Hajo Funke
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Antje Vollmer/Alexander Rahr/Daniela Dahn/Dieter Klein/Gabi Zimmer/Hans-Eckardt Wenzel/Ingo Schulze/Johann Vollmer/Marco Bülow/Michael Brie/Peter Brandt
Den Krieg verlernen
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Frank Deppe
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Peter Wahl
Der Krieg und die Linken
Bellizistische Narrative, Kriegsschuld-Debatten und Kompromiss-Frieden
Eine Flugschrift
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Heiner Dribbusch
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Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

26. August 2022 Otto König/Richard Detje: Argentinien steht erneut unter IWF-Kuratel

Ein sozialer Sturm braut sich zusammen

In Argentinien wächst die Mobilisierung für eine Reform der Wirtschafts- und Sozialpolitik. An mehr als 50 Orten kam es mittlerweile zu Kundgebungen und Demonstrationen gegen die sozialen Missstände.

Getragen werden die Proteste von soziale Bewegungen wie den Piqueteros,[1] Gewerkschaften und dem Wählerbündnis »Frente de Todos«, dem auch Präsident Alberto Fernández angehört. Ihre Hauptforderungen: Einführung eines Grundeinkommens (Salario Universal), das das Existenzminimum sichert, Gehalts- und Rentenerhöhungen sowie ein Hilfspaket der Regierung mit Sonderauszahlungen.

Auslöser für die Proteste sind die galoppierenden Preise für Lebensmittel und Energie. Allein im Juni lag die Inflation bei 5,2%. Den Wert für die vergangenen zwölf Monaten geben Wirtschaftsministerium und Zentralbank mit 64% an. Besonders betroffen von den Preissteigerungen sind Gesundheitsdienstleistungen sowie Mieten, Wasser, Strom und Gas. Die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) im Zuge des Schuldenabkommens auferlegten Maßnahmen verschärfen die Situation. Der Druck auf die Regierung von Fernandez wächst, die Auswirkungen der Wirtschaftskrise für die einkommensschwachen Bevölkerungsschichten auszugleichen.

Die exorbitante Inflation frisst die Gehälter der mittleren und armen Bevölkerungsschichten auf. Der gesetzliche Mindestlohn, der aktuell umgerechnet etwa 345 Euro beträgt, bedeutet für viele ein Leben an der Armutsgrenze. Deshalb haben sich beispielsweise im Juli mehr als eine halbe Million Antragsteller*innen registrieren lassen, um weiterhin von der staatlichen Strom- und Gasförderung Unterstützung zu erhalten. Diese soll Menschen aus den niedrigsten Einkommensschichten davor bewahren, ohne Strom und Gas dazustehen, weil sie die Rechnung nicht mehr bezahlen können. Insgesamt haben sich bereits über 1,47 Millionen Haushalte in die staatliche Liste eintragen lassen.

Argentinien befindet sich in einer der schlimmsten Wirtschaftskrisen der letzten Jahrzehnte – und das heißt einiges in einem Land, das in den zurückliegenden zwanzig Jahren bereits zweimal den Staatsbankrott anmelden musste. Ende 2001 erklärte sich der südamerikanische Staat nach dreieinhalb Jahren wirtschaftlicher Depression für zahlungsunfähig. Er konnte die Zinsen und Tilgungen für Staatsobligationen in Höhe von rund 100 Mrd. US-Dollar nicht mehr aufbringen. Die Geierfonds witterten horrende Spekulationsgewinne und stürzten sich auf den vermeintlichen »Kadaver«.[2]

Das Land blickt auf eine lange Rezessionsphase zurück – verschärft durch die Corona-Pandemie. Die aktuelle wirtschaftliche Lage in Argentinien lässt sich wie folgt charakterisieren: Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung ist seit 2011 fast durchgängig gefallen. Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt bei über zehn Prozent und laut jüngsten Angaben leben 37,2% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, das sind 17,4 Millionen Menschen.

Nachdem die Wirtschaft 2021 mit einem Plus von über zehn Prozent wieder Fahrt aufgenommen hatte, drohen nun angesichts des Ukraine-Krieges und insbesondere durch die Sanktionen der westlichen Länder gegen Russland neue Verwerfungen, in deren Folge es zu enormen Preissteigerungen gekommen ist. Parallel hat sich der Wechselkurs zum US-Dollar rasant verschlechtert: Im Juli mussten für 100 US-Dollar in den Wechselstuben noch 25.000 argentinische Pesos hingeblättert werden, inzwischen sind es fast 34.000 Pesos. Gleichzeitig erlitt der sogenannte Dollar Blue, dessen Kurs das Wirtschaftsleben entscheidend bestimmt und der einen direkten Einfluss auf die alltäglichen Preise hat, einen Wertverlust von 33%.

Da die Inflation die Ersparnisse in Pesos innerhalb kürzester Zeit auffrisst, legen die Argentinier, die dazu noch in der Lage sind, jeden überschüssigen Peso in US-Dollar an. In den ärmeren Vierteln hingegen verabschieden sich immer mehr Menschen von der Geldwirtschaft und verlegen sich wieder auf Tauschhandel. In sogenannten Trueque-Klubs treffen sich Menschen, um Tauschgeschäfte einzugehen: gebrauchte Kleider gegen Windeln, selbstgemachter Teig für Putzmittel.

Argentinien ist der mit Abstand größte Schuldner des Internationalen Währungsfonds. In der Krise 2018 gewährte der IWF auf Betreiben des US-Präsidenten Donald Trump der neoliberalen Regierung von Präsident Mauricio Macri einen Beistandskredit in der Rekordhöhe von 57 Milliarden US-Dollar, von denen 44 Milliarden US-Dollar abgerufen wurden.[3] Bisher hat Argentinien rund 5,2 Milliarden US-Dollar an Kapital und Zinsen getilgt. In diesem Jahr werden rund 19 Milliarden US-Dollar fällig, 2023 weitere 20 Milliarden US-Dollar und 2024 nochmals fünf Milliarden US-Dollar. Fakt ist, dass diese Summen nicht getilgt werden können. »Der Fonds selbst hat erklärt, es sei unverständlich, wie ein solcher Kredit mit solchen Bedingungen überhaupt vergeben werden konnte«, erklärte Präsident Alberto Fernández. Für den Sozialaktivisten Juan Grabois steht fest: »Argentinien ist ausgeraubt worden.« (DW 22.07.2022) Dieser Kredit sei der Grund für die hohen Schulden des Landes.

Die Regierung von Alberto Fernández verzichtete auf die ausstehenden 13 Milliarden US-Dollar und verhandelte seit ihrer Regierungsübernahme über eine Neustrukturierung der Schuldenlast, um den Schuldendienst aus Tilgungs- und Zinszahlungen zu strecken und erträglicher zu gestalten. Anfang des Jahres konnte die linksgerichtete Regierung eine Übereinkunft mit dem IWF über die Rückzahlung der ausstehenden Kreditsumme erzielen. Nachdem Mitte März die beiden Kammern des Argentinischen Nationalkongresses mit jeweils klarer Mehrheit dem Deal zugestimmt hatten, gab das IWF-Direktorium grünes Licht für ein neues Schuldenabkommen, in dessen Rahmen das krisengeschüttelte Land Verbindlichkeiten in Höhe von 44 Milliarden US-Dollar (rund 40 Milliarden Euro) begleichen soll. Ein Kredit von 9,7 Milliarden US-Dollar wird dabei sofort ausgezahlt mit dem erklärten Ziel, die öffentlichen Finanzen zu stabilisieren und den Abbau der Inflation voranzutreiben.

Der IWF stellte keine Forderungen nach Kürzungen im Sozialbereich (beispielsweise bei Rentenzahlungen) oder nach Privatisierungen öffentlicher Güter und Unternehmen wie bei früheren »Strukturanpassungsprogrammen«. Im Mittelpunkt des neuen Abkommens stehen die schrittweise Senkung des Haushaltsdefizits von drei Prozent im Vorjahr auf 0,9 Prozent im Jahr 2024, das Abschmelzen der Inflation sowie eine Kürzung der Energiesubventionen für private Haushalte. Die Folge: Ab Juni werden die Subventionen für die zehn Prozent einkommensstärksten Strom- und Gasverbraucher*innen gestrichen. Der große Rest wird in zwei Gruppen aufgeteilt, bei denen die Beihilfen sozialverträglich zurückgeführt werden.

Mit der Einigung hat sich die argentinische Regierung vor allem Zeit gekauft: Das Land muss 2021 bis 2023 mit etwa 4,5 Milliarden US-Dollar nur einen vergleichsweise geringen Teil der in diesem Zeitraum eigentlich fälligen 41 Milliarden US-Dollar Schuldendienst begleichen. Das verschafft dem Land in der derzeitigen Wirtschaftskrise eine Atempause. Gewerkschaftliche und politische Organisationen sind jedoch der Ansicht, dass auch dieses Abkommen einen massiven Souveränitätsverlust darstellt.

Die Mitte-Links-Regierung unter Führung von Alberto Fernández als Präsident und Cristina Fernández de Kirchner als Vizepräsidentin war im Dezember 2019 mit dem Ziel angetreten, die »soziale Verwüstung« des neoliberalen Präsidenten Mauricio Macri rückgängig zu machen. Zu Macris Hinterlassenschaft gehören fünf Millionen Menschen, die nach den Maßstäben der Weltbank mit einem Tageseinkommen von weniger als drei US-Dollar oder ohne ausreichende Grundernährung ein Leben unterhalb der internationalen Armutsgrenze fristen müssen. Der Preis des Grundnahrungsmittel-Korbs hatte sich mehr als verdreifacht, die öffentlichen Dienstleistungen waren für weite Teile der Bevölkerung nicht mehr bezahlbar. Während Macris Präsidentschaft stieg der Stromtarif um 3.624%, der Preis für Gas um 2.401% und der für Wasser um circa 1.025%, während die Reallöhne sanken.

Angesichts einer Auslandsverschuldung von über 200 Milliarden US-Dollar und einer über 50-prozentigen Inflationsrate stellte sich die neue Regierung von Anfang an auf eine Haushaltsführung ein, die sich auf sogenannte reparative Gesten beschränkte, statt die »Sozialstaat-Agenda« der Wahlkampagne durchzusetzen. Ende Dezember 2019 verabschiedete die Regierung als eine der ersten Maßnahmen den Plan »Argentinien ohne Hunger«. Mindestens 2,3 Millionen Familien mit Kindern erhielten eine monatliche Unterstützung in Form von Lebensmittelkarten, mit denen sie für einen festgelegten Betrag jede Woche Nahrungsmittel in den Supermärkten einkaufen können.

Trotz der prekären Schuldensituation schnürte die Regierung ein Hilfspaket in Höhe von umgerechnet knapp zehn Milliarden Euro für die Wirtschaft. Das Paket umfasste Investitionen in die Infrastruktur, Steuererleichterungen und günstige Kredite für Unternehmen. Arbeitgeberbeiträge wurden gesenkt, Gehaltszahlungen anteilig übernommen, das Arbeitslosengeld erhöht, Zuschüsse für Selbständige und Beschäftigte im informellen Sektor sowie Sonderzahlungen für medizinisches und Pflegepersonal beschlossen. Im Dezember 2020 wurde ein einmaliger sogenannter Solidaritätsbeitrag im Kongress verabschiedet: eine einmalige Abgabe für Reiche, deren Vermögen 200 Millionen Pesos (2,17 Millionen US-Dollar) übersteigt. Auf umgerechnet drei Milliarden Euro bezifferte die Regierung die dadurch erwarteten Einnahmen.

Nach den Vorwahlen zum Kongress am 12. September 2021, in der die Regierungskoalition »Frente de Todos« (»Bündnis von allen«) eine Niederlage erlitten hatte, entbrannte ein offener Richtungsstreit über die künftige wirtschaftspolitische Ausrichtung. Vize-Präsidentin Christina Kirchner meldete sich in einem offenen Brief zu Wort. Sie monierte unter anderem eine »falsche Sparpolitik«, die negative Folgen für die Gesellschaft und schlechte Aussichten mit Blick auf Wahlen habe. Der »gemaßregelte« Präsident reagierte darauf mit einer umfassenden Kabinettsumbildung. Schließlich trat am 2. Juli Wirtschaftsminister Martin Guzmann zurück, seine Nachfolgerin Silvina Batakis war nur 24 Tage im Amt.

Aktuell leitet Sergio Massa von der Partei »Frente Renovador« (FR), Juniorpartner in der Regierungskoalition Frente de Todos, als »Superminister« die wirtschaftlichen Geschicke. Er sicherte sich auch die Verantwortung für die Landwirtschaft, die Energie und den Handel. Diese Bereiche unterstanden zuvor nicht dem Wirtschaftsministerium. Wie seine Vorgänger bzw. Vorgängerin kündigte Massa an, die wirtschaftliche »Ordnung« wiederherzustellen. Als Schwerpunkte seiner Arbeit benannte Massa: Steuerpolitik, Aufrechterhaltung des Handelsbilanzüberschusses, Stärkung der Finanzreserven und eine grundsätzliche Entwicklung unter Einbeziehung der sozial Schwachen.[4] Vor allem die nach wie vor galoppierende Inflation gelte es zu bekämpfen. Er kündigte eine Anhebung der Renten an.

Die derzeitige globale Krisensituation könne auch zu einer Chance für Argentinien werden, insbesondere bei den Themen Landwirtschaft und Energiegewinnung sowie dem Bergbau. Der neue Wirtschaftsminister ging explizit auf die Lithiumförderung und dessen Weiterverarbeitung ein. Aus der Zusammenarbeit mit Bolivien ergäben sich dabei Chancen. Doch solange Argentinien »vom Geld der Washingtoner Bürokratie abhängig ist, die von westlichen Diplomaten kontrolliert wird, die sich niemals gegen die herrschende orthodoxe Lehre in der Ökonomik stellen würden, gibt es einfach keinen Ausweg«, meint der Ökonom Heiner Flassbeck. Man könne schon jetzt vorhersagen, dass Argentinien weitere schwere Jahre vor sich habe »Die Abwertung seiner Währung mag für eine Belebung der Exporte und damit für eine gewisse Entlastung sorgen, von einem Konzept, das es erlaubt, der Masse der Bevölkerung eine positive Perspektive zu bieten und die Armut zu verringern, ist das Land meilenweit entfernt«.[5]

Anmerkungen

[1] Als Piqueteros werden in Argentinien Demonstranten bezeichnet, die durch Straßen- und Unternehmensblockaden auf ihre schlechte wirtschaftliche Situation aufmerksam machen. Dies geschieht in Form von »Piquetes«, illegalen Straßenblockaden. (Im Spanischen bedeutet Piquete eigentlich Streikposten).
[2] Siehe auch: Otto König/Richard Detje: Argentiniens Kampf gegen die Geierfonds »Patria o buitres« – Vaterland oder Geier, SozialismusAktuell vom 27.1.2015.
[3] Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat im Zuge einer internen Untersuchung grundlegende Fehler bei der Kreditvergabe an Argentinien im Jahr 2018 eingestanden. Man habe die damalige Entscheidung unter zu optimistischen Annahmen getroffen und Zusagen der Regierung des damaligen Präsidenten Mauricio Macri zu viel Vertrauen geschenkt. (Amerika 21, 29.12.2021)
[4] Siehe auch Jonatan Pfeifenberger: Gegen die Krisen: Neuer »Superminister« für Wirtschaft in Argentinien, Amerika 21 v. 5.8.2022.
[5] Heiner Flassbeck: Argentinien erneut unter IWF-Kuratel – mit schlimmen Konsequenzen. Relevante Ökonomik, 24.4.2022.

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