27. Juni 2020 Joachim Bischoff/Norbert Weber: Die Wirecard-Pleite
Ein Total-Desaster
Der deutsche Finanzkonzern Wirecard galt in den letzten Jahren als umstrittenes, aber erfolgreiches Unternehmen. Inzwischen musste er Insolvenz anmelden, nachdem in den Bilanzzahlen gewaltige Luftbuchungen entdeckt wurden.
Der Finanzdienstleister ist im Kern ein Tech-Unternehmen, seine Dienstleistungen und Produkte sind im Wesentlichen digital. Die bayerische Firma ist in den letzten zwei Jahrzehnten vom Startup zum erfolgreichen Finanzkonzern aufgestiegen. Vor zwei Jahren erreichte das Münchner Unternehmen mit dem Aufstieg in den deutschen Aktienindex (DAX) den Höhepunkt seines Aufstiegs. Allerdings war diese kurze Geschichte von häufigen Auf- und Abbewegungen geprägt.
Vor allem die britische »Financial Times« hatte den Finanzkonzern mehrfach äußerst kritisch beleuchtet. Jetzt ist das Unternehmen Schauplatz eines riesigen Bilanz- und Betrugsskandals. Wirecard teilte mit, dass das bisher zugunsten des Unternehmens ausgewiesene Bankguthaben auf Treuhandkonten über insgesamt 1,9 Mrd. Euro mit großer Wahrscheinlichkeit nicht bestehe. Wie sich bereits in der letzten Woche abzeichnete, ist das Geldvermögen, das einem Viertel der Bilanzsumme entspricht, verschwunden.
Der Wirrwarr hat nun ein zumindest vorläufiges Ende gefunden. Die Pressemeldung dazu lautet: »Der Vorstand der Wirecard AG hat heute entschieden, für die Wirecard AG beim zuständigen Amtsgericht München einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens wegen drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung zu stellen.«
Wie konnte es soweit kommen?
Wirecard ist ein Zahlungsabwickler, also tätig in einem komplexen Geschäftsfeld. Der Kern des Geschäfts besteht in der Absicherung von Bezahlvorgängen. Dieses Absicherungsgeschäft sichert dem Unternehmen Provisionen, die bei jedem Bezahlvorgang anfällt. Im Euroraum hat Wirecard im Bezahlgeschäft lediglich einen großen Konkurrenten: das holländische Unternehmen Adyen.
Wirecard sichert also eine enorme Summe an Bezahlvorgängen für Unternehmen ab und kassiert dadurch auch sehr viele Provisionen. Vor allem im gegenwärtigen Übergang auf digitalen Handel boomte das Geschäft von Wirecard, denn im Netz kann schließlich nicht mit Bargeld bezahlt werden. Auch dort sichert der Konzern die Bezahlvorgänge für die Unternehmen ab.
Wirecard wollte dieser Tage endlich die Bilanzzahlen für das Geschäftsjahr 2019 präsentieren. Doch es gab Probleme seitens der Wirtschaftsprüfer. Die Überprüfung der Bilanzzahlen ergab Luftbuchungen in Höhe von 1,9 Mrd. Euro. Es kam alles anders als gedacht: Nach dem Betrugsskandal folgte nun als vorläufiger Höhepunkt der Insolvenzantrag.
Noch ist nicht klar, was hinter den verschwundenen Bankeinlagen von 1,9 Mrd. Euro – immerhin ein Viertel der Bilanzsumme – steckt. Das Geld sollte auf Treuhandkonten in Asien investiert worden sein. Unklar ist, ob das Geschäft in Fernost, das lange Wachstums- und Gewinntreiber gewesen sein soll, überhaupt existierte.
Deutschlands oberster Finanzaufseher, BaFin-Präsident Felix Hufeld, lässt verlauten: »Es ist eine Schande«. Es gibt in der Tat eine Kette von Verantwortlichkeiten: Zunächst die Strukturen im Unternehmen, dann das testierende Unternehmen zur Prüfung der Bilanzen und schließlich die staatliche (Nicht-)Kontrolle durch die BaFin. Wirecard ist ein Fall für die Justiz und nach den Problemen in der großen Finanzkrise 2008/9 stehen die Beteiligten und auch die staatlichen Kontrollinstitutionen im Zentrum der Kritik. Inzwischen soll auf Initiative der EU-Kommission die Europäische Finanzaufsicht (ESMA) die Rolle der BaFin überprüfen.
Gegründet wurde Wirecard 1999, im Jahr 2002 stieß der Anfang der Woche zurückgetretene Unternehmenschef Markus Braun dazu und managte den Aufstieg. Im Herbst 2018 wurde Wirecard in den Dax aufgenommen. Der Marktwert lag zeitweise bei mehr als 20 Mrd. Euro – höher als der der Deutschen Bank.
Ins Visier von Journalist*innen und Leerverkäufern ist das Unternehmen schon vor langem geraten. Vor fünf Jahren startete die britische »Financial Times« eine Serie, in der das Geschäftsgebaren hinterfragt wurde. Damals seien »nur« 250 Mio. Euro fraglich gewesen, erinnert sich ein Fondsmanager. »Wäre das bereinigt worden, hätte der Kapitalmarkt das Wirecard womöglich noch verziehen.«
Im Geschäftsbericht für 2018 erklärte der Vorstandsvorsitzende Braun, dass die bereits laufenden Untersuchungen in Asien zu keinen Hinweisen auf Korruption geführt hätten. »Ich bin optimistisch, dass Wirecard eine großartige Zukunft vor sich hat.« Die Finanzaufsicht BaFin leitete 2019 Ermittlungen ein – gegen die kritischen Journalist*innen der »Financial Times« – und verbot zeitweise Leerverkäufe, also Wetten auf fallende Wirecard-Kurse.
Eine mögliche Sonderprüfung von Wirecard unterblieb jedoch. Das Testat für den Geschäftsbericht 2019 haben die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young verweigert. Die vorläufigen Ergebnisse für das abgelaufene Geschäftsjahr sowie für das erste Quartal 2020 und weiter gehende Prognosen hat das Wirecard-Management inzwischen kassiert. Folgen für die Abschlüsse vergangener Geschäftsjahre können nicht ausgeschlossen werden.
Mit der Bestellung eines Sonderprüfers von KPMG wollte Wirecard-Chef Markus Braun sämtliche Vorwürfe mit Blick auf die Bilanzierung entkräften. Im Vorfeld der Veröffentlichung des Sonderberichts hatte Wirecard mitgeteilt, die Prüfer von KPMG hätten keinen der von der »Financial Times« erhobenen Vorwürfe mit Blick auf die Bilanz bestätigen können.
Aber der Bericht der KPMG-Prüfer fiel deutlich kritischer aus, was zum Rücktritt des Vorstandsvorsitzenden Braun führte, der sich der Staatsanwaltschaft München stellte, die wegen des Verdachts auf Marktmanipulation und Bilanzfälschung ermittelt. Gegen eine hohe Kaution befindet er sich inzwischen wieder auf freiem Fuß.
Das bei Wirecard für das operative Tages- also auch das Asiengeschäft zuständige Vorstandmitglied Jan Marsalek wurde gekündigt. Gegen ihn hat die Staatsanwaltschaft München einen Haftbefehl erlassen; er ist zwischenzeitlich untergetaucht, Fahnder vermuten ihn in den Philippinen oder in China.
Die Rolle der BaFin und die Folgen
Zu Recht gerät die deutsche Finanzaufsicht BaFin wie zu Zeiten der Großen Finanzkrise immer stärker unter Beschuss. Trotz politischer Beteuerungen, die Aufsichtsregelungen seien verschärft worden, steht der Finanzsektor erneut vor einem enormen Schadensfall. BaFin-Präsident Hufeld räumt Fehler der Aufsichtsbehörde ein, private und öffentliche Institutionen, inklusive der Bafin, hätten versagt, weil ihre Maßnahmen bei Wirecard nicht effektiv genug gewesen seien. Er nehme die öffentliche Kritik voll und ganz an.
Für die Anleger, insbesondere Kleinanleger, ist der Niedergang Wirecards schlimm. Das angelegte Aktienkapital ist weg, der Kurs dümpelte bei gerade mal 3 Euro pro Aktie. Hinzu kommt der riesige Vertrauensschaden. Dabei war es ein Desaster mit Ansage, die Wirecard-Aktie hat in den letzten Monaten mehrfach gewaltige Kursstürze hinter sich.
Ein Blick auf die zehn höchsten Kursstürze von DAX-gelisteten Aktiengesellschaften (im Ranking nach Höhe der Tagesverluste und mit Angaben der auslösenden Faktoren) macht deutlich, dass bereits in der Vergangenheit der Blick der Finanzaufsicht getrübt war:
- HypoRealEstate: 73,9% am 29.9.2008; Grund: notwendiges staatliches Rettungspaket
- Wirecard: 61,8% am 18.6.2020 – Grund: mögliche Bilanzfälschung
- MLP: 48,7% am 2.8.2002; Grund: Gewinnwarnung, Bilanzmanipulationen
- VW Stammaktien: 45,3% am 29.9.2008; Grund: geplatzte Kursblase aufgrund Kursspekulationen
- Infineon: 39,6% am 3.12.2008 Grund: schwache Zahlen
- HypoRealEstate: 37,4% am 6.10.2008; Grund: Notwendigkeit eines zweiten staatlichen Rettungspaketes
- Wirecard: 35,3% am 19.6.2020; Grund: ungeklärte Finanzlage
- HypoRealEstate: 35,2% am 15.1.2008; Grund: Liquiditäts- und Bilanzprobleme schon vor der Lehman-Pleite, insbesondere hohe Abschreibungen auf US-Wertpapiere
- Wirecard: 26,1% am 28.4.2020; Grund: vom Vorstand eingesetzte Sonderprüfer kamen nicht zum erhofften Erfolg, bilanzierte Werte über 1/4 der Bilanzsumme waren nicht nachweisbar
- Wirecard: 25% am 1.2.2019; Grund: Bericht der »Financial Times« über fragwürdige Geschäfte einer Tochtergesellschaft in Singapur; das wurde von Wirecard bestritten, konnte jedoch keinen Nachweis erbringen.
Das Ranking zeigt insbesondere bei Wirecard, dass sich das aktuelle Szenario lange angekündigt hatte. Neu- bzw. Nachkäufe von deren Aktien wurden immer spekulativer. Anstatt bereits Anfang 2019 den Vorwürfen nachzugehen, unterstützte die deutsche Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen die recherchierenden »Financial-Times«-Journalist*innen sowie den Whistleblower aus dem Wirecard-Umfeld.
Es wird also viel zu oft gegen die vorgegangen, die Bilanzmanipulationen, kriminelles Geschehen in großen Unternehmen der Öffentlichkeit bekannt machen. So war es bei MLP, so war es bei den Cum-Ex-Geschäften von Teilen der Banken, so war es auch bei Wirecard.
Gibt es auch »Gewinner«?
Ja, die gibt es tatsächlich. Sogenannte Shortseller hatten sich bereits nach dem ersten Bekanntwerden aufgrund der »Financial-Times«-Recherche auf die Wirecard-Aktie gestürzt und auf Totalverlust gewettet. Das amerikanische Finanztechnologie- und Analyseunternehmen S3 geht davon aus, dass etwa25 % des Aktienkapitals Leerverkäufern zugerechnet werden muss, die alle auf fallende Kurse bzw. Totalausfall gesetzt haben.
Der Kurssturz bei Wirecard hat etlichen Finanzinvestoren Millionengewinne eingebracht. Viele Kleinanleger*innen müssen ihre Anlagen komplett abschreiben, einige Finanzinvestoren streichen erhebliche Spekulationsgewinne ein. Die BaFin hätte längst eingreifen müssen, jetzt ist sie für den enormen Vertrauensverlust mit verantwortlich. Die Kontrollmechanismen haben erneut vollständig versagt.