abwertung und das deutsche Finanzkapital wegen der hohen realen Zinsen. Dass dieses Zusammenspiel beabsichtigt war und rational kalkuliert wurde, ist unwahrscheinlich. Es ergab sich aus den historischen und ökonomischen Bedingungen seit Beginn der 1950er Jahre und möglicherweise auch aus einer deutschen Inflationsphobie. Die Menschen machen Geschichte, aber ohne ausreichendes Wissen über die makroökonomischen Zusammenhänge, unter denen sie handeln.
Die neoklassische Mikroökonomie und ihre Übertragung auf makroökonomische Zusammenhänge demonstriert dieses Nicht-Wissen-Wollen gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge exemplarisch. Das Ziel dieser Verweigerung von Wissen über die Zusammenhänge der politischen Ökonomie ist die Durchsetzung der Märkte als Steuerungszentren von Wertschöpfung und Verteilung. Der überzeugteste Prediger diese Vergötzung des Marktes ist F.A. von Hayek.
Faktisch fand zwischen den Beschäftigten, ohne dass das den Akteuren bewusst war, ein indirekter Umverteilungsprozess statt. Indirekt war er, weil die auf niedrige Inflation zielende restriktive Finanzpolitik den Binnenmarkt einengte und die Löhne im öffentlichen wie privaten Dienstleistungssektor besonders unter Druck setzte. Dadurch öffnete sich die Lohnschere zwischen Industrielöhnen und Dienstleistungslöhnen noch stärker.[2] Während die Beschäftigten des Industriesektors an der starken Exportposition der deutschen Wirtschaft partizipieren konnten, mussten die Beschäftigten auf dem Binnenmarkt durch die institutionellen Voraussetzungen dieses merkantilistischen Modells, nämlich die Kombination von restriktiver Finanz- und stabilitätsorientierter Geldpolitik der Bundesbank, einen höheren Lohndruck hinnehmen. Solange die IG Metall in den jährlichen Tarifrunden die Lohnführerschaft hatte und auch in den anderen Wirtschaftssektoren die Lohnentwicklung prägen konnte, brachen diese Interessenkonflikte innerhalb der Gewerkschaften nicht auf. Der Streik im öffentlichen Dienst 1974 bewegt sich in diesem Widerspruch. Tarifpolitisches Ziel der ÖTV war es, die hohen Einkommensunterschiede zwischen der Exportindustrie und dem öffentlichen Sektor zu verringern.
Die Geschichte der deutschen Tarifpolitik seit 1953[3] zeigt, dass dieses idealtypische Modell der Tarifpolitik von Anfang an hart umkämpft war, weil insbesondere die Unternehmen und die sie beratenden Ökonomen versucht hatten, diesen Kompromiss zugunsten der Kapitaleinkommen in Frage zu stellen bzw. die Formel neu mit dem Ziel der Gewinnsteigerung zu berechnen, sodass die angestrebte Verteilungsneutralität nicht erreicht wurde. Tarifverhandlungen sind Verteilungskämpfe, in denen Machtverhältnisse und die Bedingungen von Angebot und Nachfrage auf den Arbeitsmärkten zentrale Rollen spielen.
Wenn die Lohnquote in den 1950/60er Jahren gestiegen war, so galt das nur für die unbereinigte Lohnquote und war auf den steigenden Anteil der abhängig Beschäftigten an allen Erwerbstätigen zurückzuführen. Nur in den Spätphasen eines Konjunkturzyklus wurde der so verstandene Verteilungsspielraum überschritten. Das ist einfach zu erklären: Löhne sind Vertragseinkommen und bleiben auch beim Rückgang des Produktivitätswachstums stabil, währen die Gewinne Residualgrößen sind, die im Konjunkturabschwung als erste mehr oder minder deutlich sinken. Im konjunkturellen Aufschwung blieben die Löhne regelmäßig hinter dem Ausschöpfen des Verteilungsspielraums zurück, die Kapitaleinkommen steigen entsprechend stärker. Das Modell und die tarifpolitische Wirklichkeit klafften von Anfang weit auseinander.
Nach der Wirtschaftskrise 1975/75 und der damit verbundenen hohen Arbeitslosigkeit wurde dieses Modell auch offen in Frage gestellt, einmal weil die Unternehmen es nicht mehr akzeptierten, und zweitens, weil der Aufstieg des neoklassischen Denkens in der Wirtschaftswissenschaft das Basisdogma dieser Doktrin, dass sinkende Löhne zu mehr Beschäftigung führen, revitalisiert hatte. Das führte dazu, dass die Größe des Produktivitätsanstiegs systematisch nach unten gerechnet wurde. Damit war die (standard-) keynesianische Fassung dieses Modells als Resultat eines Klassen- und Verteilungskompromisses erledigt. Sie wurde durch eine neoklassische Variante dieses Modells abgelöst, in dem eine oder sogar beide Faktoren wegen der hohen Arbeitslosigkeit heruntergerechnet wurden. Das zeigt, dass sich diese beiden Modelle in ihrem gleichgewichtstheoretischen Kern ähnlich sind. Im ersten Modell wird die Größe des Anstiegs der Arbeitsproduktivität ungekürzt übernommen, im zweiten Modell neoklassisch heruntergerechnet.
Die nach 1974 permanente Massenarbeitslosigkeit hatte spätestens ab den frühen 1980er Jahren die Verhandlungsposition der Gewerkschaften nachhaltig geschwächt. Das zeigt sich auch in den Arbeitskämpfen der 1980er Jahre um die Verkürzung der Arbeitszeit. Die Gewerkschaften wussten um ihre zukünftige Machtlosigkeit bei der Fortdauer der Massenarbeitslosigkeit. Dabei wurde das »Modell Deutschland« eines stabilitäts- oder vermögensorientierten Handelsmerkantilismus niemals in Frage gestellt, auch von den Gewerkschaften nicht. Mit der Arbeitszeitverkürzung wurde eine stärkere Flexibilisierung der Arbeitszeit verbunden, was die positiven Beschäftigungseffekte der Arbeitszeitverkürzung dämpfte. Zusammen mit der Arbeitszeitverkürzung wurde ein fataler Denkfehler populär. Wer Arbeit teilt, muss auch den Lohn teilen. Das war Neoklassik pur, aber in sozialdemokratischer Verkleidung.
Das war nicht zwangsläufig so, da Arbeitszeitverkürzung auch mit einem vollen Lohnausgleich vereinbart werden kann. Hinter der Vorstellung, mit der Arbeit müsse auch der Lohn geteilt werden, stand die folgenreiche Verwechselung von Arbeit und Arbeitskraft, nach der mit dem Lohn die geleistete Arbeit bezahlt wird. Damit werden das Umsonstarbeiten der Lohnarbeit und die unentgeltliche Aneignung der Mehrarbeit oder des Mehrwerts durch das Kapital ausgeblendet.[4] Mit dieser Sicht wurde gleichzeitig das Denken in der makroökonomischen Perspektive preisgegeben und auf ein im Kern neoklassische Sicht der Ökonomie als Tauschwirtschaft übergegangen. Es leitete den bis heute andauernden Abschied der SPD vom Keynesianismus ein, auch wenn dieser Prozess zwischen 1996 und 1998 kurz unterbrochen wurde, als Lafontaine seine wirtschaftspolitische Sicht in Richtung Keynesianismus geändert hatte. In der SPD fand dieser Kurswechsel nur geringe und kurzzeitige Resonanz.
Ökonomische Folgen der deutschen Einheit
Die durch die Schocktherapie der Durchsetzung der deutschen Wirtschafts- und Währungsunion deutlich gestiegene Arbeitslosigkeit führte zu einer weiteren Schwächung der gewerkschaftlichen Handlungs- und Konfliktfähigkeit und zur Erosion des Geltungsbereichs der Flächentarifverträge. Nur so ist zu verstehen, warum die Gewerkschaften, genauer die IG Metall im November 1995, völlig überraschend ein Bündnis für Arbeit, in dem Lohnverzicht mit der Erhöhung der Beschäftigung verbunden werden sollte, angeboten hatte. Im theoretischen Kern war das ohne Zweifel die neoklassische Lohn- und Beschäftigungstheorie. Sie wurde aber bereits Ende der 1980er Jahre in der SPD durch Oskar Lafontaine mit der Kampagne »Teilen verbindet« vorbereitet, durch die ein Lohnverzicht zu einem Akt der Solidarität mit den Arbeitslosen verklärt wurde. Der konzeptive Ideologe dieses Moralismus war Fritz Scharpf mit seinem Modell von »Sozialismus in der Klasse«,[5] mit dem eine Änderung der Primärverteilung für unmöglich erklärt wurde. Die gewerkschaftliche Lohnpolitik nach 1995 hatte also eine sozialdemokratische und sozialwissenschaftliche Vorgeschichte, deren Ideologie als Indiz für eine solidarische und daher linke Politik missverstanden wurde.
Das zweite Bündnis für Arbeit
Wichtig ist, dass mit der Durchsetzung des Euro die deutsche Politik der Lohnzurückhaltung durch das Zusammenspiel von Tarifvertragsparteien mit der Austeritätspolitik der rot-grünen Bundesregierung radikalisiert wurde. Das zu diesem Zweck 1999 gegründete Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit wurde 2003 beendet und durch die sog. Arbeitsmarktreformen im Rahmen der Agenda 2010 fortgesetzt. Die in der Tarifrunde 2000 durchgesetzte deutliche Lohnzurückhaltung erfolgte in der Spätphase eines Konjunkturbooms. Dadurch kam es 2000-2002 zum ersten Mal in der Wirtschaftsgeschichte Deutschlands nach 1953 nicht zu einem Überschreiten des Verteilungsspielraums durch die Tarifpolitik, was die Konjunkturkrise nach 2001 verschärfte und zur Legende von Deutschland als dem »kranken Mann« Europas beigetragen hatte. Die Außenhandelsüberschüsse stiegen in der Zeit von 1999 bis 2005 deutlich, sodass von zu hohen Arbeitskosten nicht die Rede sein konnte, im Gegenteil. Schröder und Eichel haben durch ihre Politik der Haushaltskonsolidierung diesen Prozess der ökonomischen Stagnation zusätzlich verstärkt.[6]
Abbildung 1: Entwicklung Lohnstückkosten in Deutschland 1991 – 2017 in %
Quelle: Macrobond (Eurostat); Datenstand 15.06.2018.
Die gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten (siehe Abbildung 1) steigen in Deutschland wieder ab 2008, kurz unterbrochen durch die »Konsolidierungskrise« 2010, als nach einer kurzen Phase der Konjunkturpolitik wieder auf eine restriktive Finanzpolitik umgeschwenkt wurde. Danach steigen die Löhne wieder im Rahmen der produktivitätsorientierten Tarifpolitik, deren Formel sich durch den Einfluss des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Böckler-Stiftung geändert hatte.
Es geht jetzt um die Beachtung des trendmäßigen, also längerfristigen Produktivitätsanstiegs und der Zielinflationsrate der EZB, die hier mit 1,9% kalkuliert wird. Ausgehend von einem so definierten Verteilungsspielraum wurde dieser in der Zeit ab 2010 nahezu ausgeschöpft. Die deutsche Tarifpolitik ist wieder auf den Pfad der produktivitätsorientierten Tarifpolitik zurückgekehrt. Die Tarifvertragsparteien anderer europäischer Länder hatten ihre Lohnpolitik mit Ausnahme von Frankreich ebenfalls nicht an den Normen der produktivitätsorientierten Tarifpolitik ausgerichtet. Das ist durch eine harte Austeritätspolitik und staatliche Eingriffe in die Tarifautonomie (»lohnpolitischer Interventionismus«) brutal korrigiert worden, sodass wir seit ungefähr 2012 einen ungefähr synchronen Verlauf der nationalen Lohnstückkosten sehen. (Abbildung 2).
Abbildung 2: Entwicklung der Lohnstückkosten in ausgewählten europäischen Ländern 1991-2017 in %
Quelle: Macrobond (Eurostat); Datenstand 15.6.2018.
Zu fordern, wie das gelegentlich auf Makroskop geschieht, die deutschen Tarifvertragsparteien müssten mit entsprechend über diesem Verteilungsspielraum liegenden Lohnerhöhungen die zwischen 1996 und 2007 völlig auseinander gelaufene Entwicklung der Lohnstückkosten wieder korrigieren, verkennt völlig die Kräfteverhältnisse zwischen den Tarifvertragsparteien und die Bedeutung von Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarkt für die Konfliktfähigkeit der Gewerkschaften. Hinzu kommt der Einfluss rechtlicher Normen, wie das eher restriktive deutsche Arbeitskampfrecht und die Erosion der Bindungswirkung der deutschen Flächentarifverträge. Die Vorstellung, die Gewerkschaften könnten quasi mechanisch, diese »goldene« Regel der Tarifpolitik durchsetzen, wenn sie nur wollten, ist idealistisch.
Die Normalisierung der Tarifpolitik
In den Gewerkschaften wird davon ausgegangen, dass ab 2012 der Verteilungsspielraum der produktivitätsorientierten Lohnpolitik wieder voll ausgeschöpft bzw. sogar überschritten wird. Das ist der Formel, nach der das WSI in der Böckler-Stiftung rechnet, zuzuschreiben. Das WSI geht von der Summe des jährlichen Anstiegs der Arbeitsproduktivität pro Stunde und des Index der Verbraucherpreise aus. Das entspricht der Formel, die Land verwendet. Diese von Land vorgeschlagene Formel hat für die Lohnfindung den Nachteil, dass ihre Umsetzung prozyklisch wirkt. Sie verstärkt die Lohnzurückhaltung in der Krise, wirkt daher deflationär. Sie verstärkt im konjunkturellen Boom die Tendenz zur Inflation. Deshalb verwenden das IMK in der Böckler-Stiftung und einige keynesianische Ökonomen eine andere Formel. Sie besteht aus dem trendmäßigen Anstieg der Arbeitsproduktivität und der Zielinflationsrate der EZB von knapp unter 2%. Als Zeitraum zur Berechnung des Trends ist es sinnvoll, von der Dauer eines Konjunkturzyklus auszugehen. Diese Formel orientiert sich also nicht mehr an der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie, sondern sie geht von Schwankungen der Konjunktur und der Existenz eines Konjunkturzyklus aus. Wenn wir die Ausschöpfung des Verteilungsspielraums nach beiden Formeln vergleichen, so ergeben sich folgende Werte:
Die Unterschiede ergeben sich daraus, dass die EZB-Zielinflationsrate durchgängig höher war als der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise. Zudem war der trendmäßige Anstieg der Arbeitsproduktivität mit 0,7% im Jahr 2009 deutlich höher als der Rückgang der Arbeitsproduktivität um -2,6%. Dass dies so war, markiert keinen tarifpolitischen Erfolg, sondern die Tatsache, dass Löhne Vertrags- und Gewinne Residualeinkommen sind, Gewinne sinken in der Krise, Löhne bleiben stabil. Dass Löhne stabile Vertragseinkommen sind, ist die Folge der Durchsetzung eines politisch fixierten Vertragssystems durch das Tarifvertragsgesetz.
Mit der Beachtung der Zielinflationsrate wird erreicht, dass in Gesellschaften mit einer unterdurchschnittlichen Inflationsrate die Erhöhungen der realen Löhne etwas über der trendmäßigen Rate des Anstiegs der Arbeitsproduktivität liegen und damit für Deutschland ganz leicht inflationär wirken, was die Stabilität im Euroraum begünstigt. Damit wird die makroökonomische Scharnierfunktion der Löhne neu gewichtet oder kalibriert.
Die Scharnierfunktion besteht darin, dass eine unterdurchschnittliche Inflation zu einer realen Abwertung, und die darüber liegenden Inflationsraten zur realen Aufwertung führen. Damit wird in einer Währungsunion wieder ein dieses Mal realer Wechselkurs durchgesetzt. Dieser hat die deutsche Exportwirtschaft durch niedrigere nominale Preise in internationalen Handel begünstigt. Oft wird auch die Sicht vertreten, dass die unterdurchschnittlichen Lohnsteigerungen als Lohndumping auf der Angebotsseite wirken, aber dies gilt nicht generell und nur zeitweise, wenn die Exportpreise den Lohnstückkosten in der gleichen Rate folgen. Das war aber zeitweise nicht der Fall, weil die Exportpreise stärker gestiegen waren als die gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten.[7]
Es werden auch keine Einheiten nationaler Lohnstückkosten gehandelt, sondern Produkte und Dienstleistungen, deren Produktionspreise durch andere Arbeitskosten bestimmt werden als durch die gesamtwirtschaftlichen nationalen Lohnstückkosten. Diese spielen eine wichtige Rolle für die nationalen Inflationsraten. Diese Korrelation zwischen Lohnentwicklung und Preisniveau darf aber nicht so interpretiert werden, als sei diese der einzig relevante Zusammenhang. Die restriktive Fiskalpolitik vor 1969 und nach 1981 spielt ebenso eine Rolle wie die Geldpolitik der Bundesbank, die erfolgreich versucht hatte, die Lohnpolitik der Gewerkschaften zu disziplinieren. Dieser Hinweis auf die Rolle der Fiskalpolitik markiert eine weitere Differenz zu der auf Makroskop.eu überwiegend vertretenen Sicht. Auch ab 2012, als die Gewerkschaften den Verteilungsspielraum nahezu ausschöpfen konnten, blieb in der Folge der restriktiven Finanzpolitik die deutsche Inflationsrate niedrig und die reale Abwertung deutscher Produkte in der Eurozone setzte sich fort.
Gründe für den tarifpolitischen Paradigmenwechsel
Wenn versucht wird, den Gewerkschaften einzureden, die Abschlüsse ihrer Tarifpolitik müssten in Zukunft strikt an der neuen (IMK-)Formel orientiert sein, verkennt das die tatsächlichen Prozesse der Lohnfindung. Auf Seiten der Gewerkschaften handelt es sich um einen zumindest formal demokratischen Prozess, denn die Forderungen werden zunächst in der Mitgliedschaft diskutiert und dann in Tarifkommissionen beschlossen. Sicher nehmen die Gewerkschaftsvorstände durch die Vorbereitung dieser Debatten darauf Einfluss. Deshalb hatte Zwickels Initiative 1995 auch so fatale Folgen, weil sie einen längerfristigen tarifpolitischen Paradigmenwechsel in den DGB-Gewerkschaften eingeleitet hat, der erst 2012 wieder korrigiert wurde.
Für diesen Paradigmenwechsel weg von der produktivitätsorientierten Tarifpolitik sind zwei Faktoren ausschlaggebend. Das waren einmal die Austritte zahlreicher Unternehmen aus dem Geltungsbereich der Flächentarifverträge, weil die Arbeitgeberverbände die Möglichkeit einer Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT) geschaffen hatten. Der zweite Faktor war der in den 1990er Jahren dominierende Globalisierungsdiskurs. Dessen zentrale These war, dass unter den Bedingungen der Globalisierung das anglo-amerikanische Kapitalismusmodell erfolgreicher sein werde, als das korporative Modell des »Rheinischen Kapitalismus«.[8] Diese These wurde damit begründet, dass der internationale Wettbewerb die korporativen und wohlfahrtstaatlichen Institutionen des deutschen Modells aushöhlen würde, weil insgesamt die Rolle des Nationalstaates im Prozess der Internationalisierung nachhaltig geschwächt werde. Dabei wurde ignoriert, dass der deutsche Handelsmerkantilismus seit den 1950er Jahren seine starke Wettbewerbsposition im internationalen Wettbewerb gegenüber den USA ausgebaut hatte und es keine Anhaltspunkte gab, dass sich das ändern müsse.
Die in der IG Metall diskutierte Frage war im Anschluss an Streeck, dessen Text in der IGM bekannt war, ob der deutsche Kapitalismus mit seiner ausgeprägten Exportorientierung und seinen korporativen Institutionen überleben könne. Lohnzurückhaltung und eine größere Lohnspreizung nach unten waren die sozialwissenschaftlichen Ratschläge für diese Konstellation. Sie wurden in einer Situation ausgesprochen, die schon einige Jahre vorher durch die Debatten über einen angeblich Solidarität stiftenden Lohnverzicht geprägt worden war. Insofern war der gewerkschaftsinterne Widerstand gegen den tarifpolitischen Kurswechsel der IG Metall schwach. In der Gewerkschaft ÖTV fand 1998 eine ähnliche Debatte – angeregt durch den Politikwissenschaftler Peter Grottrian – um Lohnverzicht zur Finanzierung zusätzlicher Beschäftigung im öffentlichen Dienst statt. Diese von der ÖTV-Führung vorgelegte Initiative wurde in der zuständigen Tarifkommission mit knapper Mehrheit abgelehnt, aber sie zeigt die intellektuelle Verflachung und die neoklassische Prägung der tarifpolitischen Diskussionen. Damit war der ideologische Boden für das förmliche Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit vom 6. Juli 1999 fixiert. Gerhard Schröder hat das Bündnis 2003 beendet und durch die Hartz-Reformen ersetzt. Die Gewerkschaften des DGB wurden neben ihrem selbst initiierten Übergang auf eine neoklassische Lohnpolitik zusätzlich Opfer ihrer eigenen SPD-Hörigkeit.
[1] Siehe Hansjörg Herr, Der Merkantilismus der Bundesrepublik Deutschland in der Weltwirtschaft, in: Klaus Voy, Werner Polster, Claus Thomasberger (Hrsg.), Marktwirtschaft und politische Regulierung, Marburg 1991. Zu einer ähnlichen Interpretation kommt Martin Höpner, der herausarbeitet, dass das deutsche Modell einer Unterbewertung der Währung, hier der DM, bereits unter den Bedingungen von Bretton Woods durchgesetzt worden ist. Martin Höpner, The German Undervaluation Regime under Bretton Woods. In: MPIfG-Discussion Paper 19/1, Köln 2019.
[2] Siehe zum Lohnabstand zwischen Industrie- und Dienstleistungslöhnen: IMK-Report Nr. 148 (2019).
[3] Siehe dazu Michael Wendl, Von der Makro- zur Mikroökonomie. Die deutsche Lohnpolitik und die Krise der Europäischen Währungsunion, in: Klaus Voy (Hg.), Deutschland in Europa, Marburg 2019.
[4] Marx hat das als Verdrehung der tatsächlichen Verhältnisse bezeichnet, als »Erscheinungsform«, auf der »alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie« beruhen (MEW 23; 562).
[5] Siehe Fritz W. Scharpf, Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa, Frankfurt/M. 1987.
[6] Siehe Klaus Voy, Die deutsche Finanzpolitik im europäischen Kontext, in: Klaus Voy (Hg.), Deutschland in Europa, Marburg 2019.
[7] Torsten Müller, Thorsten Schulten, Sepp Zuckerstätter, Die Bedeutung der Löhne für die wirtschaftliche Entwicklung in Europa, in: Tosten Müller, Thorsten Schulten, Guy Van Gyes (Hg.), Lohnpolitik unter europäischer »Economic Governance«, Hamburg 2016.
[8] Wolfgang Streeck, Deutscher Kapitalismus: Gibt es ihn? Kann er überleben? In: Wolfgang Streeck, Korporatismus in Deutschland, Frankfurt/M.1999. Der Text erschien 1997 in englischer Sprache, eine deutsche Übersetzung kursierte bereits 1995 in der IG Metall.