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9. Februar 2020 Joachim Bischoff: Die Türkei im Krisenmodus

Erdoğan als Brandstifter

In Ankara hat das türkische Parlament der Regierung ein Mandat zur Entsendung von Truppen nach Tripolis erteilt. Die Türkei setzt aktuell zur Ausweitung ihres politischen und wirtschaftlichen Einflusses in der Region Milliarden ein. Noch nie seit ihrer Gründung vor 95 Jahren war sie in so viele militärische Konflikte verstrickt wie jetzt.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan führt außerdem Kriege in Syrien, im Irak – und nicht zuletzt im eigenen Land, nämlich gegen die kurdische PKK. Das Postulat des Republikgründers Kemal Atatürk »Friede daheim, Friede in der Welt« – unter Erdoğan gilt es nicht mehr. Er schwelgt in osmanischen Großmachtträumen, wie er bereits vor zwei Jahren in einer Rede zum Ausdruck brachte: »Wir haben unsere Grenzen nicht freiwillig akzeptiert … Wir müssen überall sein, wo unsere Ahnen waren.« Der kritischen Opposition gegen den Einmarsch in Libyen hält Erdoğan, zugleich Oberbefehlshaber der Armee, entgegen, sie habe die osmanische Geschichte vergessen und die der Republik, schließlich habe auch Atatürk auf libyschem Boden gekämpft.

Die jüngste Ausweitung der militärischen Interventionen: Erdoğan stellte dem syrischen Diktator Baschar al-Assad ein Ultimatum von drei Wochen: In dieser Frist soll der sich von allen belagerten türkischen »Observationspunkten« in der Region zurückzuziehen. Mehr als ein Dutzend dieser Punkte hatte die Türkei Anfang 2018 eingerichtet, um die mit Russland vereinbarte Waffenruhe in der »Deeskalationszone Idlib« zu überwachen. Seit April 2019 haben syrische Truppen mit Unterstützung Russlands bislang vier der Punkte passiert und damit eingeschlossen. Bis zu 300 türkische Soldaten werden seitdem belagert.

Sollten die syrischen Regierungstruppen sich nicht bis Ende Februar zurückziehen, werde die Türkei »die Dinge selbst in die Hand nehmen«, sagte Erdoğan. Als Begründung nannte der Türken-Präsident auch, dass mittlerweile eine Million Flüchtlinge aus Idlib an der türkischen Grenze angekommen seien und sich die humanitäre Katastrophe dort jeden Tag verschlimmere.

Im Unterschied zu früheren Jahren stoßen die diversen militärischen Intervention nicht mehr auf eine breite Zustimmung in der Bevölkerung. Laut einer Meinungsumfrage im Januar ist die die Popularität von Erdoğan auf den bisher niedrigsten Stand gesunken. Seine Beliebtheit liegt nur noch bei 43,7%, während er im Juli 2016 noch auf 67,6% Zustimmung kam. Würden jetzt Wahlen anstehen, käme das Bündnis zwischen der Erdoğan-Partei AKP und der rechtsnationalistischen MHP auf 49,1%.

Noch ist die politische Position von Erdoğan ungefährdet, dennoch gibt es eine wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung. 54,6% bezeichnen ihre persönlich wirtschaftliche Lage als schlecht, viele sehen auch die der ganzen Türkei in der Zukunft eher negativ. Die Ratingagentur »Standard & Poor's« erwartet für 2020 keine Besserung der hohen Inflation, die aktuell bei 12,15% liegt und die die Preise nach oben schnellen lassen.

Es wächst der Unmut über die Allmacht Erdoğans und seines Schwiegersohns Berat Albayrak, der seit mehr als einem Jahr Finanzminister ist. 2017 stimmte eine knappe Mehrheit für die Verfassungsänderung und die Einführung des Präsidialsystems, weil man sich eine effizientere Regierung und Reformen erhoffte. Die Hoffnungen blieben unerfüllt. Die AKP hat sich in eine hochgradig zentralisierte Körperschaft verwandelt, die heute durch Vetternwirtschaft und Klientelismus geprägt ist.

Auch innerhalb der AKP wächts die Kritik an der Machtfülle und dem immer kleiner werdenden Kreis um Erdoğan; der Mythos vom Wirtschaftsaufschwung der Anfangsjahre der AKP verliert an Überzeugungskraft. Im Zentrum des Unbehagens stehen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise. Seitdem die türkische Lira im vergangenen Sommer innerhalb weniger Wochen 40% ihres Wertes verloren hat, kämpft das Land mit einer Rezession. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 13,8%. Nur mit verzweifelten Stützungskäufen konnte die Zentralbank den Kurs stabilisieren; doch Investitionen aus dem Ausland fehlen, nicht zuletzt wegen der schwächelnden Weltkonjunktur.

Das lange Zeit mit jährlichen Wachstumsraten um 5% glänzende Schwellenland, dessen Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2017 noch um real 7,4% und im 1. Halbjahr 2018 um 6,3% wuchs, musste bereits in der zweiten Jahreshälfte eine Stagnation der Wirtschaftsleistung verarbeitet werden. Ein wichtiger Baustein der türkischen Wirtschaft ist und bleibt der Tourismus. Trotz anhaltender politischer Spannungen bewegte sich der Türkei-Tourismus 2019 auf Rekordniveau.

Allein aus Deutschland kamen mit fünf Millionen 11% mehr als 2018. Eine Umfrage zeigt, dass viele Deutsche mit dem Kurs der türkischen Regierung zwar nicht einverstanden sind, ihre Reiseentscheidung machten sie davon aber nicht abhängig. Ausgerechnet die Deutschen dürften stark dazu beigetragen haben, dass die Wachstumsrate der Türkei im Jahr 2019 zumindest eine Null vor dem Komma hat. Erdoğan bleibt die Schmach eines schrumpfenden Bruttoinlandsprodukts erspart, das viele Ökonomen vor Jahresfrist prognostiziert hatten, die die Jahresrechnung wird ein bescheidendes Wachstum ausweisen.

Das BIP pro Kopf in der Türkei ist das dritte Jahr in Folge gefallen und beträgt für das Jahr 2018 rund 9.405 US-Dollar. Vom Höchststand im Jahr 2013, wo auf jeden türkischen Bürger ein BIP von rund 12.400 US-Dollar entfiel, ist das Land zwar gegenwärtig weit entfernt, jedoch wird bis zum Jahr 2024 eine Steigerung des BIP pro Kopf prognostiziert.

Die Wirtschaftskrise ist nicht ausgestanden, der Rückgang der Wirtschaftsleistung ist zwar gestoppt, aber die Aufwärtsbewegung ist sehr gering. Die Inflation hat nach der Beruhigung im vergangenen Jahr bereits wieder angezogen, die (relative) Tiefzinspolitik und die hohen Staatsausgaben hinterlassen ihre Spuren, letztere auch in einem größer werdenden Haushaltsloch. Das größte Problem ist aber die hartnäckige Arbeitslosigkeit.

Gleichwohl präsentierte der Staatspräsident in einer Rede vor Mitgliedern seiner Partei eine »Erfolgsbilanz« der letzten 17 Jahre, in denen es ihm gelungen sei, »neun Millionen Arbeitsplätze zu schaffen« und die Gesamtbeschäftigung auf 29 Millionen zu erhöhen. Eine Aussage, die Teile der Opposition irritiert, zudem deckt sie sich nicht mit dem allgemeinen Lebensgefühl in der türkischen Bevölkerung. Denn wegen des massiv abgeschwächten Wirtschaftswachstums steigt die Arbeitslosigkeit wieder an. Ein Anstieg der Zahl der Erwerbstätigen ist nur dann relevant, wenn dieser proportional zum Bevölkerungswachstum erfolgt. Demnach hätte die Anzahl der Erwerbstätigen um 12 oder 13 Millionen ansteigen müssen, und nicht – wie von Erdoğan behauptet – nur um 9 Millionen

Um die Konjunktur mit billigerem Geld anzukurbeln, hat die Zentralbank ihren Leitzins kräftig gesenkt. Die türkische Zentralbank folgt den Anordnungen Erdoğans, statt sich an der Wirtschaftslage zu orientieren. In nur sechs Monaten haben die Notenbanker den Leitzins um mehr als die Hälfte gesenkt: von 24% im Sommer 2019 auf jetzt 11,25%. Erst kürzlich reduzierten die Währungshüter den Zins um weitere 0,75 Prozentpunkte. Experten erwarten bis Juni eine Senkung bis in den einstelligen Bereich – weil Erdoğan das so will. Denn der Präsident will mit billigem Geld die Wirtschaft ankurbeln und ist zudem der Meinung, dass niedrige Zinsen die Inflation bekämpfen. Die meisten Ökonomen bezweifeln das.

Mit seinem Ruf nach niedrigen Zinsen riskiert Erdoğan allerdings eine Krise der türkischen Wirtschaft und den erneuten Absturz der Währung Lira. Denn nach einem mehrmonatigen Rückgang zieht die Inflation – einschließlich steigender Verbraucherpreise – wieder an: Im Oktober 2019 lag die Preissteigerung bei 8,6%, im Dezember bereits bei 12%. Durch die Zinssenkung blieben die Realzinsen – die Differenz zwischen dem Leitzins und der Inflation – im negativen Bereich, das macht die Erträge aus der Anlage in Lira-Anleihen und Investitionen in der Türkei weniger attraktiv und könnte die weitere Dollarisierung der Wirtschaft fördern.

Dazu kommt das wachsende Leistungsbilanzdefizit: Die türkischen Importe wachsen stetig schneller als die Exporte. Die Kombination aus negativem Realzins, sich beschleunigender Inflation und wachsendem Leistungsbilanzdefizit verheißt nichts Gutes für die mittelfristigen Aussichten der Lira. Sie könnte in den nächsten sechs Monaten deutlich unter Druck geraten.

Seit dem Herbst 2019 befindet sich das Land technisch nicht mehr in einer Rezession, die Kontraktionsphase nach dem Kurssturz der Lira im Sommer 2018 war weniger lang, als die meisten Beobachter befürchtet hatten. Die Regierung setzte vor allem auf erhöhte Staatsausgaben und drastisch gesenkte Kreditkosten, um diese Erholung zu ermöglichen. Damit sich die Entwicklung konsolidiert und auch am Arbeitsmarkt niederschlägt, sind Neuinvestitionen dringend nötig, vor allem aus dem Ausland. Die Voraussetzung hierfür ist eine berechenbare Politik.

Neben dem Problem der hartnäckigen Arbeitslosigkeit verschärfen die Militärinterventionen in Libyen und Syrien die Probleme der öffentlichen Finanzen. Und sie erhöhen den Zustrom von Flüchtlingen. Fast 40.000 Menschen fliehen vor den Kämpfen in Syrien in Richtung der türkischen Grenze. Seit vergangenem November sind damit 541.000 Menschen durch die Gefechte vertrieben worden. Schon jetzt leben 3,6 Millionen Syrer in der Türkei. Hunderttausende weitere haben in Lagern entlang der Grenze zur Türkei Zuflucht gesucht.

Sollte die Türkei – wie von Erdoğan angekündigt – »die Dinge selbst in die Hand nehmen«, ist mit einer Ausweitung des Krieges und der Fluchtbewegung zu rechnen. Das Verhältnis zu Russland ist schon jetzt zum Zerreißen gespannt. Im sogenannten »Astana-Prozess« hatte sich die Türkei vor drei Jahren mit Russland und Iran auf die Etablierung einer »Deeskalationszone«. Mit Blick auf die anhaltende von Russland unterstützte Offensive auf Idlib erklärte der Präsident vor einer Woche: »Es gibt keinen Astana-Prozess mehr.« Entweder die Bombardements hörten auf, oder die Türkei werde tun, was nötig sei.

Zudem besteht nach wie vor die Gefahr von Sanktionen seitens Amerika und durch die Erdöl-Explorationen im Mittelmeer sind neben Konflikten mit den Anrainerstaaten auch die Beziehungen zur EU belastet worden. Eine kohärente, langfristige Politik im Umgang mit den Krisen des Landes ist seitens der Regierung nicht zu erkennen.

Erdoğan hält im Stil eines autokratischen Despoten an einer aggressiven Regionalpolitik fest, die keine Rücksicht auf traditionelle Partner nimmt, und schreckt auch vor einer Verschärfung von internationalen Konflikten nicht zurück. Die wachsenden innenpolitischen Verwerfungen werden durch die außenpolitischen Abenteuer verschärft. Das NATO-Land Türkei bleibt mit dem Autokrat Erdoğan ein veritables Pulverfass.

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