16. Februar 2023 Redaktion Sozialismus.de: Vor der Münchner Sicherheitskonferenz
Ein Plädoyer für Verhandlungen und die Formierung »einer neuen liberalen Weltordnung«
Erneut hat sich Jürgen Habermas mit einem Essay zum völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine zu Wort gemeldet. In einem Gastbeitrag mit dem Titel »Ein Plädoyer für Verhandlungen« in der Süddeutschen Zeitung vom 15.2.2023 spricht er sich für die Suche nach einem »für beide Seiten gesichtswahrender Kompromiss« aus.
Denn es gehe um »das Schlafwandeln am Rande des Abgrunds […] als reale Gefahr«. Ihm scheint »der Prozess der Aufrüstung eine eigene Dynamik anzunehmen, zwar angestoßen durch das nur zu verständliche Drängen der ukrainischen Regierung, aber bei uns angetrieben durch den bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung, in der das Zögern und die Reflexion der Hälfte der deutschen Bevölkerung nicht zu Worte kommen.«
Auch aus naheliegenden Gründen wie der Erschöpfung von personellen Reserven und kriegsnotwendigen Ressourcen dränge die Zeit zu Verhandlungen. Zentral aber ist ihm das Argument: »Wenn der Ausbruch bewaffneter Konflikte nicht durch schmerzhafte, auch für die Verteidiger des gebrochenen internationalen Rechts selbst schmerzhafte Sanktionen verhindert werden kann, ist die gebotene Alternative – gegenüber einer Fortsetzung des Krieges mit immer mehr Opfern – die Suche nach erträglichen Kompromissen. Es geht also darum, auf energische Versuche zu drängen, Verhandlungen zu beginnen und nach einer Kompromisslösung zu suchen, die der russischen Seite keinen über die Zeit vor dem Kriegsbeginn hinausreichenden territorialen Gewinn beschert, und doch ihr Gesicht wahren erlaubt.«
Dieser Appell ist ein eindrücklicher Verweis auf die gestiegene Mitverantwortung des Westens in diesem Krieg. Und zu dieser Verantwortung gehört eben auch, Strategien zu entwickeln, diesen jenseits von Sieg oder Niederlage so schnell wie möglich zu beenden.
Habermas’ Plädoyer für Verhandlungen erscheint wenige Tage vor der Parlamentarischen Versammlung der OSZE. Der Krieg in der Ukraine bedeutet auch für die in Wien ansässige Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa eine Zerreißprobe. Die Ukraine und weitere Staaten möchten die russischen Vertreter vom Treffen ausschließen. Österreichs Außenminister, Alexander Schallenberg, ist überzeugt, dass man der russischen Delegation auch aus diplomatischen Gründen den Zugang zur Parlamentarischen Versammlung nicht verwehren dürfe: »Wir brauchen Plattformen wie die OSZE.«
Die diesjährige Münchner Sicherheitskonferenz
Eine weitere solche Plattform, die auch Habermas möglicherweise vor Augen hatte, ist die Münchner Sicherheitskonferenz vom 17. bis zum 19. Februar 2023 im Hotel Bayerischer Hof, auf der hochrangige Gäste aus Politik und Wirtschaft sich der zentralen Herausforderung des Ukraine-Krieges stellen müssen. Unter dem Leitgedanken »Angriff auf die liberale Weltordnung« sollten auch hier Plädoyers für Verhandlungen und Konturen eines gesichtswahrenden Kompromisses die Debatten bestimmen. Allerdings hat der Vorsitzende der Sicherheitskonferenz eine entgegengesetzte Tonlage vorgegeben. Bei der Vorstellung des diesjährigen »Munich Security Report« nannte Christoph Heusgen, der 2022 den Vorsitz der Konferenz übernahm, Wladimir Putins Angriff auf das gesamte Territorium der Ukraine einen »Zivilisationsbruch«.
Die Konsequenz dieser Abgrenzung ist, dass keine russischen Regierungsvertreter eingeladen wurden. Man wolle jemandem wie dem russischen Außenminister Sergei Lawrow keine Plattform für die Verbreitung von Propaganda bieten. Noch im Jahr 2007 hatte die Konferenz Putin eine solche große Plattform geboten. Damals bezeichnete er den Zerfall der Sowjetunion als die »größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts«. Aber weder damals noch in den nachfolgenden Jahren wurde diese These inhaltlich und politisch debattiert. Die geopolitische Katastrophe konnte sich entwickeln.
Denn die zuvor in die sowjetische Kommandowirtschaft eingebundenen Ökonomien mussten völlig neu auf die kapitalistische Marktsteuerung ausgerichtet werden, und es galt, die überlieferten Eigentumsformen einzureißen und neue staatliche Strukturen aufzubauen. Diese Transformation hatte in vielen Ländern zur Folge, dass kleptokratische und oligarchische Machtzusammenballungen entstanden. Die Ablösung von der Sowjetunion 1991 und die wirtschaftliche Anpassungskrise beim Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft prägten alle post-sowjetischen Gesellschaften und hinterließen in den Vielvölkerstaaten eingefrorene Konflikte.
Vision einer regelbasierten liberalen Weltordnung
Die Münchner Konferenz gilt als wichtigstes Treffen von Politiker*innen- und Expert*innen zu Sicherheitsfragen weltweit. Es ist die erste Konferenz seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Die erklärte Zielsetzung ist, mindestens in Konturen eine Vorstellung oder Vision zu entwickeln. Wie soll die Ukraine weiterhin unterstützt werden? Wie lässt sich verhindern, dass sich der Krieg weiter ausweitet und außer Kontrolle gerät? Welche Chancen gibt es für Friedensverhandlungen? Mehr als 40 Staats- und Regierungschefs sowie über 90 Minister*innen werden darüber diskutieren.
Ausgehend von seiner These des »Zivilisationsbruchs« schließt Heusgen die Frage an, wie die Grundlagen der regelbasierten internationalen Ordnung erhalten und gefestigt werden könnten: »Gilt die Stärke des Rechts – oder das Recht des Stärkeren?« Er verband sie mit dem klaren Votum, dass sich die regelbasierte Ordnung, also die Stärke des Rechts, auch weiterhin durchsetzen müsse. Es dürften sich nicht jene politischen Führer durchsetzen, die das Recht nicht achteten. Straflosigkeit dürfe es in der internationalen Ordnung nicht geben.
Bei dem diesjährigen »Munich Security Report« geht es unter erneuter Ausblendung der Probleme in den post-sowjetischen Gesellschaften um »Re:Vision«. Einerseits sollen so die Herausforderungen durch den russischen »Revisionismus« in den Blick genommen werden. »Andererseits wollen wir auch den zweiten Teil des Wortes betonen, also die Vision, die vielleicht wieder in den Mittelpunkt rücken.«
Die Organisatoren der Sicherheitskonferenz raten den Teilnehmern also, eine Vision der internationalen Ordnung zu entwickeln, die auch jene Staaten mitreißt, die zwar keine autoritären Revisionisten, aber aus verschiedenen Gründen mit der bestehenden Ordnung unzufrieden sind. Ohne eine solche klare und attraktive Vision und zugleich unter Ausgrenzung all jener Staaten, die als autoritäre Revisionisten taxiert werden, wird es – so die Organisatoren der Konferenz – schwierig sein, eine realitätsbezogene Internationale Ordnung und den implizierten sicherheitspolitischen Strukturen anzudenken. Das Ziel der Konferenz, »all diejenigen wieder für die liberale, regelbasierte Ordnung zu gewinnen, die derzeit nicht oder kaum bereit sind, diese zu verteidigen«, dürfte wegen der Verengung der Diskussionen kaum zu erreichen sein.
Der Sicherheitsreport nimmt den russischen Überfall auf die Ukraine und die damit verbundenen Folgen für die ganze Welt in den Blick. Dieser Krieg sei ein Symbol für eine Politik des Revisionismus, seine Bedeutung gehe weit über die Ukraine hinaus, denn hier stehe »Grundsätzliches auf dem Spiel«. Der Report enthält eine Umfrage unter den Staaten der G7-Gruppe, in der die große Mehrheit deutlich mache, dass dieser Krieg einen Wendepunkt für die internationale Ordnung darstelle. Krieg als die Sicherheitsbedrohung überhaupt stehe wieder im Fokus – auch damit verbundene Themen wie die Energieversorgung träten wieder in den Vordergrund. Der Report markiere aber auch weitere »Bruchlinien« zwischen den Akteuren der internationalen Ordnung, wie etwa die Konflikte zwischen Arm und Reich oder beim Klima.
Die Zielsetzung, eine neue internationale Weltordnung zu formieren, dürfte angesichts der »tiefen Bruchlinien« kaum eingelöst werden können und die Ausgrenzung wichtiger Akteure als Revisionisten dafür große Hindernisse aufwerfen. Es ist nachvollziehbar, dass bestimmte Regime politisch nicht zugelassen werden, aber dann müssten die Entwicklungen und Brüche dieser Länder zumindest in die Debatten einbezogen werden, auch wenn sich die Sicherheitskonferenz ausdrücklich nicht als neutral verstehe, aber »in diesem internationalen Räderwerk für eine regelbasierte Politik« stehe.
Neben der russischen Regierung sind dieses Jahr auch iranische Offizielle ausgeschlossen, dagegen wurden aus beiden Ländern Oppositionelle nach München eingeladen. In den vergangenen Jahren waren die Außenminister des Irans Stammgäste in München. Teheran wurde in den vergangenen Monaten allerdings wegen seines gewaltsamen Vorgehens gegen die rund fünf Monate andauernden systemkritischen Proteste international wiederholt verurteilt. Gegen das Land wurden zudem neue Sanktionen verhängt.
Ebenfalls keine Einladung bekamen Politiker*innen der AfD. Heusgen, ein früherer außenpolitischer Berater von Altkanzlerin Angela Merkel (CDU), weicht damit von der bisherigen Praxis ab, Vertreter aller im Bundestag vertretenen Parteien in München zu beteiligen. Eine Begründung lieferte der Konferenzleiter nicht. »Das ist eine Entscheidung des Chairmans«, antwortete eine Sprecherin der Konferenz, und erwähnte zugleich, dass bei früheren Konferenzen einzelne Politiker der AfD eingeladen waren.
China ist bei der Konferenz sehr hochrangig vertreten: Mit Wang Yi nimmt erstmals seit Beginn der Pandemie Anfang 2020 wieder ein hoher chinesischer Regierungsvertreter in München teil – und wird vorher Russland besuchen. Der frühere langjährige Außenminister rückte im Oktober ins Politbüro auf und übernahm einen außenpolitischen Spitzenposten, der in der Machthierarchie noch über dem Außenminister steht. Wie ein Außenamtssprecher in Peking mitteilte, wird Wang eine Rede halten und Chinas Position zu großen internationalen Fragen erläutern. Dabei dürfte es auch um den Krieg in der Ukraine gehen.