27. April 2021 Otto König/Richard Detje: 70 Jahre Montan-Mitbestimmung
Ein Auslaufmodell?
Die Mitbestimmung, die vor 70 Jahren zunächst in den Unternehmen der Montanindustrie gesetzlich verankert wurde, war ein Erfolg der streikbereiten Arbeiter:innen und Angestellten in der Kohle- sowie in der Eisen- und Stahlindustrie.
Die paritätische Beteiligung der Beschäftigten an unternehmenspolitischen Entscheidungen spielte in den gewerkschaftlichen Neuordnungsvorstellungen der Nachkriegsjahre eine zentrale Rolle, allerdings nicht als singuläre Forderung, sondern als Teil einer umfassenderen Neuordnung der Produktions-, Besitz- und Vermögensverhältnisse. In seinen »Wirtschaftspolitischen Grundsätzen« (Münchener Programm) forderte der neugegründete Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) 1949 einen Dreiklang aus Mitbestimmung, Vergesellschaftung und gesamtwirtschaftlicher Planung in den Schlüsselindustrien.
Die Durchsetzungschancen schienen zunächst günstig. Um der drohenden Entflechtung und Sozialisierung zu entgehen, hatten die geschwächten Stahlbarone bereits Anfang 1947 »freiwillig« Zugeständnisse an die Arbeiterschaft gemacht. Die Gewerkschaften sollten in den Aufsichtsräten die gleiche Anzahl an Sitzen wie die der Anteilseigner erhalten, lautete das Angebot der Aufsichtsratsvorsitzenden der Klöckner-Werke, Karl Jarres, und der Gutehoffnungshütte, Hermann Reusch.
Im Frühjahr 1947 kam ein Kompromiss zustande: In 25 Unternehmen der Stahlindustrie, die ausgegliedert und in selbständige Aktiengesellschaften umgewandelt wurden, setzte sich der Aufsichtsrat wie folgt zusammen: fünf Anteilseigner, davon ein von der Kapitalseite benannter Vertreter der öffentlichen Hand, und fünf Arbeitnehmervertreter, davon zwei Betriebsräte, zwei Gewerkschaftsbeauftragte und ein von den Arbeitnehmern benannter Vertreter der öffentlichen Hand und als elftes Mitglied ein »Neutraler« als Vertreter der Treuhandverwaltung.
Die fortschreitende Restauration der alten Besitz- und Machtverhältnisse in der Bundesrepublik im Windschatten des aufziehenden »Kalten Krieges« verhinderte jedoch tiefgreifende gesellschafts- und wirtschaftspolitische Veränderungen. Auf den Vorstoß der Adenauer-Regierung, die zwischenzeitlich praktizierten Mitbestimmungsregelungen wieder abzuschaffen, reagierten die Gewerkschaften IG Metall und IG Bergbau in der Montanindustrie mit Urabstimmungen. 96% der Metaller und 92% der Bergarbeiter zeigten sich bereit zum Streik. Die Bundesregierung lenkte ein.
Am 10. April 1951 verabschiedete der Deutsche Bundestag das »Gesetz über die Montanmitbestimmung«. Darin wurde die paritätische Beteiligung der Belegschaften und ihrer Gewerkschaften in den Entscheidungsorganen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie festgeschrieben. Das war das Einzige, was die Gewerkschaften von ihren Vorstellungen einer grundlegenden Wirtschaftsdemokratie durchsetzen konnten.
Als sektoral begrenzter Reformansatz stand die Montanmitbestimmung immer in der Gefahr, ausgehöhlt zu werden: Durch die Re-Konzentration der 1947 entflochtenen Stahlkonzerne seit den 1950er Jahren und den Zukauf von Nichtmontanunternehmen ist vielfach die Basis für die qualifizierte Mitbestimmung (der »überwiegende Betriebszweck« muss im Montanbereich liegen), insbesondere durch die Bildung von Konzernobergesellschaften, entfallen. Neben ergänzenden Gesetzen zur (befristeten) Fortsetzung der Montanmitbestimmung in ehemaligen Montanunternehmen waren und sind es vor allem vertragliche Vereinbarungen zwischen der IG Metall und den Unternehmen, die dieses Mitbestimmungsmodell auf schrumpfender Basis abgesichert haben.
Eine Ausweitung der Montanmitbestimmung auf alle Großunternehmen in der »Blütezeit sozialdemokratischer Reformpolitik« zu Beginn der 1970er scheiterte am Widerstand der konservativ-wirtschaftsliberalen Kräfte in der Politik sowie der machtvollen Lobbyarbeit der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände, die die Forderung nach Parität als »Marsch in den Gewerkschaftsstaat« diffamierten. Mit dem »Mitbestimmungsgesetz 76« wurde die Begrenzung der »paritätischen Mitbestimmung« auf den rapide schrumpfenden Bereich der Montanindustrie festgeschrieben.
Waren beispielsweise 1960 in der damaligen Bundesrepublik allein in der Stahlindustrie 420.000 Menschen beschäftigt, waren es Mitte der 1990er Jahre nach den Fusionen und Stilllegungen im Ruhrgebiet und der Deindustrialisierung in der ehemaligen DDR noch 120.000 und heute – 2021 – nur noch rund 70.000 Beschäftigte. Durch Entfallen gesetzlicher Voraussetzungen, dem Auslaufen von Übergangsregelungen und schrumpfender Belegschaftszahlen wird die Montanmitbestimmung zu einem Auslaufmodell.
Die Montanmitbestimmung trug mit dazu bei, dass neben betriebswirtschaftlichen und technischen Gesichtspunkten auch die arbeitspolitischen und sozialen Interessen der Beschäftigten in der Entscheidungsfindung der Unternehmen berücksichtigt wurden. Gleichzeitig konnte sich in den 1950er/60er Jahren auf den Zechen und in den Stahlbetrieben eine wirksame unternehmens- und betriebsbezogene Interessenvertretung entwickeln. Der damit verbundene Machtzuwachs eröffnete den Betriebsräten und IG Metall-Vertrauensleuten neue Handlungsspielräume vor allem im Zusammenspiel mit dem arbeitsdirektoralen Vorstandsbereich.
Insbesondere in der Prosperitätsphase der 1950er und 1960er Jahre konnten mit Unterstützung der Institution »Arbeitsdirektor« viele soziale Einrichtungen durchgesetzt und beim Arbeitsschutz und der Arbeitssicherheit, der Aus- und Weiterbildung wie auch der menschengerechten Arbeitsplatzgestaltung wegweisende Konzepte entwickelt und teilweise durchgesetzt werden. Die Montanmitbestimmung schuf den Raum für eine stark auf Konsens und Kompromiss zielende Verhandlungspraxis, die aber auch immer wieder von harten Konflikten und offenen Auseinandersetzungen unterbrochen wurde.
Mit der wirtschaftlichen Rezession 1966/67 und dem Rückgang der Stahlproduktion sowie der Stilllegung von Anlagen in größerem Stil wurden unter Federführung der Arbeitsdirektoren erstmals »Sozialpläne« abgeschlossen. Die Mitbestimmungsträger in der Stahlindustrie – Betriebsräte, Arbeitsdirektoren und Arbeitnehmervertreter:innen in den Aufsichtsräten – schufen sich damit ein Instrument, mit dem sie die Investitionspläne der Vorstände begleiten, gleichzeitig Massenentlassungen verhindern und den Arbeitsplatzabbau »sozial verwalten« konnten.
In den Sozialplänen wurde vorrangig das Ausscheiden älterer Arbeitnehmer:innen über den Weg der »Frühverrentung« geregelt. Mit dem zunehmenden Arbeitsplatzabbau in den nachfolgenden Jahren wurde die Grenze der Frühverrentung Schritt für Schritt von zunächst 59 auf 55, gelegentlich sogar auf 50 Jahre heruntergesetzt. Je nach Unternehmen und Zeitpunkt schwankte entsprechend der vereinbarten Sozialpläne das Einkommen der ausscheidenden Stahlarbeiter:innen zwischen 82% und nahezu 100% des vorherigen Netto-Lohneinkommens.[1]
Vor diesem Hintergrund entwickelte sich bis auf den heutigen Tag folgende »Mitbestimmungspraxis«: War die Absicherung der betroffenen Beschäftigten in den Verhandlungen zwischen Betriebsräten und dem arbeitsdirektoralen Bereich durch materiell gut ausgestattete Sozialpläne geklärt, stimmten die Arbeitnehmervertreter, die sich den wirtschaftlichen Argumenten der Kapitalseite nun nicht mehr verschließen wollten, in den Aufsichtsräten den Stilllegungsmaßnahmen zu. Durch diese Handhabung nach dem Motto »es darf niemand ins Bergfreie fallen« reduzierte sich die Montanmitbestimmung für die Beschäftigten auf die Möglichkeit, vorzeitig aus dem Arbeitsleben auszuscheiden.
Für die Arbeitnehmer:innen an den Hochöfen, in den Stahl- und Walzwerken sowie Stahlgießereien war dies aufgrund der schweren Maloche positiv, jedoch für die nachwachsenden Generationen negativ, denn mit jedem frühzeitigen Ausscheiden eines Beschäftigten war dessen Arbeitsplatz in den »monostrukturierten« Stahlregionen unwiderrufbar weg.
Im Nachgang zur Weltwirtschaftskrise 1974/75 bestimmten das chaotische Gerangel um Stahl-Quoten, Kapazitätsabbau, Spartenfusionen und Firmenübernahmen aber auch Zukäufe von Unternehmen in stahlfremden Bereichen im In- und Ausland die Situation in der bundesrepublikanischen Stahlindustrie, mit der Folge, dass weitere 100.000 Arbeitsplätze durch die Stahlkonzerne vernichtet wurden. Hatte die Sozialplanpolitik zunächst wieder Hochkonjunktur, setzte sich 1987, mit der Ankündigung der Stahlkonzerne, weitere 40.000 Arbeitsplätze abbauen zu wollen, bei den Interessenvertretern die Erkenntnis durch, dass Sozialpläne zwar den unmittelbar Betroffenen das Schicksal erleichtern, aber dass sie zur Krisenbewältigung ungeeignet sind.
Spätestens nach den Stilllegungsplänen von Thyssen für die Standorte Hattingen und Oberhausen sowie von Krupp für das Stahlwerk Rheinhausen, verbunden mit der Ankündigung von Massenentlassungen, wurde klar, dass der Arbeitsplatzabbau nicht mehr allein »sozialverträglich« bewältigt werden konnte. Ausgehend vom Kampf um die Hattinger Henrichshütte[2] verbreitete sich unter den kämpfenden Stahlbelegschaften die Forderung nach Ersatzarbeitsplätzen: »Es darf nicht nur abgeholzt, es muss auch aufgeforstet werden.«
Dazu sollte die IG Metall-Rahmenkonzeption »Beschäftigungsgesellschaft Stahl« beitragen. In diesen Auseinandersetzungen versagte die montanmitbestimmte Institution »Arbeitsdirektor« jedoch eklatant. Die sogenannten »Vertrauensmanager« der Belegschaft ignorierten die zwischen der IG Metall und der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie im Juni 1987 abgeschlossene »Frankfurter Vereinbarung«, in der sich die Stahlunternehmer gegenüber der Gewerkschaft zur Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen verpflichtetet hatten, und lehnten im Gleichschritt mit ihren Vorstandsvorsitzenden die Konzeption »Beschäftigungsgesellschaft Stahl«, bei der »Beschäftigungssicherung mit dem konzerninternen Aufbau von Ersatzarbeitsplätzen« verbunden werden sollte, ab. Die Hennigs (Thyssen) und Meyerwischs (Krupp) konterkarierten bewusst die Forderung des damaligen IG Metall-Vorsitzenden Franz Steinkühler, in der Frage »Ersatzarbeitsplätze in den Vorständen bis an die Bruchgrenze zu gehen« und setzten weiterhin auf die traditionelle Sozialplanpolitik.[3]
Bis auf den heutigen Tag wird die Politik der »Abmilderung« der Auswirkungen der Stahlkrise in den Stahlkonzernen fortgesetzt und auf jegliche Ansätze betrieblicher Beschäftigungssicherung, geschweige denn strukturpolitischer Initiativen in den Stahlregionen verzichtet. Allerdings ist aufgrund gesetzlicher Änderungen infolge der Schröderschen Agenda- und Hartz-IV-Politik die gut dotierte Frühverrentungspolitik über Sozialpläne nicht mehr möglich. Diese wurde mittlerweile durch ausgeweitete Altersteilzeitvereinbarungen, die Gründung von »Transfergesellschaften«, die ein inhaltlich total abgespecktes Modell der Konzeption »Beschäftigungsgesellschaft« darstellen, und freiwillige Abfindungsprogramme ersetzt.
Wie die letzten gesellschaftlichen Demokratie- und Systemkorrekturimpulse der paritätischen Mitbestimmung in der Montanindustrie vor die Hunde gehen, lässt sich in den zurückliegenden Monaten exemplarisch an den Vorgängen bei der traditionsreichen Ruhrgebiets-Ikone Thyssenkrupp beobachten. Obwohl Missmanagement, Fehlinvestitionen in Milliardenhöhe und korrupte Geschäftspraktiken den größten deutschen Stahlkonzern in die schwerste Krise stürzten, haben die Arbeitnehmervertreter:innen im Aufsichtsrat alle strategischen Schwenks der wechselnden Konzernvorstände bis hin zur »Selbstzerlegung« des Konzerns mitgetragen – nach dem Prinzip »der Umbau ist schmerzhaft, aber unvermeidbar«.
Eine Politik der Interessenvertretung, die nur auf sozialverträgliche Personalabwicklung setzt und darauf verzichtet, mit massiven Druck der Stahlkocher:innen Alternativen für wegfallende Beschäftigung durchzusetzen, trägt jedoch zum Niedergang der Stahlregionen bei und beschleunigt das Ende der Montanmitbestimmung.
[1] Finanziert wurden die Sozialpläne von den Stahlkonzernen, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), der Bundesregierung.
[2] Siehe hierzu auch Otto König: Band der Solidarität. Widerstand, Alternative Konzepte, Perspektiven. Die IG Metall Verwaltungsstelle Gevelsberg-Hattingen 1945–2010, VSA: Verlag Hamburg 2012.
[3] Dies war möglich, weil sich die Bundesregierung, die Stahlindustrie und die IG Metall im »5. Stahlgespräch« am 2.10.1987 in Bonn auf 600 Millionen DM öffentliche Hilfen (Bund, Länder und EU-Mittel) verständigten. Daraufhin verpflichteten sich die Stahlkonzerne bis Ende 1989 keine betriebsbedingten Kündigungen auszusprechen – stattdessen das Personalproblem über Frühpensionierungen über Sozialpläne, konzerninterne Ver- und Umsetzungen und »freiwilliges« Ausscheiden mit Abfindungen zu regeln. Damit waren die angedrohten Massenentlassungen in Hattingen vom Tisch und Krupp-Konzernchef Gerhard Cromme konnte die Stilllegung von Rheinhausen verkünden.