1. Oktober 2019 Joachim Bischoff/Björn Radke/Axel Troost: Die 70-jährige VR China im Handelskrieg mit den USA
Eine Auseinandersetzung mit Systemcharakter
Die Volksrepublik China zeigt Stärke und begeht den 70. Jahrestag ihrer Gründung mit einer großen Militärparade in ihrer Hauptstadt Peking. Am 1. Oktober 1949 hatte Mao Tsetung die Gründung der Volksrepublik nach dem Sieg über die Kuomintang mit den Worten ausgerufen: »Das chinesische Volk ist aufgestanden.«
Seitdem hat das Land – nach anfänglichen und chaotischen Rückschlägen durch den »Großen Sprung nach vorn« und die Kulturrevolution – eine beeindruckende Entwicklung genommen. Insbesondere seit den »Vier Modernisierungen« ab dem Jahr 1978, die von Deng Xiaoping auf den Weg gebracht wurden, prosperiert das Land und ist inzwischen zur zweigrößten Weltwirtschaft und damit auch in der Globalökonomie zu einem gewichtigen Machtfaktor aufgestiegen.[1] Marktwirtschaftliche Reformen wurden durchgesetzt, die politisch unter der strikten Kontrolle der Kommunistischen Partei bleiben.
Trotz dieser beachtlichen Entwicklung, die große Teile der Bevölkerung insbesondere in den ländlichen Regionen aus tiefer Armut herausführte, steht die Volksrepublik zu ihrem 70. Geburtstag vor den gewichtigen Herausforderungen. Im Inneren drücken Umweltbelastungen, eine zunehmende soziale Spaltung sowie die Forderungen nach mehr Meinungsfreiheit und eine größere Breite der politischen Kultur. Die Proteste im autonomen Hongkong[2] und auch die Beziehungen zu Taiwan markieren weitere Problemfelder. Am drückendsten auch für die weitere innenpolitische Entwicklung dürften die Rückwirkungen des zunehmenden Handelskriegs sein, in den Donald Trump die Volksrepublik gezogen hat.
Der Handelskrieg zwischen den USA und China
Während sich die Volksrepublik von ihrer langjährigen Rolle als globale Werkbank emanzipiert hat, ringt die alte Supermacht USA um ihre Bedeutung. Seit einem Jahr sind die Fronten im Handelskrieg zwischen den USA und China verhärtet. Vor allem US-Präsident Trump lässt den Konflikt immer weiter eskalieren – mit neuen Zöllen und lautstarken Drohungen. Die Hoffnungen auf ein Verhandlungsergebnis haben sich verflüchtigt. Viele Beobachter gehen davon aus, dass die USA und China ihren Handelskonflikt nicht vor den US-Präsidentschaftswahlen im November 2020 beenden. Sie erwarten, dass es zu einer Ausweitung der Sonderzölle auf chinesische Waren kommen wird. Insofern bleiben die Befürchtungen bestehen, dass dieser Wirtschaftskrieg die rezessiven Entwicklungstendenzen der Globalökonomie befördern wird.
Nicht nur auf immer neue Ankündigungen der USA, zusätzliche Zölle zu erheben – Drohungen, die bisweilen kurzfristig wieder zurückgezogen, dann aber neu in Richtung Peking adressiert werden –, reagiert die Führung in China. Auch die Einordnung des Landes als Währungsmanipulator durch die Trump-Administration stößt dort auf Widerstand.
Die chinesische Notenbank PBoC verzichtet darauf, dem verstärkten Abwertungsdruck beim Renminbi entgegenzuarbeiten. Statt also die Währung wie von Trump vorgeworfen durch Manipulation zu schwächen, hat die Notenbank aufgehört, sie durch Interventionen wie bisher zu stärken. Mehr noch: China sei entschieden gegen Unilateralismus, Mobbing und protektionistische Maßnahmen der USA, heißt es in Peking offiziell, da dies die Atmosphäre der chinesisch-amerikanischen Handelskonsultationen untergraben hätte und nicht konstruktiv sei, um den Handelsstreit zu lösen. Die chinesische Führung lehnt die geforderte rasche Korrektur der Asymmetrien im Handel ab und will sich den weitergehenden Forderungen nach einem Umbau der chinesischen Wirtschaftsstruktur nicht unterwerfen, sei aber zu Anpassungen beim Zugang zum chinesischen Markt bereit.
Diese Auseinandersetzung hat insofern »Systemcharakter«, weil die Eröffnung eines Wirtschaftskrieges – nicht nur mit China – als Versuch der Selbstbehauptung der angeschlagenen alten Supermacht USA interpretiert wird. Die chinesische Regierung hat ferner angekündigt, dass sie nicht von ihrer Konzeption einer Erweiterung des Freihandels abrücken will. In einer Regierungserklärung heißt es: Am 1. November dieses Jahres sinken die Zollsätze für 1.585 Produktkategorien um 2,7% auf einen durchschnittlichen Satz von 7,8%. Der Schritt sei für eine gleichgewichtige Entwicklung des Außenhandels förderlich und stehe für eine weitere Öffnung des Landes.
Auslöser des Handelskrieges war der Handelsbilanzüberschuss Chinas und die Bewertung der Trump-Administration, dass China sich einseitig Vorteile verschafft habe. Der US-Präsident fordert eine Beseitigung von Marktschranken, kritisiert die Verletzung von Urheberrechten, den zwangsweisen Technologietransfer bei in China tätigen US-Unternehmen und staatliche Subventionen für chinesische Konzerne. Die Trump-Administration nutzt neben der Strafzöllen und Sanktionen auch die globale Dominanz des US-Dollar-Regimes, um die Interessen der USA durchzusetzen. Auch bei den Sanktionen gegen chinesische Konzerne wie ZTE, Huawei etc. wird der US-Dollar als Marktsperre eingesetzt.
Lange Zeit traf die US-amerikanische Kritik zu, China schwäche den Renminbi durch Devisenmarktinterventionen, um sich dadurch im Außenhandel Vorteile zu verschaffen. Von dieser Politik hat sich Peking jedoch bereits vor Jahren verabschiedet. In der jüngeren Vergangenheit hat die PBoC durch Interventionen am Devisenmarkt den Yuan vielmehr gestärkt.
Gleichermaßen trifft der Vorwurf von ungerechtfertigten Vorteilen im Wirtschaftsaustausch zwischen China und den USA nicht mehr zu. Washington lässt den strukturellen Wandel in der chinesischen Wirtschaft außer Acht. Im Jahr 2018 lag der Anteil der Nettoexporte am chinesischen BIP bei lediglich 0,8%. Das stellt einen dramatischen Rückgang gegenüber einem Jahrzehnt vorher dar, als die Nettoexporte noch ganze 7,5% des realen BIP ausmachten. Das Land ist heute weit weniger anfällig für Handelsschocks, als dies damals der Fall war. Selbst wenn man einen Handelskrieg verlieren würde – eine umstrittene Behauptung –, wäre der gesamte wirtschaftliche Schaden für China begrenzt.
Markant ist die Entwicklung des chinesischen Leistungsbilanzüberschusses. Diese Kennziffer setzt sich aus der Handels-, der Dienstleistungs- und der Transferbilanz sowie der Bilanz für Erwerbs- und Vermögenseinkommen zusammen. So betrug der Leistungsbilanzüberschuss Chinas 2018 nur noch 49 Milliarden US-Dollar oder 0,4% des chinesischen BIP.
Ein Überschuss in dieser Höhe entspricht in den Augen des Internationalen Währungsfonds IWF den Fundamentalfaktoren des Landes und gilt nicht als problematisch. Für 2018 schätzen die Währungsfonds-Ökonomen, dass Überschüsse und Defizite von 35-45% als exzessiv angesehen werden. Aber exzessive Überschüsse liegen in der Eurozone vor, vor allem in Deutschland und den Niederlanden, und in kleineren fortgeschrittenen asiatischen Volkswirtschaften wie Südkorea und Singapur. Exzessive Defizite sind dagegen in den USA, in Großbritannien sowie in Schwellenländern wie Argentinien und Indonesien vorzufinden.
China will, wie der industriepolitische Ansatz »Made in China 2025« zeigt, künftig einen Schwerpunkt auf die Binnenwirtschaft legen, um damit die Produktivität – und schließlich das Wirtschaftswachstum – anzutreiben. Offen ist bislang, wie Chinas Führung die großen Staatskonzerne in die sozialistische Warenproduktion – bislang der Ordnungsrahmen für die private Ökonomie – einbinden kann. Die zentral gesteuerten und von Marktbewegungen abgeschirmten staatlichen Konzerne sind sehr subventionsabhängig und weisen eine geringere Dynamik in der Produktivitätsentwicklung auf.
Dieser politisch angestrebte Strukturwandel der chinesischen Wirtschaft bedeutet auch, dass die Konsument*innen und damit der Binnenmarkt für die weitere Entwicklung zu Schlüsselfaktoren werden. Zudem ist es erklärtes Ziel der chinesischen Staats- und Parteiführung, den Sozialstaat auszubauen. Bis jetzt sind viele Chinesen bei Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Unfällen vor allem auf ihre eigenen Ersparnisse angewiesen, um die schwierige Lage zu meistern. Wenn im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung China künftig den Sozialstaat und den Schutz vor den Unbilden des Lebens ausbaut, müssen die Chines*innen für solche Ereignisse weniger sparen.
Solange dieser Strukturwandel noch in den Anfängen steckt, wird die chinesische Wirtschaft deutlich mehr unter den eingeführten Strafzöllen leiden als beispielsweise die US-Wirtschaft, da sie noch exportabhängig ist. Die zunehmende Bedeutung der chinesischen Verbraucher*innen für das Wachstum führt dazu, dass die Hersteller des Landes mehr an inländische Verbraucher*innen und weniger an den weltweiten Markt verkaufen.
So hat China im Jahr 2017 nur 9% seiner Produktion exportiert, während es im Jahr 2007 noch 17% waren. Dies zeigt, dass China heute unabhängiger vom weltweiten Export wird. Im Gegensatz dazu ist der Rest der Welt stärker von Chinas Wirtschaft abhängig geworden. Länder handeln entweder mehr Waren mit China oder erhalten mehr Investitionen von der Regierung in Peking. Das Fazit von Oliver Tonby, McKinseys Vorsitzender in Asien: »Das zunehmende Engagement der übrigen Welt in China spiegelt die zunehmende Bedeutung Chinas als Markt, Lieferant und Kapitalgeber wider.«
Chinas politische Führung verfolgt eine Politik des gesteuerten Strukturwandels und versucht damit auch, sich unabhängiger vom Export zumachen. Während China den multilateralen Charakter des Weltmarktes unterstützt, zielt die Politik Trumps auf eine Abschottung der eigenen Wirtschaft und eine Abkoppelung vom globalen Handel. Es wird versucht, die amerikanischen Firmen auf Produktionsebene wieder in das eigene Land zu holen.
Der Aufstieg Chinas wird weitgehend auf seinen Staatskapitalismus zurückgeführt, wobei die mit großem Vermögen ausgestattete Regierung eine weitreichende Industriepolitik betreiben und eingreifen kann, um Risiken zu mindern. Dementsprechend soll China seinen Erfolg in erster Linie der »Kontrolle« der Regierung über die gesamte Wirtschaft verdanken.
Diese Erklärung ist problematisch. Es ist richtig, dass China von einer Regulierung profitiert, die in der Lage ist, umfassende und komplementäre Politiken effizient umzusetzen. Chinas Regierungschefs, die nicht den kurzen Wahlzyklen unterworfen sind, die für westliche Demokratien typisch sind, können sich an einer visionären und umfassenden langfristigen Planung orientieren, die sich in ihren Fünfjahresplänen der meisten Entwicklungs- und Übergangswirtschaften widerspiegelt. Diese Ausrichtung ist entscheidend, um Chinas raschen Fortschritt in Bereichen wie Bildung, Gesundheitswesen, Infrastruktur sowie Forschung und Entwicklung zu ermöglichen. Langfristige Planung kombiniert mit regulierter Marktwirtschaft ist das Geheimnis der Strukturreformen. Es ist diese langfristige Strategie, die den Kern des jahrzehntelangen rasanten Wirtschaftswachstums des Landes bildet.
Die Früchte dieses Ansatzes sind eindeutig. Im letzten Jahrzehnt ist eine Reihe privater chinesischer Finanz- und Technologiegiganten aufgetaucht, die es im Gegensatz zu den meisten Staatskonzernen geschafft haben, sich als weltweite Innovationsführer zu etablieren. Die kürzlich veröffentlichte Fortune- Global-500-Liste für 2019 – die Unternehmen nach operativen Erträgen bewertet – umfasst 129 chinesische Unternehmen im Vergleich zu 121 aus den USA. Unter den Fortune- 500-Unternehmen in China befinden sich die E-Commerce-Giganten Alibaba, JD.com und Tencent hinter der beliebten mobilen App We-Chat. Der Aufstieg dieser Unternehmen – und der Wohlstand und die Wettbewerbsfähigkeit, zu deren Förderung sie beigetragen haben – wurde durch Regulierung der sozialistischen Marktwirtschaft ermöglicht.
Nach drei Jahrzehnten zweistelliger BIP-Wachstumsraten war eine Verlangsamung unvermeidlich. Doch auch wenn Chinas Zentralregierung einen gewissen Rückgang des jährlichen Wachstums hinnimmt, will sie weiterhin den Strukturwandel in Richtung einer Stärkung der Dienstleistung und der Implementierung sozialer Sicherheit durchsetzen. Im Bereich der rechtsstaatlichen Fundierung und im Umgang mit Minderheiten gibt es dagegen zu Recht massive Kritik an den bestehenden Defiziten.
Die chinesische Regierung verfolgt im Rahmen ihrer Politik auch die Öffnung des Binnenmarktes für ausländische Investitionen und will mit einer Reihe von Maßnahmen Geschäfte in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt für Unternehmen erleichtern. So stellte die staatliche Planungsbehörde NDRC Pläne vor, mit denen unter anderem private Firmen gefördert und geistiges Eigentum besser geschützt werden sollen. Hürden bei Investitionen und Marktzugängen sollen abgebaut werden. Damit soll die Binnenkonjunktur des asiatischen Landes gestärkt werden, die derzeit den Handelsstreit mit den USA zu spüren bekommt. Öffentliche Ausschreibungen und Auftragsvergaben sollen den Vorschlägen zufolge offen, fair und transparent gestaltet werden. Zudem sollen Banken die Kreditvergabe an private Unternehmen und kleine Firmen erhöhen sowie zielgerichtete Produkte und Dienstleistungen anbieten.
Der US-Präsident versucht mit der Handelspolitik seiner Regierung eine Re-Industrialisierung für sein Land durchzusetzen, was die internationale Ökonomie schon jetzt erheblich belastet. Strafzölle und die Zerstörung von Wertschöpfungsketten sind keine Lösung für die Probleme des 21. Jahrhunderts. Die Trump-Administration beschränkt sich auf die Beseitigung der Asymmetrien und lässt die Zukunft der Welthandelsordnung offen. Sicherlich, Freihandel ist kein Selbstzweck. Er ist eines der wirkungsvollsten Instrumente der Wohlstandssteigerung – für arme und für reiche Länder. Wem am Wohlstand gelegen ist, der müsste für eine Reform der regelbasierten WTO eintreten und sie nicht demontieren wollen. Mechanismen der gegenseitigen Anerkennung von Regulierungen sollten verfeinert und stärker angewandt werden.
Der hier leicht erweiterte Beitrag erscheint in der am kommenden Freitag erscheinenden Oktober-Ausgabe von OXI. Wir bedanken uns bei der Redaktion für den Vorabdruck.
Anmerkungen
[1] Siehe hierzu die Beiträge von Wolfgang Müller (»Wie China die Autoindustrie aufmischt. Kommen Standards für die Mobilität der Zukunft künftig aus China?«) sowie von Stephan Krüger (»Machtverschiebungen in der Weltwirtschaft und Weltpolitik. Der Aufstieg der Volksrepublik China«) in Heft 7-8/2019 von Sozialismus.de.
[2] Siehe hierzu den Beitrag von Wolfgang Müller »Mit Mao-Zitaten und US-Flaggen gegen China. Die Demonstrationen in Hongkong und ihre Hintergründe« in Heft 10-2019 von Sozialismus.de.