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25. April 2022 Bernhard Sander: Der zweite Präsidentschaftswahlgang in Frankreich

Ende gut? Ende offen

Foto: dpa

Der alte ist der neue Staatspräsident. Emmanuel Macron hat sich mit 58,5% klar gegenüber seiner Herausforderin Marine Le Pen im zweiten Durchgang der französischen Präsidentschaftswahl durchgesetzt. Le Pen erreichte allerdings das beste Ergebnis, das der Font National bzw. das Rassemblement National je erzielt hat.[1]

Offen blieb nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, wie stark sich die soziale Spaltung auf die Stichwahl auswirken würde. Macron steht sich bei seinem recht erfolgreichen Re-Industrialisierungskurs mit sinkender Arbeitslosigkeit permanent mit seiner Rücksichtnahme auf die Bessergestellten, Spitzenverdiener und leistungslosen Höchsteinkommen im Wege, denen er bereits in seiner ersten Amtszeit immer wieder Geschenke zukommen ließ, denn er selbst stammt aus dieser Klasse der Investmentbanker, Unternehmensberater und Shareholder. Er blieb in der Wahrnehmung der »classes populaires«, der einfachen Leute, immer der »Präsident der Reichen«, der Wohngeld streicht, das Tarifvertragsrecht aushebelt und die privilegierten Rentensysteme abschaffen will.

So hielt denn auch Marine Le Pen im zentralen Fernsehduell dem Amtsinhaber vor, er habe mit der verfehlten Strategie der undurchsichtigen Lockdown-Politik den kleinen Mittelstand in die Verschuldung getrieben bzw. zu Geiseln der Staatsschuld gemacht, mit der Macron seine Transformationsprojekte und die globalisierte Großindustrie gepäppelt habe. Mit einer Neuverschuldung von 6,5% und einem Gesamtschuldenstand von 112,9% des BIP bleibt der französische Staatshaushalt allerdings deutlich unter den Vorhersagen. Da auch die März-Inflation mit 4,5% im Jahresvergleich eher unterdurchschnittlich war, hielten sich die Befürchtungen des sparenden Mittelstandes wohl in Grenzen und dürfte der Zuspruch für den amtierenden Staatspräsidenten Emmanuel Macron in diesen Kreisen sicher gewesen sein.

25 der 65 Mio. französischen Bürger*innen wohnen in Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohner*innen. Hier im tiefsten Frankreich ist Marine Le Pen die stärkste Kandidatin mit um die 30%.[2] Das sind die Gegenden, aus denen sich der Staat bei der sozialen Infrastruktur, bei Krankenhäusern, weiterführenden Bildungseinrichtungen, Verkehrsverbindungen und schnellem Internet, fast vollständig zurückgezogen hat, und die deswegen sowohl für die freien Berufe (Ärzt*innen, Rechtsanwält*innen usw.) als auch für Unternehmen (Wie bekommt man Fachkräfte in solche Gegenden?) unattraktiv sind. Wer jünger ist und an sich glaubt, zieht weg.

Jean-Luc Mélenchon hatte im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen seine stärksten Ergebnisse in den Großstädten und urbanen Agglomerationen über 50.000 Einwohner*innen, aber hier wohnen trotz anhaltender Landflucht nur 15 Mio. Menschen. Macron erzielte seine besten Resultate in den saturierten Randgemeinden um die 30.000 Einwohner*innen, aber ebenfalls in den Ballungsgebieten, die ganz andere Probleme (hohe Wohnungskosten) haben, die auf dem flachen Land nur in Form von Räuberpistolen, rechtsradikalen Reden usw. bekannt sind. Sowohl die Formen der Armut als auch die religiösen und traditionellen Bindungen (samt ihrer Auflösungsstufen) sind hier ebenfalls andere.


Soziale Spaltung prägt Wahlverhalten

9,2 Mio. französische Bürger*innen leben unterhalb der Armutsschwelle.[3] Zwischen fünf und sieben Mio. Personen mussten 2020 auf Lebensmittelhilfen zurückgreifen (Tafeln usw.) Für 45% der Befragten müsste der Zugang zu qualitativ hochwertiger Ernährung ein Ziel der öffentlichen Hand sein. Konzepte wie Housing First für Wohnungslose befürworten sogar 85% der Bürger*innen. Aber nur 30% (45% der Jungwähler*innen) befürworten, dass der Staat aktiv dauerhafte Arbeitsplätze schafft. Ein Fünftel hält das nicht für eine staatliche Aufgabe. Hier offenbart sich ein sehr altertümliches Verständnis von Wohlfahrtsstaat.

Die Betroffenheit, die Wahrnehmung und Beurteilung der sozialen Spaltung prägen Wahlenthaltung und Wahlentscheidung. 26% der Menschen in Frankreich halten sich für eher oder sogar sehr benachteiligt. Die Mehrheit von 58% »fürchtet, eines Tages in Armt zu fallen«. In den Altersgruppen zwischen 25 und 50 Jahren, also der Masse der Erwerbstätigen, sind das sogar zwei Drittel. Arm sei man, so die Hälfte der Befragten, wenn eine Person weniger als 1.100 Euro Einkommen zur Verfügung habe. Etwa 1.300 Euro müsse man aber schon haben, um in Würde leben zu können, schätzen die meisten sogar. Der aktuelle Sozialhilfesatz RSA von 565 Euro für eine Person ohne Wohnungsbeihilfe (497 Euro mit dieser Beihilfe) wird entsprechend von 86% der Bürger*innen als eher oder überhaupt »nicht ausreichen, um davon korrekt in Frankreich leben zu können« angesehen.

Die manifeste soziale Spaltung des Landes ist allen bewusst und ein Stachel im Fleisch. Die Corona-Krise hat das Problem noch verschärft. Ein Fünftel der Befragten geben an, sie haben Hilfen erhalten. Doch sind es gerade diejenigen, die Armutserfahrungen aktuell machen (61%) oder gemacht haben, die der Auffassung sind, solche Hilfen gebraucht, aber nicht ausreichend erhalten zu haben.

Dennoch ist die Ansicht sehr verbreitet (47%), dass »man im Kampf gegen die Armut zu viel vom Staat erwartet, während es vorrangig an den Personen in Prekarität selbst ist, sich zu mobilisieren«. Genau dies steht im Wahlprogramm Macrons ganz vorne. Macron hatte auf dem Höhepunkt seiner Popularität zu Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine angekündigt, das Renteneintrittsalter von 62 auf 65 Jahre zu erhöhen. Den zwei Mio. Bezieher*innen der sozialen Grundsicherung RSA hat er für seine neue Amtszeit angekündigt, mindestens 15 Stunden in der Woche arbeiten zu müssen.

Macron griff in der ersten Runde des Wahlkampfes mehrfach die Formel von Sarkozy auf »Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen«. Und auch im Fernsehduell mit Le Pen argumentierte er, wenn man soziale Verbesserungen (z. B. will er die Mindestrente von 980 auf 1.100 Euro erhöhen) ohne Steuererhöhungen und Neuverschuldung finanzieren wolle, müsse länger gearbeitet werden. Le Pen argumentierte stramm links dagegen, dass schon heute viele das gesetzliche Eintrittsalter für die Rente gar nicht erreichen, weil sie arbeitslos oder körperlich ruiniert seien. Einem garantierten Grundeinkommen stehen 54% der Befragten positiv gegenüber (etwa die Hälfte stellt sich dabei eine Summe um 1.100 Euro vor). 30% meinen, man müsse die Arbeitslosen verpflichten, den ersten angebotenen Job anzunehmen – eine Auffassung die besonders Macrons politischer Leitlinie entspricht. 45% der Rechten und 37% der Anhängerschaft des RN teilen diese Haltung.

Die Stichwahl wurde vielfach zum Kopf-an-Kopf-Rennen stilisiert. Ob die Wähler*innen der Republikaner dem Aufruf ihrer gedemütigten Kandidatin Valérie Pécresse folgen und im zweiten Wahlgang für Macron stimmen würden, war keineswegs ausgemacht. Sicherer waren ihm da schon eher die Stimmen aus dem Lager der Grünen und der Sozialisten, deren Kandidat*innen ebenfalls zur Stimmabgabe für Macron aufgerufen hatten. Aber deren Stimmenpotenzial war mit nicht einmal 6% sehr gering. Daher kam es vor allem auf die gut 22% Wähler*innen an, die für den Kandidaten der radikalen Linken, Jean-Luc Mélenchon, gestimmt haben. Zwar hatte Mélenchon am Wahlabend eindringlich aufgerufen, auf keinen Fall für Marine Le Pen zustimmen, aber er hatte andererseits auch keine Empfehlung für Macron abgegeben.

Es ist unter solchen Umständen erstaunlich, dass nun ausgerechnet von den eigentumslosen Schichten vor dem zweiten Wahlgang verlangt wurde, sich auf die Seite Macrons zu schlagen, der in seinem Programm nicht nur die Heraufsetzung des Rentenalters, sondern auch Pflichtarbeit für die Sozialhilfebezieher*innen gefordert hat. Dabei sollte man gerade von den Kandidaturen der Parteien der rechten wie linken Mitte, die völlig marginalisiert sind, erwarten, das demokratische System vor der Übernahme durch rechts-autoritären Nationalisten zu retten.

Schon im ersten Wahlgang lag die Wahlenthaltung bei den »bescheidensten Haushalten« mit 36% am höchsten und bei den »am besten gestellten Haushalten« mit 16% am niedrigsten; ebenso bei den Arbeitsuchenden (43%) , den Studierenden (30%), den Jungwähler*innen (33%) und den Dienstleistungsberufen (30%), also bei den sozialen Gruppen, in denen Mélenchon zwar hohe Quoten erreicht, aber offenbar noch Mobilisierungsreserven hatte.

Sozialpolitische Eckpunkte des Programms von Le Pen finden auch mehrheitliche Zustimmung in der Anhängerschaft Mélenchons. Die »Unterbrechung der Familien- und Ausbildungsbeihilfen bei Familien, von denen schwere oder wiederholte Störungen ausgehen« finden 58% angemessen, 77% der Befragten insgesamt. »Knüpfung der Sozialhilfe an Bedingungen für Ausländer, die weniger als fünf Jahre gearbeitet haben« finden 60% der Anhängerschaft Mélenchons angemessen, 72% der französischen Bürger*innen insgesamt. »Einführung eines Renteneintrittsalters zwischen 60 und 62 Jahren für die, die früh angefangen haben zu arbeiten« befürworten fast alle (88% / 89%) auch auf der Rechten und in der Mitte.[4]

Ein Drittel der Wählerschaft Mélenchons gab in einer Umfrage an, sich beim Duell des zweiten Wahlgangs zu enthalten. Ein weiteres Drittel würde nur wählen, um Marine Le Pen zu verhindern, womit Macrons Sieg gesichert erschien. Ein Fünftel äußerte die Absicht, Le Pen zu wählen, kann also nicht als stabil im Sinne der Linken betrachtet werden. Unter den sich selbst als Arbeitssuchende klassifizierenden Menschen hält eine relative Mehrheit von 42% im Duell die RN-Kandidatin für die kompetentere in Wirtschaftsfragen, was die Richtung zeigt, wo der linke Pol seine Programmatik noch zu entwickeln hat.[5]

Emmanuel Macron hat seit 2017 darauf hingearbeitet, an die Stelle der Links-Rechts-Polarisierung in einem pluralen Parteiensystem den dichotomen Gegensatz zwischen einem – von ihm selbst repräsentierten – »progressiven« Lager und einem Lager der Nationalkonservativen zu setzen, das vor allem von Marine Le Pen vertreten wird. Das Lager der Vernunft und der Zukunftsorientierung gegen das Lager der Verschwörungstheorien und Rückwärtsgewandtheit. Dafür hat er moderate konservative Wähler*innen ebenso angezogen wie moderate Linke.

Dies hat zur Erosion der traditionellen Parteien – Republikaner und Sozialisten – geführt und in der Konsequenz dazu, dass politische Alternativen zur von Macron besetzten Mitte nur noch an den relativ breiten extremen »Rändern« zu finden sind. Macron hat auf diese Polarisierung hingearbeitet mit dem Versprechen, so die extreme Rechte in Schach halten zu können. Das Ergebnis des ersten Wahlgangs zeigten, dass ihm dies nicht gelungen ist.


Le Pens Agenda

Auf der rechten Seite hat Marine Le Pen ihren Kurs der »Entteufelung« des Rassemblement National fortgesetzt. Sie hat ihren Ton gemildert und ihre rassistischen und antieuropäischen Positionen hinter einem mehr auf soziale Themen fokussierten Diskurs versteckt. Sie hinterließ damit eine Leerstelle, die vor allem der habituell bürgerliche rechtsextreme Agitator Éric Zemmour als auch ein Kandidat des Ancien Regime besetzt haben. Sowohl Zemmour mit 2,5 Mio. Stimmen als auch der Souveränist Dupont-Aignan, auf die zusammen immerhin 9% der Stimmen entfallen sind, riefen dazu auf, im zweiten Wahlgang Le Pen zu wählen. 62% der Befragten glaubten, dass von der Wahl Le Pens besonders die Arbeiter*innen, 58% besonders die Rentner*innen etwas haben würden. Von Macrons Wahl hätten besonders die Unternehmer (72%), aber auch die Beschäftigten des Privatsektors und des öffentlichen Dienstes (je 52%) mehr.[6]

Wahlabsichten für Le Pen in der Stichwahl äußerten vor allem Menschen aus Haushalten mit einem Nettoeinkommen unter 1.500 Euro (39% gegenüber 34% für Macron, 27% wollten sich enthalten) und Leute, die das »Gefühl haben, ihr Leben nicht meistern zu können« (40% gegenüber 24%, 36% Enthaltung).[7]

Dennoch schwächelte Le Pen im entscheidenden TV-Duell, wo ihr Kontrahent mit Fakten punktete. Nach Meinung der Herausgeber von Le Monde »hatte Macron keine große Mühe zu beweisen, dass sein Schutzschild gegen die Preissteigerungen im Energiesektor effizienter sind als die Mehrwertsteuersenkungen, die seine Mitbewerberin bevorzugt«.

Aus der Frage nach dem Verbot, den Schleier in der Öffentlichkeit zu tragen, machte sie ohne Umschweife den Vorwurf, der Staat habe im Kampf gegen politischen Islamismus und Terrorismus versagt. Das ganze Elend habe mit den Regelungen zum Familiennachzug begonnen, daher müsse viel strikter bei jedem »Fehlverhalten« (und die Mehrheit vor den Endgeräten weiß, wer und was damit gemeint ist) auf die Ausweisung hingearbeitet werden. Der von ihr zur Rechtfertigung beschworene Geist der Laizität wird von Macron wohltuend entlarvt als Angriff auf einen Teil der Staatsbürger*innen, die eben islamischen Glauben praktizieren. Dann allerdings rühmt er sich seiner Gesetzesverschärfungen im Bereich der inneren Sicherheit.

Le Pen versprach ein Referendum zur Abschaffung des ius solis (wer in Frankreich geboren ist, hat ein Anrecht auf die Staatsbürgerschaft) und zur Erhebung der »nationalen Präferenz« (bei der Stellenbesetzung, Sozialhilfen, Ausbildungsplätzen usw.) in den Verfassungsrang. Macron konterte dies mit dem Argument, dass die Mehrheitsmeinung in solchen Volksabstimmungen nicht über der Verfassung stehen könne.


Schlüsselrolle Mélenchons

Während auf Mélenchon 22% der Stimmen entfielen, kamen die restlichen Kandidat*innen der Linken zusammen nur auf 8%! Mélenchon ist es auch gelungen, mit seinem »pôle populaire« eine linke Alternative zu der Polarisierung zwischen Progressismus macronscher Prägung und dem nationalkonservativen Lager sichtbar zu machen. Im ehemals kommunistischen »roten Gürtel« von Paris und bei Weitem nicht nur in dieser Banlieue steht LFI mit 60-Prozent-Ergebnissen für Mélenchon deutlich vorne. Hinzu kommt der massive Rückhalt in Quartieren, deren größtenteils muslimische Bewohner*innen sich erstmals intensiv an demokratischen Wahlen beteiligt haben, auch dank des Aufrufs muslimischer Bürgermeister wie in Stains und Trappes.

Während die Kandidatin der Sozialistischen Partei, Anne Hidalgo, mit einem klassisch sozialdemokratischen Programm auch um die 2017 an Macron verloren gegangene Wählerschaft warb, pflegte die PS eher einen Diskurs, der sich an die Wähler*innen richtete, bei denen sie in Konkurrenz zu den Grünen oder Mélenchons La Françe Insoumise steht. Und während einige schon vor dem Wahltag über die Neuformierung eines sozialdemokratischen Pols sinnierten, erneuerte der Parteivorsitzende Olivier Faure seinen Aufruf zu einer großen linken Vereinigung – und richtete sich damit insbesondere an die Grünen und die Kommunisten. Schon jetzt laufen die Verhandlungen über die Parlamentswahlen im Juni. Zweifellos ist Mélenchon in der Rolle des Königsmachers bzw. Listen-Jongleurs.


Macrons Herausforderungen

Macron wird seinen autoritär-sozialliberalen Kurs der Modernisierung wohl fortsetzen, ohne auf die soziale Spaltung der französischen Gesellschaft Rücksicht zu nehmen und weitere Deformationen eines selbstbezüglichen Herrschaftssystems in Kauf nehmen. Nach dem Ende der jetzt beginnenden Amtszeit darf er nicht erneut kandidieren.

Auch nach dem Ende der französischen EU-Ratspräsidentschaft, die Macrons Partei LREM bei den Parlamentswahlen im Juni nicht mehr stützen kann, wird der französische Staatspräsident sich den eskalierenden Konflikte um die Neuverteilung der Einflusssphären zwischen den Machtblöcken stellen müssen. Wird er dabei weiter die Idee eines eigenständigen wirtschaftlichen und militärischen europäischen Blocks, gestützt auf die französische Atomwaffe, verfolgen, um nicht in die Machtblöcke der USA, Russlands und letztlich auch der VR China eingereiht zu werden? Oder wird Macron zusammen mit der deutschen Bundesregierung zum Vorkämpfer einer Neuordnung des Weltstaatensystems vorstoßen können? (Die Ablehnung des MERCOSUR-Abkommens zwischen Lateinamerika und der EU weist eher in die Richtung eines solchen Eurozentrismus).

Im europäischen Staatenbund ändert sich gerade das Ranking auf frappierende Weise. Führungsmächte wie Frankreich und Deutschland werden durch den Ukraine-Krieg von Triebkräften zu Getriebenen. Hardliner und Klartexter aus Osteuropa – in Polen, Litauen, Lettland, Estland, Tschechien, Slowenien –, nicht mehr die Geopolitiker und rhetorisch smarten Mediatoren der »europäischen Idee« wie Macron scheinen das Geschehen zu bestimmen. Einem Anschluss der Ukraine an die Nato steht Macron seit 2014 verhalten gegenüber. Es ist keineswegs klar, wie die 27 EU-Staaten aus dem Sanktions- und Wirtschaftskrieg gegen Russland herauskommen.

Dabei haben sich die Gefahren für die Stabilität der Währungsunion keineswegs erledigt. Die Verschuldungsquoten etlicher Euro-Staaten sind pandemiebedingt gestiegen – allein in Frankreich auf über 118% des Bruttoinlandsprodukts. Eine ganze Jahresproduktion genügt nicht mehr, um 2,85 Bio. Euro an Verbindlichkeiten zu tilgen. Macrons wiederholte Intervention, man solle es in der Eurozone mit einem gemeinsamen Budget und ebensolchen Schulden versuchen, ist nach wie vor berechtigt, denn die Zinsen für französische Staatspapiere steigen bereits seit Wochen.

Macron wird auch in den nächsten fünf Jahren darauf Rücksicht nehmen müssen, dass ihm ein fast gleich starker Komplex rassistischer, nationalistisch-identitärer Kräfte gegenübersteht. Die Linke (Grüne, PS-Strömungen, Kommunisten) steht vor der Frage, ob sie sich Macron anschließt oder zu einer Neugründung auf Basis der »Volksunion« Mélenchons (LFI) gelangt. Dazu müsste die Frage geklärt werden, ob sie das jeweils aktuelle Protestpotential, das sich zweifellos an Macrons Politik immer wieder entzünden wird, politisch artikuliert. Oder ob sie eine eigenständige Politik entwickelt, die die Bremsen der Produktionsverhältnisse lockert und die Entwicklung der Produktivkräfte forciert. Der Zerfall nicht nur der Sozialdemokraten ist das wahrscheinlichere Szenario. Ebenso müssen sich die Rechtsbürgerlichen in der widersprüchlichen Tradition von De Gaulle, Chirac und Sarkozy entscheiden zwischen Überwintern als Sekte, Annäherung an Macrons neue Mitte oder Eintauchen im rechtsextremen Sumpf um den RN. In der jüngeren Wählerschaft ist LFI stärkste Kraft, die ökologischen und sozialpolitischen Forderungen von Mélenchons Bewegung haben große Erwartungen geweckt. Ein alternativer Weg der Transformation ist möglich, wenn auch wenig wahrscheinlich.

Anmerkungen

[1] Eine ausführliche Analyse der Situation in Frankreich nach der Präsidentschaftswahl veröffentlicht die Redaktion von Sozialismus.de unter dem Titel Bewertung »Kann Macron die tiefe soziale Spaltung Frankreichs überwinden?« in der gedruckten Mai-Ausgabe 2022 der Zeitschrift.
[2] Présidentielle : le vote, le territoire et la classe sociale – regards.fr
[3] Siehe dazu und dem Folgenden: Pauvreté 2022 : combien de Français pauvres en 2022? – Guide épargne (francetransactions.com).
[4] Baromètre d’intentions de vote pour l’élection présidentielle de 2022 - Vague 43 – France (harris-interactive.fr).
[5] Le Pen est préférée à Macron sur les retraites et le pouvoir d’achat, mais c’est toujours Macron que les Français jugent le plus crédible sur l’économie – Odoxa: Odoxa.
[6] Le Pen est préférée à Macron sur les retraites et le pouvoir d’achat, mais c’est toujours Macron que les Français jug ent le plus crédible sur l’économie - Odoxa : Odoxa.
[7] Baromètre d’intentions de vote pour l’élection présidentielle de 2022 - Vague 43 – France (harris-interactive.fr).

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