»Wer nicht hören will,
wird bestreikt!«

Vorstellung des gleichnamigen Buches am Sonntag, den 3.12. um 11:00 Uhr im »Haus am Dom« in Frankfurt a.M., Domplatz 3 (nahe U-Station Dom/Römer). Der Autor Claus-Jürgen Göpfert spricht mit Jürgen Hinzer über dessen Arbeitskampfgeschichten in der Gewerkschaft NGG seit 1979 und anderen Gästen aus den Gewerkschaften. Gert Hautsch vom Club Voltaire moderiert. Eine gemeinsame Veranstaltung vom Club Voltaire, der Gewerkschaft NGG Rhein Main, der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen, der Katholischen Akademie Haus am Dom, des DGB Frankfurt a.M. und dem VSA: Verlag.

Cornelia Hildebrandt/Uwe Sattler (Hrsg.)
Vorwärts ohne Gleichschritt
Zwanzig Jahre Europäische Linke
Eine Flugschrift
108 Seiten | EUR 8.00
ISBN 978-3-96488-206-6

Malika Guellil
»Held*innen auf die Barrikaden!«
Care-Proteste als Ausgangspunkt einer gesellschaftlichen Transformationsstrategie
128 Seiten | EUR 12.80
ISBN 978-3-96488-198-4

Kim Lucht/Frank Deppe/Klaus Dörre (Hrsg.)
Sozialismus im 21. Jahrhundert?
Sozialismus-Debatten 1
228 Seiten | EUR 19.80
ISBN 978-3-96488-173-1

Richard Detje/Dieter Sauer
Solidarität in den Krisen der Arbeitswelt
Aktualität kollektiver Widerstandserfahrungen
160 Seiten | EUR 12.80
ISBN 978-3-96488-181-6

Heiner Dribbusch
STREIK
Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

Gün Tank/Biplab Basu/Eberhard Schultz/Klaus Kohlmeyer (Hrsg.)
Das Problem heißt institutioneller Rassismus
Vielfalt statt Ausgrenzung
172 Seiten | EUR 16.80
ISBN 978-3-96488-086-4

Meng Jie/Jan Turowski (Hrsg.)
Immer noch tastend den Fluss überqueren
Chinas marktsozialistisches Modell verstehen
Linker ChinaDiskurs 2
Eine Publikation des Beijing-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung
264 Seiten | EUR 16.80
ISBN 978-3-96488-118-2

Michael Brie
CHINAS SOZIALISMUS neu entdecken
Ein hellblaues Bändchen jenseits der Froschperspektive auf ein spannendes Experiment
176 Seiten | € 14.00
ISBN 978-3-96488-182-3

31. Oktober 2023 Redaktion Sozialismus.de: 100 Jahre moderne Türkei

Eine Republik ohne Demokratie

Die Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der modernen Türkei fielen bescheidener aus als erwartet. Aufgrund der »alarmierenden menschlichen Tragödie im Gazastreifen«, so der Staatssender TRT, wurde auf Sonderprogramme verzichtet.

Gleichwohl ließ der autokratisch regierende Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Jahrestag der Staatsgründung mit einem großen Konzert, einem Feuerwerk, einer Flugshow und einer Militärparade inszenieren. Von säkular orientierten Türk*innen wurden deutlichere Bezüge zum Gründer der Republik vermisst, auch wenn der Präsident am Vormittag das Mausoleum Atatürks besuchte, einen Kranz niederlegte und beteuerte: »Unser Land ist in sicheren Händen, du kannst in Frieden ruhen.« Erdoğan steht unter seinen Kritikern schon lange im Ruf, diesem die Rolle als Übervater der Nation streitig machen zu wollen.

Am 29. Oktober 1923 hatte Mustafa Kemal Atatürk die Republik ausgerufen, gut ein Jahr nach dem offiziellen Ende des Osmanischen Reiches. Er hatte nach der demütigenden Besetzungszeit nach dem Ersten Weltkrieg die Souveränität der Türkei wiederhergestellt und das Land mit radikalen Reformen nach westlichem Vorbild modernisiert. Er führte Reformen durch und setzte auf eine strenge Trennung von Religion und Staat.

Dieses säkulare Erbe wird von Erdoğan zunehmend in Frage gestellt, einen Teil dieser Reformen hat er schrittweise rückgängig gemacht. Dem aktuellen Präsidenten wird vorgehalten, unter anderem mit der Stärkung religiöser Einrichtungen und der teilweisen Abwendung vom Westen die Absichten des Staatsgründers zu unterlaufen.

Viele der Unterstützer der neuen Republik, allen voran Atatürk, hatten die Vorstellung, ihr Land solle zu den modernen Großmächten Europas aufschließen. Vor allem das zentralistisch regierte Frankreich wurde zum großen Vorbild. Da passte es, dass Frankreich einen radikalen Schnitt zum Katholizismus gemacht hatte und der Laizismus zur Staatsräson geworden war. Genauso sollte das »reaktionäre Regime« des Islam abgeschüttelt und in der zukünftigen Republik der Laizismus zur Grundlage des Staates werden.

Folglich wurde in den ersten Jahren der Republik zunächst der Sultan verjagt, dann das Kalifat abgeschafft, die religiösen Orden verboten und die Moscheen unter Staatsaufsicht gestellt. Mit der Einführung des lateinischen Alphabets wurde das Türkische nicht nur von den Einflüssen der arabischen und persischen Sprache bereinigt – es fand insgesamt ein radikaler Schnitt gegenüber der eigenen orientalischen Vergangenheit statt.

Dieses avantgardistische Programm traf auf eine durch die vorangegangenen Kriege völlig verarmte, stark dezimierte Bevölkerung, die aus mehr als 80% Analphabeten bestand und sich überwiegend an ihrer Religion und – im Falle der Kurden – an ihren Clanstrukturen orientierte. Es kam in den kurdischen Regionen zu einem zunächst religiös motivierten Aufstand, der von der Republik brutal niedergeschlagen wurde. Militärischer Leiter der Operation war İsmet İnönü. Der Kampf gegen den »reaktionären Islam«, aber auch gegen die separatistischen Bestrebungen vor allem der Kurden, wurde zur Grundkonstante der Republik.

Um die Bevölkerung zu gewinnen, startete die Republik eine große Bildungsoffensive und eine Bodenreform, die die Bauern aus den Klauen der Großgrundbesitzer befreien sollte. Trotz größter Widerstände und der widrigsten Voraussetzungen, unter denen die Republik gestartet war, wurde bis 1938, als Atatürk starb, eine stabile Grundlage des neuen Staates geschaffen.


Unterdrückte Konflikte

Als neuer Staatspräsident hielt İsmet İnönü die Türkei erfolgreich aus dem Zweiten Weltkrieg heraus und schuf anschließend mit der Einführung des Mehrparteiensystems die Grundlage für die türkische Demokratie. Als bei den ersten Wahlen 1950 seine Republikanische Volkspartei dann krachend verlor und mit der Demokratischen Partei von Adnan Menderes erstmals seit Gründung der Republik eine konservativ-islamische Partei an die Macht kam, ging İnönü in die Opposition.

Mit der Wahl von Menderes war der zuvor unterdrückte Konflikt zwischen dem säkularen Staat und dem »reaktionären Islam« in der türkischen Politik wieder auf der Tagesordnung. Menderes wurde am 27. Mai 1960 durch das Militär gestürzt, vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und 1961 hingerichtet. Dieser Konflikt ist neben dem ethnischen Konflikt mit der kurdischen Minderheit bis heute ein entscheidender Punkt in der türkischen Politik.

In den folgenden 50 Jahren wurde teils durch Repression und Militärputsche, teils durch weitere sozialpolitische Reformen des İnönü-Nachfolgers Bülent Ecevit (1925–2006) versucht, der zwischen 1974 und 2002 insgesamt fünf Mal Ministerpräsident der Türkei war, die säkulare Republik weiter auszubauen. Mit der Wahl der AKP unter ihrem Vorsitzenden Recep Tayyip Erdoğan 2002 veränderten sich die Vorzeichen der türkischen Politik dann diametral.


Erdoğans »türkisches Jahrhundert« richtet sich auch nach außen

Das »türkische Jahrhundert« lautete schon damals das Wahlkampfmotto, mit dem Erdoğan im Mai 2023 die Wahlen erneut gewonnen und für weitere fünf Jahre seine Macht gesichert hat. Seit über 20 Jahren ist er bereits an der Regierung. Nun will er in die Geschichte als Staatsmann eingehen, der die Republik in ihr zweites Jahrhundert geführt und das Land außenpolitisch stark gemacht hat.

Denn »die Türkei ist nicht nur die Türkei«, verkündete Erdoğan schon in einer Rede im Jahr 2016. Als Nachfolgerin des Osmanischen Reichs habe sie die Verantwortung und auch das Recht, sich um alle Länder zu kümmern, die zum einstigen Imperium gehörten. Er nennt den Irak, Syrien, Libyen, die Krim, Montenegro und Bosnien. Staatsnahe Historiker fügen noch Mossul, Kirkuk, Erbil (im Nordirak), Batumi (Georgien), Thessaloniki (Griechenland), Kardzhali und Varna (Bulgarien), Zypern und die griechischen Ägäisinseln hinzu.

Zwar will Erdoğan keine Grenzen verschieben, sondern nur die jeweiligen türkischen Minderheiten und das kulturelle Erbe der Osmanen schützen. Dieser Ansatz erinnert an das von Russland beanspruchte »nahe Ausland«, womit der Einmarsch in die Ukraine legitimiert wurde, den der türkische Präsident bisher nicht als Angriffskrieg verurteilt hat. Das Ganze wird auch als »Erdoğan-Doktrin« bezeichnet, mit dem exklusive Wirtschafts- und Einflusszonen weit in das Schwarze Meer, die Ägäis und das östliche Mittelmeer hinein beansprucht werden.

Trotz mitunter überaus harschen Worten gen Westen sendet Erdoğan sendet immer mal wieder auch versöhnliche Gesten in diese Richtung. So ist es sicherlich kein Zufall, dass er sich ausgerechnet in dieser Woche im Streit um Schwedens NATO-Beitritt kooperativ zeigte. Er hatte das Schweden-NATO-Dossier ans Parlament weitergeleitet, das nun über das Gesuch befinden wird. Einen endgültigen Durchbruch bedeutet das aber noch nicht. Auch auf Parlamentsebene, wo das Regierungslager über eine komfortable Mehrheit verfügt, sind Verzögerungsmanöver möglich.

Eine zentrale Frage wird das Geschäft zur Modernisierung der türkischen Luftwaffe bleiben. Ankara möchte von den USA 40 Kriegsflugzeuge des Typs F-16 kaufen und 80 weitere aufrüsten. Der US-Kongress hat bisher die Zustimmung dazu verwehrt. Das sich rapide verschlechternde Verhältnis zwischen Israel und der Türkei dürfte einem Meinungswechsel unter den amerikanischen Abgeordneten nicht zuträglich sein.


Demonstrative Palästina-Unterstützung

Denn für seine kooperative Haltung zum NATO-Beitritt Schwedens verlangte Erdoğan eine freiere Hand in der Israel-Palästina-Frage, bei der die türkische Position nicht auf NATO-Linie ist. Bei der vermutlich größten Einzelveranstaltung des Jubiläums-Wochenendes waren Hunderttausende von Demonstranten zum »Großen Palästina-Meeting« beim stillgelegten Atatürk-Flughafen in Istanbul mobilisiert worden. In seiner Rede dort griff der Staatspräsident Israel und die Staaten der westlichen Staatengemeinschaft massiv an: Israel würde seit 22 Tagen ungestraft Kriegsverbrechen begehen, für die der Westen, womit primär die USA gemeint sein dürften, die Flugzeugträger in die Krisenregion entsandt hat, mit verantwortlich sei.

Israel sei für den Westen nur eine Schachfigur, die jederzeit geopfert werden könne, sagte Erdoğan. Zudem wiederholte er, dass die Hamas keine Terrororganisation sei, schon vorher hatte er sie als eine Gruppe von Befreiungskämpfern bezeichnet. Israel beorderte daraufhin alle noch in der Türkei befindlichen Diplomaten zurück, nachdem bereits vor einer Woche die meisten Diplomaten aus Sicherheitsgründen abgezogen und alle israelischen Bürger*innen aufgerufen worden waren, das Land zu verlassen.

Nur ein Jahr nach der Wiederherstellung vollwertiger diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind diese somit wieder infrage gestellt. Die Normalisierung des Verhältnisses mit Israel nach den Verwerfungen des vergangenen Jahrzehnts hatte sich Erdoğan als großen Erfolg angerechnet. Die diplomatische Isolation im östlichen Mittelmeer hatte die Türkei in der geopolitisch wichtigen Region geschwächt.

Erdoğans anfänglich untypisch zurückhaltende Äußerungen nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober waren dadurch begründet. Zudem hoffte er, wie im Krieg in der Ukraine, eine Mittlerrolle spielen zu können und so das eigene Gewicht auf der internationalen Bühne zu betonen. Das dürfte nach seinem Auftritt auf der Palästina-Demonstration für die nächste Zeit unrealistisch sein.

Insbesondere in religiös-konservativen Kreisen der Türkei, Erdoğans Kernwählerschaft, ist die Solidarität mit den Palästinensern groß. Sein früherer Außenminister Ahmet Davutoğlu, heute Vorsitzender einer kleinen islamischen Oppositionspartei, hatte sofort nach dem Hamas-Angriff eine eindeutig propalästinensische Position bezogen. Auf dem Istanbuler Parteigebäude der neuen islamistischen Wohlfahrtspartei weht eine palästinensische Flagge. Der Chef des ultranationalistischen und rechtsextremen Koalitionspartners MHP, Devlet Bahçeli, forderte sogar eine türkische Militärintervention. Es war klar, dass Erdoğan angesichts der wachsenden Empörung das Feld nicht anderen überlassen würde.

Außerdem bietet der Konflikt eine Gelegenheit zur Profilierung in der islamischen Welt, als deren Fürsprecher sich der türkische Präsident gerne aufschwingt. Er verwies bei den Jubiläumsfeiern auf die besondere Verantwortung seines Landes für Gaza und die Palästinenser, da die Region jahrhundertelang türkisches Gebiet gewesen sei.


Innenpolitische Probleme immer drückender, wachsende Repression

Seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 hat Erdoğan Hunderttausende Menschen wegen »Terrorismus« verhaften lassen. Das Justizsystem wurde mehr und mehr auf die politischen Präferenzen des Präsidenten ausgerichtet. Dies zeigt sich auch in der Verfolgung der Kurd*innen. Abgeordnete, Bürgermeister und sogar der Co-Vorsitzende der pro-kurdischen HDP sitzen seit Jahren unschuldig hinter Gittern. Immer wieder werden auch einfache kurdische Parteimitglieder sowie Journalist*innen verhaftet. Demonstrationen von kurdischen Menschen werden brutal von der türkischen Polizei niedergeschlagen. Die Sprache von über 20 Millionen Kurd*innen ist kaum sichtbar in den Schulen. Auf Unterricht in ihrer Muttersprache müssen sie auch nach 100 Jahren Republikgründung weiter warten.

Die internationalen Institutionen bestätigen die desaströse Lage der Türkei, von Menschenrechten bis Wirtschaft kann das Land kaum eine positive Entwicklung verzeichnen. Im Rechtsstaatlichkeitsindex der Nichtregierungsorganisation »World Justice Project« liegt die Türkei auf Platz 117 von 142 Staaten. Im Pressefreiheitsindex von »Reporter ohne Grenzen« kommt die Türkei auf Platz 165 von 180.

Das Land versinkt immer mehr in Korruptionsskandalen und versucht durch die Kontrolle von Medien im Inneren ein positives Bild zu zeichnen. Mit dem sogenannten Desinformationsgesetz werden immer wieder Seiten im Internet oder Konten auf sozialen Medien gesperrt und kritische Berichterstattung über die AKP-Regierung verhindert.

Auch wirtschaftlich geht es dem Großteil der Bevölkerung weiterhin schlecht. Die Inflation liegt bei ca. 60% und die Lira ist weiterhin im freien Fall, was die Menschen noch weiter verarmen lässt. Krisenhafter geworden ist die Wirtschaft auch deshalb, weil die Privatwirtschaft, die das starke Wirtschaftswachstum der zurückliegenden Jahrzehnte getragen hat, stark in Fremdwährungen im Ausland verschuldet ist, weshalb sie der Zerfall der Lira hart trifft. Stattdessen müssen die Firmen kurzfristige Gelder aufnehmen, die trotz der tiefen Leitzinsen teurer werden und schnell wieder abgezogen werden können. Zudem hat die unorthodoxe Finanz- und Wirtschaftspolitik Erdoğans ausländische Investoren zusehends abgeschreckt. Gemessen am BIP ist der Anteil an ausländischen Direktinvestitionen inzwischen der tiefste in der ganzen OECD.


IWF und OECD fordern unabhängige Geldpolitik und Strukturreformen

Vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen erinnerte das Land beunruhigend an seinen Zustand zur Jahrtausendwende. Die Politik steht einer soliden Wirtschaftspolitik entgegen. Mit der Gießkanne verteilte Wahlgeschenke – unter anderem in der Form von Energiesubventionen – unterminieren den Staatshaushalt. Das noch immer recht hohe Wirtschaftswachstum steht auf tönernen Füssen. Hohe Inflation, Günstlingswirtschaft und die Abhängigkeit von kurzfristigem ausländischen Kapital bei schwindenden Zentralbankreserven versetzen die Lira- und Wirtschaftskrise in einen chronischen Zustand. Das internationale Vertrauen in das einst so beeindruckende türkische Wirtschaftswunder ist längst verloren gegangen.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) hatte dringend empfohlen, die Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit der Zentralbank wiederherzustellen und die Zinsen zu erhöhen, was seit den Wahlen auch schrittweise erfolgt ist. Gemeinsam mit der OECD drängt der Fonds darüber hinaus inzwischen auf Strukturreformen. Die Bevölkerung in dem 85 Millionen Einwohner zählenden Land ist mit einem Medianalter von 33 Jahren noch vergleichsweise jung und dynamisch. Doch die offizielle Beschäftigungsquote (im formellen Sektor) der Jungen ist tief und die der Frauen gar die tiefste in der ganzen OECD.

Die Güterexporte der Türkei sind unter den Ländern der OECD diejenigen mit der geringsten Technologieintensität, was mit einem wenig leistungsfähigen Bildungssystem zu tun haben dürfte. Auch eine zu hohe und durch Korruption mitgeprägte »Regulierungsdichte« samt nur schwer erhältlichen Bewilligungen, Lizenzen und Konzessionen sowie Einschränkungen für ausländische Investoren stellen massive Behinderungen in zahlreichen Sektoren dar. Inzwischen gilt auch für die Türkei wieder, was für die viele Schwellen- und Entwicklungsländer zutrifft: Das Potenzial ist groß, doch der Zustand der Institutionen und in der Politik verhindert, dass es auch realisiert werden kann.


Erdoğans rückwärtsgewandte Utopie

Im Jahr 2018 wurde in der Türkei ein autoritäres Präsidialsystem eingeführt. Seither entscheidet Erdoğan in allen wichtigen Fragen der Wirtschaft und der Außenpolitik allein. Im Inneren wird die Opposition behindert, Kritiker werden durch eine willfährige Justiz mundtot gemacht, die Medien sind weitgehend gleichgeschaltet. Der Islam ist die bestimmende gesellschaftliche und kulturelle Richtschnur.

Entgegen verbreiteten Erwartungen schaffte es Erdoğan im vergangenen Mai wiedergewählt zu werden, wenn auch nur knapp. Hundert Jahre nach der Gründung der Türkei durch Atatürk sind vom Erbe des »Vaters der Türken« nur noch die äußeren Staatssymbole geblieben, die zentralen Werte – laizistisch, demokratisch, prowestlich – wurden weitgehend abgeräumt.

Die türkische Gesellschaft ist tief gespalten in ein säkular-demokratisches und ein islamisch-konservatives Lager; das Militär, einst bestimmender politischer Faktor und Hüter des kemalistischen Erbes, steht seit dem gescheiterten Putschversuch 2016 unter strikter Kontrolle der Politik. Die Abneigung gegen den Westen, vor allem gegen die USA, reicht weit in das säkulare Lager hinein, stattdessen versteht sich das Land als selbstbestimmte Regionalmacht. Die Außenpolitik ist durch ein Abrücken von der NATO (deren Mitglied die Türkei ist), eine Annäherung an Russland, direkte Militärinterventionen in Syrien und Libyen, Unterstützung der Palästinenser und offensive Diplomatie in Afrika gekennzeichnet.

Für die EU bedeutet das ein unlösbares Dilemma: Soll sie die Türkei, auf die sie in der Flüchtlingsfrage angewiesen und die weiterhin offiziell Beitrittskandidat ist, als Partner oder »bereits als potenziellen Gegner« betrachten? Eine gemeinsame Linie ist nicht in Sicht, die notorische Uneinigkeit der Europäer ist ein weiterer Trumpf für den modernen Sultan, dessen Politik mit Modernität nichts am Hut hat. Und er wird auch künftig ein unangenehmer NATO-Partner bleiben.

Erdoğans ideologisches Programm besteht darin, die vorangegangenen 80 Jahre Republik vergessen zu machen und wieder an die vermeintlich glorreichen Zeiten des islamischen Osmanischen Reiches anzuknüpfen. Er sieht sich selbst als Gegenentwurf zu Atatürk und will aus der laizistischen wieder eine islamische dominierte Republik machen.

Doch auch nach 20 Jahren an der Macht ist er mit einem hartnäckigen Widerstand von Menschen konfrontiert, die sich ihren Lebensstil nicht von den Mullahs diktieren lassen wollen. Vor allem in den Städten gibt es immer mehr Bürger*innen, die sich den rückwärtsgewandten Visionen Erdoğans widersetzen. Selbst nach dem letzten Wahlsieg des Dauerpräsidenten im Mai dieses Jahres ist dieser Widerstandsgeist trotz all der Repression lebendig.

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