21. September 2011 Joachim Bischoff / Björn Radke: Die Herausforderung annehmen
Entern die PIRATEN den politischen Diskurs?
Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus in Berlin sind die PIRATEN aus dem Stand mit 8,9 % in das Rote Rathaus eingezogen. 130.000 WählerInnen haben sie dazu bewegen können, sie zu wählen, davon allein 40.000 NichtwählerInnen. Bemerkenswert ist insbesondere, dass sie flächendeckend gewannen. Selbst ihr niedrigster Anteil im bürgerlich geprägten Bezirk Steglitz-Zehlendorf beträgt noch 6,4%. In Mitte und Pankow erreichten sie mehr als 10%, in Friedrichshain-Kreuzberg sogar 14,7%.
Die Piratenpartei schnitt in beiden Stadthälften dort überdurchschnittlich gut ab, wo mittlere Altersgruppen verstärkt auftreten. Sie erzielte in den Hochburgen der Grünen die höchsten Zweitstimmenanteile (14,2% im Ostteil). Dass die Piratenpartei großen Zulauf von Grünen-WählerInnen bekam, sieht ihr Spitzenkandidat Andreas Baum als Beleg für das besondere Interesse der BürgerInnen an Mitsprache: »Das ist ein klarer Hinweis an die Grünen, dass es nicht reicht, nur im Wahlkampf eine Beteiligungs-App und ähnliches zu starten... Wir sind da breiter aufgestellt. Uns geht es nicht nur im Wahlkampf um Beteiligung, sondern um ein grundlegendes Angebot.« Zu Recht verweisen die Piraten darauf, dass die Angebote der anderen Parteien so schlecht gewesen seien, dass sich die WählerInnen »was Neues gewünscht« hätten.
Das »Neue« ist sicher nicht die Tatsache, dass sich unter den 15 gewählten Abgeordneten nur eine Frau findet. »Neu« ist auch nicht der Anspruch, sich den WählerInnen, die kein Vertrauen mehr in die etablierte Politik haben, als Alternative anzubieten. »Neu« aber ist, dass es den Piraten offenkundig gelungen ist, Teile des Alltagsbewusstseins der Bevölkerung aufzugreifen und darüber wählbar zu werden.
Nach Auffassung des Bloggers und Autors Sascha Lobo beruht der Erfolg der Piratenpartei auf zwei Gründen: »Die Unzufriedenheit vieler Bürger mit der ritualhaften, für das 21. Jahrhundert lebensfernen Politik. Und die Hoffnung, dass eine Politik der digitalen Vernetzung das ändert.«
Der Bundesvorsitzende Sebastian Nerz (ein ehemaliges CDU-Mitglied) greift den Unmut über die Intransparenz politischer Entscheidungen auf: »Wir sehen auch im Bund immer wieder Verträge, Absprachen und Gesetze, bei denen völlig unklar ist, ob sie jetzt von einem Lobbyisten geschrieben wurden, ob sie jetzt von einem Minister geschrieben wurden.« Ebenso wird das Problem der verlorenen Glaubwürdigkeit der etablierten Parteien aufgeworfen: »Wir nehmen keine Punkte ins Programm auf, von denen wir nicht wirklich überzeugt sind, dass wir sie umsetzen können. Damit würden wir die Wähler belügen, das möchten wir nicht.«
Neben den Themen Transparenz und freies Internet will die Piratenpartei vor allem auf die Stärkung der Bürger- und Grundrechte setzen. Damit trifft sie nicht nur den Nerv vieler jüngerer InternetnutzerInnen, sondern auch von vielen Grünen-SympathisantInnen, die sich von ihrer Partei enttäuscht abwenden, weil sie zu angepasst und etabliert wirkt. Dabei lassen die Piraten ein Selbstverständnis aufleben, das ebenfalls nicht neu ist, sondern aus der Gründungsphase der Grünen stammt: »Früher haben wir immer gesagt, wir sind weder links noch rechts, sondern vorne«, so Spitzenkandidat Andreas Baum.
Zur Wirklichkeit Berlins gehört, dass rund 600.000 Menschen von staatlichen Transferleistungen leben, 400.000 Erwachsene sowie 200.000 Kinder und Jugendliche. Das sind 21% der Bevölkerung unter 65 Jahren. Die Arbeitslosigkeit beträgt 13%, das Defizit des Stadt-Haushalts liegt bei über desaströsen 60 Mrd. Euro.
Die Piraten sprechen diesen Hintergrund an und fordern u.a. auch ein bedingungsloses Grundeinkommen: »Die Piratenpartei setzt sich daher für Lösungen ein, die eine sichere Existenz und gesellschaftliche Teilhabe individuell und bedingungslos garantieren und dabei auch wirtschaftliche Freiheit erhalten und ermöglichen. Wir wollen Armut verhindern, nicht Reichtum.«
Vor dem Hintergrund erlebter Aussichtslosigkeit auf gesicherte Jobs scheint auch folgendes Argument plausibel: »Wenn ein Einkommen nur durch Arbeit erzielt werden kann, muss zur Sicherung der Würde aller Menschen Vollbeschäftigung herrschen. Unter dieser Voraussetzung ist Vollbeschäftigung bislang ein großes Ziel der Wirtschaftspolitik. Sie wird auf zwei Wegen zu erreichen versucht: durch wirtschaftsfördernde Maßnahmen mit dem Ziel der Schaffung von Arbeitsplätzen oder durch staatlich finanzierte Arbeitsplätze mit dem vorrangigem Ziel der Existenzsicherung. Beide sind Umwege und verlangen umfangreiche öffentliche Mittel. Wenn jedoch öffentliche Mittel eingesetzt werden, muss dies möglichst zielführend geschehen. Da das Ziel ein Einkommen zur Existenzsicherung für jeden ist, sollte dieses Einkommen jedem direkt garantiert werden. Nur dadurch ist die Würde jedes Menschen ausnahmslos gesichert. So wie heute bereits u.a. öffentliche Sicherheit, Verkehrswege und weite Teile des Bildungssystems ohne direkte Gegenleistung zur Verfügung gestellt werden, soll auch Existenzsicherung Teil der Infrastruktur werden.«
Unter der Voraussetzung, dass sich in einer kapitalistischen Gesellschaft ein breit getragener Konsens über das Existenzminimum herstellen lässt, könnte das bedingungslose Grundeinkommen eine Teilantwort auf unerträglich zugespitzte Verteilungsprobleme sein. Diese Antwort lässt freilich die grundlegenden Fragen der Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums offen. Die aber können nicht offen bleiben: Denn ein akzeptables Existenzminimum wird ohne eine Veränderung der Produktions- und Verteilungsverhältnisse nicht zu haben sein. Diese aber ist notwendig und möglich. Erste Schritte zur Rückführung der einseitige Verteilung und zum Abbau der strukturellen Arbeitslosigkeit können mit öffentlichen Investitionen, Anhebung der Masseneinkommen und Arbeitszeitverkürzung gegangen und zugleich die Erfordernisse einer Verbesserung der Chancen der weniger entwickelten Länder, von Umweltschutz und ökologisch verträglicher Produktion nicht vergessen werden.
Wenn ein großer Teil der Menschen in Berlin von Hartz IV leben muss und ein anderer Teil in prekarisierten Arbeitsverhältnissen mit Minilöhnen, dann bedeutet eine Erhöhung von Fahrpreisen im Nahverkehr Ausgrenzung. Die Piraten haben auch dieses Problem aufgegriffen: »Wir werden mittelfristig eine unentgeltliche Nutzung des ÖPNV einführen, um das soziale Recht der Mobilität vom Einkommen des Einzelnen abzukoppeln. Ein fahrscheinloser, gemeinschaftlich finanzierter ÖPNV kann einen weiteren Beitrag dazu leisten, den Individualverkehr in der Stadt weiter zu begrenzen und Berliner und die Gäste unserer Stadt auf die Nutzung des innerstädtischen Nahverkehrs umzulenken… Die Umstellung des ÖPNV auf eine unentgeltliche Nutzung bedeutet keinen Verlust von Arbeitsplätzen. Statt die Fahrgäste zu kontrollieren, wird freiwerdendes Personal zur Verbesserung des Informationsservice eingesetzt. Fahrgäste werden wieder Gäste in den öffentlichen Verkehrsmitteln und sind keine potenziellen Schwarzfahrer mehr.«
Auch hier gilt: Die Umstellung auf eine kostenlose Nutzung des Nahverkehrssystems ist machbar und sinnvoll, soweit sie in eine Gesamtkonzeption der öffentlichen Güter und Dienstleistungen sowie ihrer Finanzierung eingebunden wird.
Die Wohnsituation in Berlin ist alarmierend. Drohende steigende Mieten (Steigerung um 5%) sind für viele Menschen nicht mehr bezahlbar. Für die Piraten ist Mieterschutz zudem auch Milieuschutz. »Die Piraten Berlin begrüßen den Kiezcharakter, die bunte Vielfalt in dieser Stadt. Wir wollen diese erhalten und fördern, sehen sie aber bedroht von falschen politischen Impulsen. So haben sich die Förderrichtlinien des Landes Berlin zu lange auf die Schaffung von Privateigentum konzentriert – zu Lasten alteingesessener Mieter, die aus ihrem angestammten Kiez in die Randgebiete verdrängt wurden. Darüber hinaus hat auch die Objektförderung im sozialen Wohnungsbau nicht zu einer Entlastung des Berliner Wohnungsmarktes geführt. Wir fördern personenbezogen, für alle Berliner eine gesellschaftliche Teilhabe an der Vielfalt dieser Stadt. Wir wollen keine leeren Innenstädte, die von Zweit- und Drittwohnungen, sowie Gewerbeimmobilien geprägt sind. Wir stärken die Mieter gegenüber Eigentümerinteressen… Eine direkte Bürgerbeteiligung an der Entscheidung ist für uns Voraussetzung für eine Veräußerung von Liegenschaften und Immobilien, die sich in Besitz des Landes Berlin befinden.«
Grundeinkommen, Öffentlicher Nahverkehr und Mieten und damit zentrale Aspekte der Lebenswirklichkeit von vielen BürgerInnen sind in dem Programm der Piraten angesprochen, gleichwohl bleiben die Realisierbarkeit und die Schritte dorthin im Dunkeln. Wie ein Teil der politischen Linken versprechen sich auch die Piraten von der Einführung eines allgemeinen, bedingungslosen Grundeinkommens nicht nur eine Aufhebung der entwürdigenden Praxis einer Berechtigungs-, Ermittlungs- und Kontrollbürokratie, sondern eine Stärkung der organisierten Lohnarbeit.
Angesichts der aktuellen Zementierung von kapitalistischer Wirtschaftsordnung und Arbeitszwang geht es in der Tat auch um eine Vergrößerung der Gestaltungsräume für Arbeitslose und prekär Beschäftigte. Allerdings müssen dafür auch die strategischen Fragen, wie wir heute und in Zukunft leben und arbeiten wollen, angegangen werden.
Bei den Piraten – wie bei anderen Befürwortern des Grundeinkommens – finden sich jedoch kaum Überlegungen zu einer Gesellschaftsstrategie, die auf die Transformation der auf dem Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital basierten Gesellschaften zielt. Die Unterschiede in der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums würden auch nach Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens bestehen bleiben. Zudem würden die hinter den Verteilungsverhältnissen stehenden Machtstrukturen die Ausgestaltung des Existenzminimums beständig gefährden.
Mit einem Grundeinkommen an sich werden die gesellschaftlichen Strukturen noch nicht verändert – es bleibt die Zeitverteilung, es bleiben die entfremdeten Strukturen bei der Verausgabung von Arbeit und auch die Reproduktion sozialer Ungleichheit in Bildung, Gesundheit, Freizeit, Kultur und Politik bleiben mehr oder minder bestehen.
Die Alternative zu repressiver »aktivierender« Sozial- und Arbeitsmarktpolitik bestünde in einem Maßnahmenbündel, das im Kern eine Veränderung der Verteilungsverhältnisse zum Hebel für eine Veränderung der Strukturen von Wirtschaft und Gesellschaft machen. Dafür hatte bereits John Maynard Keynes im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts plädiert, um die kapitalistischen Gesellschaften aus Stagnation, Depression und Deflation herauszuführen. Die zentralen Punkte eines solchen Maßnahmenbündels sind noch immer
- die Ausweitung »sinnvollen« Konsums, Reduzierung der Sparquote, Ausweitung öffentlicher Investitionen;
- der Ausbau öffentlicher Güter und Dienstleistungen;
- und schließlich die Arbeitszeitverkürzungen in verschiedenen Formen.
Die Herausforderung, darüber auch mit den PIRATEN in einen kritischen Dialog und solidarischen Streit zu kommen, sollte angenommen werden.