Hajo Funke
AfD-Masterpläne
Die rechtsextreme Partei und die Zerstörung der Demokratie | Eine Flugschrift
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ISBN 978-3-96488-210-3

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Strategische Fragen linker Politik in Zeiten von Krieg und Krise
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126 Seiten | EUR 12.00
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Antje Vollmer/Alexander Rahr/Daniela Dahn/Dieter Klein/Gabi Zimmer/Hans-Eckardt Wenzel/Ingo Schulze/Johann Vollmer/Marco Bülow/Michael Brie/Peter Brandt
Den Krieg verlernen
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Frank Deppe
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176 Seiten | EUR 14.80
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Peter Wahl
Der Krieg und die Linken
Bellizistische Narrative, Kriegsschuld-Debatten und Kompromiss-Frieden
Eine Flugschrift
100 Seiten | Euro 10.00
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Heiner Dribbusch
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Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

1. März 2016 Joachim Bischoff / Björn Radke: Die Kanzlerin stellt sich der Kritik – und ignoriert zugleich einen Teil der Probleme

»Eine ganz wichtige Phase in unserer Geschichte«

Rechtskonservative, Rechtspopulisten, der rechte Flügel der Unionsparteien und vor allem die CSU mit ihrem Vorsitzenden Horst Seehofer fordern von der Regierung eindringlich eine Abkehr von der bisherigen Flüchtlingspolitik. »Je mehr wir erkennen, dass die europäische Lösung nicht vorankommt, desto mehr müssen wir auf nationale Maßnahmen setzen«, sagte Bayerns Ministerpräsident. Konkret bedeute das »Kontrolle unserer nationalen Grenzen und Rückweisung von Flüchtlingen«.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich in einer Talkshow des öffentlich-rechtlichen Fernsehens dieser Kritik gestellt. Das Thema »Zustrom der Flüchtlinge« beherrscht seit Monaten die öffentliche Kommunikation. Die bundesdeutsche Gesellschaft ist aufgewühlt und gespalten. Jenseits des polemischen Diskurses machen sich rassistische, ausgrenzende und menschenverachtende Hassparolen breit. Abstoßende Bilder, terroristische Angriffe und ein ohnmächtiger Staatsapparat prägen die Alltagskultur.

Die Kanzlerin taucht nicht ab und redet den Konflikt nicht klein, auch wenn sie gegenüber den rechtspopulistischen Surfern in den Medien und Politik Distanz und Zurückhaltung wahrt. Selbst unhöfliche Gesten und Kommentare bis an die Schmerzgrenze perlen an ihr ab. Sie verurteilt die fremdenfeindlichen Vorfälle der vergangenen Wochen.

Vorhaltungen, sie spalte die Gesellschaft, fördere den Rechtspopulismus und die Fremdenfeindlichkeit, sei also für den Niedergang größerer Teile der Mitte der Gesellschaft verantwortlich, weist sie mit Bestimmtheit zurück. Ihre Aufgabe sei es, das »Thema« zu lösen und zu den eigenen Werten zu stehen. Die Leute seien zu überzeugen – wenn die Probleme gelöst seien. Bis dahin habe sie auch Verständnis für jene, die der Regierung vorwerfen, die Flüchtlingssituation nicht im Griff zu haben.

Sie verweist zu Recht auf die schrecklichen Konsequenzen nationaler Alleingänge in den Balkanstaaten. Mazedonien setzt zum Schutz seiner Grenzen Tränengas gegen Zufluchtsuchende ein, die versuchen, die Sperranlagen zwischen Griechenland und Mazedonien zu überwinden. Der Zustrom von Schutzsuchenden verschwindet nicht angesichts der nationalen Abgrenzungspolitiken.

Nach Zählungen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR setzen täglich weiterhin rund 3.000 Flüchtlinge von der türkischen Küste zu den griechischen Inseln über. Doch im Norden des Landes, an der Grenze zu Mazedonien, werden pro Tag nur noch ein paar Hundert Menschen durchgelassen. Mehre 10.000 Flüchtlinge stauen sich deshalb in Griechenland, und ihre Versorgung wird zunehmend schwierig.

Gegen diesen Kurs der vermeintlichen Sicherung der nationalen Grenzen wendet sich Angela Merkel weiterhin. Ihre Priorität sei, Europa zusammenzuhalten und humanitär zu handeln. »Meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit besteht darin, dass dieses Europa einen gemeinsamen Weg findet.« Dazu gehöre auch die Bekämpfung von Fluchtursachen vor allem in Syrien. »Das alles mag manchen zu langsam gehen«, räumte die Kanzlerin ein. Sie glaube aber daran, dass dies der einzige Weg zu einer nachhaltigen Lösung sei.

Aber auch wenn die Vereinbarung mit den Türken demnächst gut funktioniert, auch wenn die Außengrenzen der EU wieder besser geschützt, das Schlepperwesen bekämpft, die Flüchtlingslager in den Syrien umgebenden Staaten besser ausgestattet werden und die Schengen- und Dublin-Regeln trotz allen Missständen wieder in Kraft sind, wird der Zustrom der Migranten zwar zurückgehen, aber nicht versiegen.

Angesichts der Flüchtlingsströme quer durch Europa warnt Merkel vor nationalen Alleingängen. »Das ist genau das, wovor ich jetzt Angst habe, wenn der eine seine Grenze definiert, muss der andere leiden. Das ist nicht mein Europa.« Niemand solle glauben, dass durch einseitige Grenzschließungen die Probleme beseitigt werden könnten. Sie leite dabei der Gedanke, »dass Europa nicht kaputtgeht«.

Die Kanzlerin sagt Griechenland weitere Unterstützung zu: »Dieses Land können wir doch jetzt nicht im Stich lassen.« Man habe das Land doch nicht im Euro gehalten, um es jetzt fallenzulassen. EU-Migrationskommissar Avramopoulos warnt vor einem Scheitern des EU-Gipfels mit der Türkei zur Flüchtlingskrise Anfang März. Ohne Einigung auf eine gemeinsame Vorgehensweise werde die EU auf ein »Desaster« zusteuern.

Merkel kämpft für eine europäische Lösung und eine Politik der Beseitigung der Fluchtursachen. Sie hat allerdings kein Gespür für die negativen Folgen ihrer Austeritätspolitik. Sie ignoriert die soziale Spaltung und die Erosion der bürgerlichen Mittelschichten. Sie sieht keine Notwendigkeit, die neoliberale Austeritäts- und Ordnungspolitik trotz des Erstarkens rechtspopulistischer bis rechtsextremer Kräfte in vielen Ländern Europas zu korrigieren. Auch hier müssten die Ursachen in den Blick genommen und bekämpft werden: eine drohende neue Wirtschaftskrise, Abstiegsängste in wohlausgebauten Sozialstaaten, Angst vor »Überfremdung«.

Den Vorstoß von Vizekanzler und SPD-Chef Sigmar Gabriel – wieder einmal mit rechtspopulistischen Flügelschlägen – zu einem Sozialpakt für einheimische Bedürftige parallel zur Flüchtlingshilfe lehnt die Kanzlerin strikt ab. Gabriel fordert auch unabhängig von einer Verminderung des Flüchtlingsstromes die Politik der schwarzen Null aufzugeben. Überschüsse dürften nicht für sakrosankt erklärt werden, es müsse mehr Geld etwa für den sozialen Wohnungsbau und eine Aufstockung geringer Renten geben.

Hinter der Forderung nach einer Ausweitung der Bundesausgaben für kommunale Ausgaben und einer Verbesserung der Einkommensposition der unteren Schichten stehen auch wachsende Sorgen über die Stabilität der Konjunktur. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat hingegen diese Anpassung der Politik für die Bundesregierung abgelehnt.

Für eine derartige Kurskorrektur sieht die Kanzlerin keinerlei Notwendigkeit. Im Gegenteil: Die Koalition habe vieles für Kinder, Eltern, Rentner und Kranke getan – Krankenhausreform, Kindergelderhöhung, Rente mit 63, Mütterrente. »So zu tun, als bräuchten wir eine riesenzusätzliche Anstrengung, sehe ich nicht.« Union und SPD hätten bisher gemeinsam ihre Verantwortung gut wahrgenommen und machten das auch Schritt für Schritt weiter.

Der Vorwurf der Kanzlerin, »die SPD und der Vorsitzende Herr Gabriel machen sich damit klein«, greift allerdings zu kurz. Diese Kritik des »Kleinmachens« ist ja schon länger im öffentlichen Raum und die Prognosen zu den kommenden Landtagswahlen bestätigen diesen Trend.

Allerdings ist das nicht darauf zurückzuführen, dass die SPD sich »klein macht«, sondern ist die Quittung für eine Politik, der es nicht gelingt die wachsende soziale und gesellschaftliche Spaltung wahrzunehmen und entsprechend zu korrigieren. Trotz aller Bekenntnisse zu einem gemeinsamen Europa wird dieses ohne eine politische Korrektur vor allem durch die deutsche Regierung nicht zu haben sein.

Die Parole »Für die macht ihr alles, für uns macht ihr nichts« ist eine rechtspopulistische Verkürzung. Gleichwohl bleibt die Forderung nach einer Abkehr vom strikten Sparkurs und für eine Investitionsoffensive in die soziale Infrastruktur richtig. In der Tat hat der große Zustrom von Schutzsuchenden schlagartig die Fehlentwicklungen bei der Politik der Verschlankung des öffentlichen Sektors aufgedeckt. Ein Großteil der BürgerInnen will den Flüchtlingen helfen und besteht zugleich darauf, »dass ihre Bedürfnisse nicht weiter unter die Räder geraten«. Die Kanzlerin kämpft für eine nachhaltige Lösung der Flüchtlingsfrage und ignoriert zugleich die materiellen und sozialpsychologischen Folgen der jahrelangen Austeritätspolitik.

Die Stimmung in der Bevölkerung ist laut jüngsten Umfragen in Bezug auf die bisher propagierte Willkommenskultur schlechter bzw. widersprüchlicher geworden. Nur 11% der Menschen hierzulande wollen einer Umfrage zufolge Flüchtlinge weiterhin ohne Begrenzung aufnehmen. 21% der Befragten sprechen sich für einen generellen Aufnahmestopp aus. Die größte Gruppe der Befragten (38%) will, dass höchstens 200.000 Flüchtlinge pro Jahr ins Land kommen. 17% befürworten, bis zu 500.000 Flüchtlinge jährlich aufzunehmen. Nur 3% plädieren für die Aufnahme von bis zu einer Million Flüchtlingen.

Auch das Thema Integration sehen viele Deutsche skeptisch. Mehr als die Hälfte der Deutschen (52%) ist der Meinung, dass sie nur dann klappen kann, wenn der Flüchtlingsstrom begrenzt wird. 29% glauben, dass die Integration der Flüchtlinge überhaupt nicht gelingen wird. Und nur 15% glauben an die Eingliederung, auch wenn weiterhin so viele Menschen kommen wie bisher.

Die Sorgen der BürgerInnen angesichts der Flüchtlingskrise sind der Umfrage zufolge groß. Sie drehen sich ums Geld, um Wohnungsnot, um Kriminalität und um die Stellung des Islam in Deutschland. Die meisten Befragten befürchten, dass die Verschuldung der öffentlichen Haushalte steigt (77%). Etwas weniger (72%) sorgen sich, dass die Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt größer werden wird. Die Zunahme von Straftaten befürchten 62%.

Auf diese Stimmungen mit rechtspopulistischen Lösungsangeboten zu reagieren, wie ein wachsender Teil der politischen Eliten, ist keine Perspektive. Allerdings wie die Kanzlerin diese Unsicherheiten und dahinter liegen Probleme zu ignorieren bzw. schön zu reden, ist auch keine Lösung. Immerhin ist sie an einem Punkt nicht eingeknickt und hat sich von Anne Will nicht zu der von dieser immer wieder vorgetragenen Abkehr von einer europäischen Lösung drängen lassen.

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