Hajo Funke
AfD-Masterpläne
Die rechtsextreme Partei und die Zerstörung der Demokratie | Eine Flugschrift
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ISBN 978-3-96488-210-3

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Strategische Fragen linker Politik in Zeiten von Krieg und Krise
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126 Seiten | EUR 12.00
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Antje Vollmer/Alexander Rahr/Daniela Dahn/Dieter Klein/Gabi Zimmer/Hans-Eckardt Wenzel/Ingo Schulze/Johann Vollmer/Marco Bülow/Michael Brie/Peter Brandt
Den Krieg verlernen
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ISBN 978-3-96488-196-0

Stephan Krüger
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ISBN 978-3-96488-189-2

Frank Deppe
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176 Seiten | EUR 14.80
ISBN 978-3-96488-197-7

Peter Wahl
Der Krieg und die Linken
Bellizistische Narrative, Kriegsschuld-Debatten und Kompromiss-Frieden
Eine Flugschrift
100 Seiten | Euro 10.00
ISBN 978-3-96488-203-5

Heiner Dribbusch
STREIK
Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

11. April 2018 Bernhard Sander

Ein Lebenszeichen der französischen Gewerkschaften

Foto: beyssac | flickr.com (CC BY-NC 2.0)

Der Modernisierungsstau bzw. die Versuche, ihn im Verständnis der Mittelklassen zu beheben, prägen die innenpolitische Szene Frankreichs. Dabei mobilisiert sich erneut sozialer Widerstand.

Im Gefolge der sich allmählich verbessernden Weltwirtschaft zog seit der zweiten Jahreshälfte 2016 auch die französische Konjunktur soweit an, dass die offizielle Arbeitslosenquote um 1% sank. Sinkender Ölpreis und Verbilligung des Euro gegenüber anderen Währungen im Verein mit anziehender Auslandsnachfrage werden als Gründe genannt, aber auch die Steuerentlastungen. Doch insgesamt blieb das BIP-Wachstum seit 2014 um 2,5% hinter dem der Eurozone zurück.[1] Das größte Handicap bleibt, dass die französischen Unternehmen auf den Weltmärkten nicht konkurrenzfähig sind.

Frankreichs im vergangenen Mai gewählter Präsident Emmanuel Macron hatte die Einhaltung des Fiskal-Paktes zu einer Priorität gemacht. Er will damit Glaubwürdigkeit in Brüssel und Paris zurückgewinnen, wo er um Unterstützung für seine Pläne zur EU-Reform wirbt. Die EU-Partner hatten Frankreich schon zweimal mehr Zeit gegeben, um seine Finanzen in Ordnung zu bringen. Der Schuldenstand des Landes ist weiterhin hoch: Er kletterte von 96,6% auf 97% der Wirtschaftskraft. Nach den EU-Regeln sind bei diesem Wert 60% angestrebt.

Die Neuverschuldung betrug 2,6% der Wirtschaftsleistung des Landes, wie die Statistikbehörde Insee mitteilte. Die EU-Kommission hatte im Herbst vergangenen Jahres noch einen Wert von 2,9% erwartet. Frankreich profitierte dabei vor allem von höheren Steuereinnahmen, die stärker stiegen als die Ausgaben. 2016 war Frankreich noch 3,4% im Minus.

Da dies nur eine konjunkturelle Entspannung der öffentlichen Finanzen signalisiert, machte Macron im Juli 2017 den Staatssektor zum Zentrum seiner Reformbemühungen und erntet nun den sozialen Widerstand.

Die Eisenbahner haben am 22. März das Mutterland bestreikt, da die Regierung des Staatspräsidenten Macron angekündigt hat, das Rentensystem und die Unternehmensverfassung zu ändern, um die Staatsbahn SNCF aus dem Defizit und auf ein konkurrenzfähiges Niveau zu bringen, dessen besondere Dienstleistungsqualität jeder Kunde der DB AG lebhaft beschreiben kann. Die im Betrieb vertretenen Gewerkschaften (CGT, UNSA, SUD, CFDT) empört, dass Macron wieder einmal sogenannte Reformen durch Notverordnungen durch das Parlament und an der öffentlichen Debatte vorbei durchgestellt hat. Aber es geht inhaltlich um durchaus mehr, weswegen die rollierenden Streiks trotz fehlender Streikkassen ein großer Erfolg sind.

Ziel der Reformen Macrons ist es, »die Funktion der öffentlichen Eisenbahngruppe im Kontext der Vollendung der Öffnung zum Wettbewerb in den Eisenbahndienstleistungen zu verbessern«, wie es im Artikel 1 heißt, also die gesamte juristische Verfassung und Managementstruktur des Konzerns zu überdenken. Es wird kein neues Personal zu den alten Statuten mehr eingestellt, ein auch in Deutschland seit Jahren mit dem Segen der Gewerkschaften angewandtes Verfahren der Besitzstandswahrung. Hintergrund ist die auch von französischen Vorgänger-Regierungen unterzeichnete 4. EU-Richtlinie, die bis zum Jahresende umgesetzt werden muss. Auf deutschen Schienen fahren im Güter- und im Personenregionalverkehr bereits die »Töchter« britischer, niederländischer usw. Eisenbahngesellschaften und umgekehrt.

Macron plant –folgt man dem Verordnungstext – keine Privatisierung nach britischem Vorbild. Zweifelhaft bleibt, wie die Änderung der Rechtsform (z.B. Umwandlung in eine Aktiengesellschaft) gelingen soll, wenn aktuell 54 Mrd. Euro Schulden auf dem Staatsunternehmen lasten, davon allein 46 Mrd. Euro auf der Netzgesellschaft.[2] Dies ist vor allem auf den Ausbau des landesweiten TGV-Hochgeschwindigkeitsnetzes zurückzuführen zulasten des personalintensiven Regionalverkehrs in einem sich immer mehr entvölkernden »Landesinneren«. Die Gewerkschaften befürchten hier den Teilverkauf rentabler Unternehmensteile und vor allem die Verschlechterung der Zusatzversorgung im Alter. Letzteres hat die Regierung aber bereits auf das kommende Jahr verschoben, wenn die gesamte Altersversorgung in Frankreich auf die Agenda gesetzt werden soll.

Direkt betroffen sind 146.000 Beschäftigte, eine Zahl die beständig sinkt. 1970 waren es noch 300.000 EisenbahnerInnen und im Jahr 2000 noch 175.000. Es ist ja auch nicht die erste Liberalisierung: 1997 wurde die Staatsbahn SNCF in zwei Gesellschaften geteilt: die Netz-Infrastruktur und die SNCF-Mobilité, wobei der Netz-Gesellschaft der allergrößte Teil des Staatsunternehmens übertragen wurde. (In Deutschland wurden 1994 die Schulden in den Staatshaushalt übernommen, um den Gang der DB AG an die Börsen vorzubereiten). 2003 erfolgte die europäische Öffnung der internationalen Fracht, 2006 die Fracht auf den Schienen des Binnenlandes, was der SNCF 40% ihres Marktes kostete.[3]

Die Gewerkschaften reklamieren den ersten Streiktag als Erfolg. An 180 Kundgebungen und Veranstaltungen hätten sich 500.000 KollegInnen beteiligt, während die Regierung von 323.000 spricht. In beiden Fällen sind dies mehr als doppelt so viele wie bei den letzten Aktionen gegen die Macronitischen Arbeitsmarktreformen. Und auch der Streiktag im öffentlichen Dienst im Oktober 2017 mobilisierte nur 207.000 bzw. 400.000 Menschen.[4]

»Wir können gewinnen«, heißt es an der Basis. Aber das hängt auch davon ab, ob die Streikquote von 35,4% durch die Beteiligung der weiteren Gewerkschaftsbünden (vor allem CFDT, FO) deutlich erhöht werden kann. Das war am 3. und 4. April nicht der Fall.

Am 19. April soll es einen »Tag der Konvergenz der Kämpfe« geben, um über die Einbeziehung der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst (Stellenstreichungen, Null-Runden in der Entlohnung) die anderen Gewerkschaften einzubeziehen. Die rollierenden Arbeitsniederlegungen im Eisenbahnverkehr schonen die Haushaltseinkommen der Streikenden, entfalten aber über die komplizierten Dienst-und Fahrpläne bei Arbeitswiederaufnahme eine beträchtliche Störwirkung.
Ob sich die Streiks wie angekündigt bis zur Sommerpause durchhalten lassen, wird sich zeigen. Öffentliche Sammlungen bei Prominenten und anderen Spartengewerkschaften erbrachten bisher einen Notgroschen von 300.000 Euro.

Am Rande der Kundgebung in Paris kam es zu einem bemerkenswerten Zwischenfall, dessen Videobilder unterschiedlich interpretiert werden. Einerseits wird behauptet, dass Eisenbahner den Führer von La France Insoumise, der ja gerne die sozialen Kämpfe für sich reklamiert, aus dem Protestzug abgedrängt hätten. Jean-Luc Mélenchon selbst gab auf seiner Internetseite zu Protokoll, er sei nicht unfreundlich empfangen worden. »Ein oder zwei etwas aufgeregte Personen haben gebuht, weil sie mich mit PS verwechselt haben, als ich auf dem Rückweg zur Metro gewesen bin, um rechtzeitig zur Fragestunde im Parlament zu sein«, und veröffentlichte ein eigenes Video.

Auf der Insel Mayotte muss sich Ministerpräsident Phillippe derweil mit den Schattenseiten der paradiesischen Zustände im Mutterland befassen. Hier befinden sich Lokalpolitiker und Gewerkschaften seit sieben Wochen in einem mittlerweile abflauenden Generalstreik. 84% der Bevölkerung von rd. 257.000 Menschen leben unter der Armutsgrenze.[5] Die 2011 vereinbarte Aufwertung in ein Department hat an den Zuständen nichts geändert. Ein Problem sind die ca. 60.000 illegal einwandernden Menschen aus dem benachbarten Afrika, Madagaskar und dem Staat der Komoren, dessen Wohlstand etwa nur ein Drittel der französischen Kolonie beträgt. 3.000 bis 6.000 Menschen sollen in den letzten 14 Jahren bei solchen Einwanderungsversuchen im Meer ertrunken sein, 20.000 werden jährlich ausgewiesen und zurückgeführt. Der französische Staat bezahlt weniger als auf dem Festland: Der Mindestlohn ist mit 1.131 Euro nur drei Viertel so hoch.

Die Sozialhilfe RSA liegt bei 268 Euro auf Mayotte gegenüber 800-900 Euro im Mutterland. Auf den Nachbarinseln beträgt das durchschnittliche Monatseinkommen 70 US-Dollars, etwa 57 Euro. Man bezahlt zwar in Euro, ist aber nicht Teil der EU (unter anderem wegen des matriarchal geprägten Erbrechts). Der Zustrom zur Insel und ins paradiesische Mutterland bleibt ungebrochen.


[1] https://www.alternatives-economiques.fr/reprise-se-generalise/00084101.
[2] http://www.lemonde.fr/economie/article/2018/03/14/sncf-le-gouvernement-lance-sa-reforme-par-ordonnances_5270622_3234.html#zBJ0VlH6fqFY1gpe.99.
[3] http://www.lemonde.fr/les-decodeurs/article/2018/03/21/comprendre-la-reforme-de-la-sncf-en-neuf-points_5274316_4355770.html#4j9rDfzSidgbJqrR.99.
[4] http://www.lemonde.fr/politique/article/2018/03/23/manifestation-du-22-mars-statu-quo-apres-une-mobilisation-reussie_5275281_823448.html#gYyB7JIJ7J6PMF1r.99.
[5] http://www.regards.fr/politique/article/mayotte-histoire-d-un-neocolonialisme-a-la-francaise.

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