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376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
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9. November 2020 Redaktion Sozialismus: Der autoritäre Präsident sieht sein Land in einem »Wirtschaftskrieg«

Erdoğan verschärft türkische Krise

Erdoğan und sein Schwiegersohn und Finanzminister Berat Albayrak (Foto: dpa)

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sorgt dafür, dass die Türkei in reichlich innen- und außenpolitische Probleme verstrickt bleibt. Nun hat auch noch Finanzminister Berat Albayrak – zugleich Schwiegersohn des Präsidenten – inmitten der massiven Währungskrise seinen Rücktritt angekündigt.

Die Türkei setzt sich im Mittelmeer bei der Ölfeldersuche über die Interessen der anderen Anrainerstaaten hinweg, und ist in Libyen und im Nahen Osten in Kriege verwickelt, die sie beschönigend »grenzüberschreitende Operationen« nennt.

Es geht ihr um Einfluss, um militärische Vorherrschaft, um Energievorkommen und um eigenmächtig abgesteckte Seegrenzen. Ankara ist zu einem bestimmenden Akteur in Libyen geworden und zu einer Kriegsmacht am Mittelmeer und im Nahen Osten, an der keiner mehr so leicht vorbeikommt. Erdoğan will den weiteren Aufstieg seines Landes sicherstellen.

Sein durch Verfassungsänderungen gestärktes politisches Gewicht ist zugleich das politische Fundament für Konfrontationen gegenüber großen Teilen der türkischen Zivilgesellschaft. Unter seinem autoritären Regime entfernt sich die Türkei mit dem islamischen-populistischen Kurs immer weiter vom säkularen Erbe des Landes und von Europa – und damit von der früher angestrebten Mitgliedschaft in der EU. Dies wurde erneut schlagartig deutlich im Konflikt mit Frankreich und dessen Präsidenten Emmanuel Macron.

Macron hat keinen Zweifel daran gelassen, dass die Meinungsfreiheit in Frankreich auch die Mohammed-Karikaturen umfasst: Null-Toleranz gegenüber radikalem islamistischem Gedankengut. Der französische Präsident verteidigte als Reaktion auf die Ermordung eines Gesichtslehrers die laizistische Grundordnung der Republik und kündigte strengere Kontrollen von Moscheen und anderen muslimischen Einrichtungen an. Und Macron fügte hinzu, Erdoğan dürfe »keine Lügen erzählen und keine Beleidigungen äußern«. Zugleich stellte er klar: »Die Türkei hat eine kriegerische Haltung gegenüber ihren Nato-Verbündeten« und kritisierte das Vorgehen der Regierung in Syrien, Libyen und im Mittelmeer.

Erdoğan reagierte in bekannter Manier: Auf einer Veranstaltung der Regierungspartei AKP attackierte er die französische Kultur und ihren Staatspräsidenten. Er riet seinem französischen Amtskollegen, seinen »Geisteszustand untersuchen« zu lassen, und rief zum Boykott französischer Produkte auf.

Für den türkischen Präsidenten und seine Regierung sind die Titelblätter der französischen Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« und ihre Verteidigung durch die französische Regierung ein weiterer Beleg für die Islamfeindlichkeit des Westens. Darüber hinaus reagierte die türkische Justiz auf das karikierte Konterfei Erdoğans wieder sofort mit einem Strafverfahren wegen Präsidentenbeleidigung.

Trotz massiver ökonomisch-sozialer Probleme fährt die Türkei nicht nur gegenüber Europa einen Konfliktkurs. Auch in ihrer Nachbarschaft hat sie viele Staaten gegen sich aufgebracht. Ankaras Außenpolitik ist hochriskant. Die Türkei führt in Libyen und im Nahen Osten Kriege, die sie beschönigend »grenzüberschreitende Operationen« nennt. Es geht ihr um Einfluss, um militärische Vorherrschaft, um Energievorkommen und um eigenmächtig abgesteckte Seegrenzen. Aber diese Außenpolitik hat ein sehr fragiles ökonomisches Fundament.

Seit 2018 läuft die türkische Wirtschaft nicht mehr rund. Die Corona-Pandemie hat in der Türkei einen historischen Konjunktureinbruch verursacht. Nach Angaben des türkischen Statistikamts lag die Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal 11% unter dem Niveau des ersten Quartals. Für 2020 prognostiziert der Internationale Währungsfonds der Türkei einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um 5%.

Überdies hat die türkische Lira in den vergangenen zwei Jahren gegenüber dem US-Dollar fast 60% an Wert verloren. Das Investitionsklima ist eingetrübt. Die Unternehmen investierten bereits vor der Coronakrise eher zurückhaltend. Die Lage hat sich durch die Coronapandemie verschlechtert. Seit März 2020 berichten die meisten Unternehmen von Nachfrageeinbrüchen im In- und Auslandsgeschäft. Viele haben ihre Kapazitäten runtergefahren.

Die Unsicherheit über die weitere Entwicklung ist groß. Die Türkei hofft, von einer möglichen Neuausrichtung der Lieferketten europäischer Firmen infolge der Coronakrise profitieren zu können, entweder über Exporte oder ausländische Direktinvestitionen.

In den Jahren vor der Pandemie sorgten große Infrastrukturprojekte für ein überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum. Brücken und Tunnels, Autobahnen und Flughäfen: Mit gigantischen Infrastrukturbauten wollte Erdoğan der Türkei seine Macht zementieren. Aber immer mehr Megaprojekte blieben wegen der Verschlechterung der nationalen Wirtschaft und der Finanzierungsbedingungen jedoch stecken.

Die hohe Inflation, die gesunkene reale Kaufkraft der Verbraucher*innen und Unwägbarkeiten infolge der Pandemie bremsen zusätzlich die Binnenwirtschaft. Die Verbraucherpreise stiegen im Juni gegenüber dem Vorjahresmonat von 11% auf 12,6%, das Inflationsziel hatte die Regierung für das Jahresende 2020 in ihren Wirtschaftsprogramm auf 8,5% festgelegt. In der Konsequenz dieser Entwicklung verliert die türkische Währung im internationalen Handel zunehmend an Wert.

Euro/türkische Lira

Dieser Verfall der Landeswährung bringt das NATO-Mitglied in Bedrängnis. Allein seit Jahresauftakt hat die türkische Lira fast ein Drittel verloren – binnen eines Jahrzehnts sind es mehr als 80%.

Die Staatsverschuldung der Türkei gilt unter Experten zwar als tragbar. Anders sieht es aber bei den Unternehmen und Finanzinstituten des Landes aus. Viele haben in den vergangenen Jahren Kredite im Ausland aufgenommen, weil sie dort häufig niedrigere Zinsen zahlen müssen. Auf sie kommen allein in den kommenden zwei Monaten Rückzahlungen im Volumen von fast zehn Mrd. US-Dollar zu.

»Eine weitere Abwertung der Lira würde die Bilanzen der Firmen weiter belasten und negative Auswirkungen auf die Investitionsaussichten haben«, sagt ein Experte vom Institute of International Finance (IIF). Das komme ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo vermehrte Investitionen nötig seien, um die Produktivität zu steigern, die Arbeitslosigkeit abzubauen, die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und die Exporte in Schwung zu bekommen. Im Außenhandel allerdings kommt die schwächere Währung den Firmen zugute, weil sie ihre Produkte billiger im Ausland verkaufen können.

Die Schwäche der Währung macht sich in den Geldbeuteln der Bevölkerung bemerkbar. Die Inflation ist ein wunder Punkt für die Türkei, die auf eine Geschichte sehr stark steigender Lebenshaltungskosten zurückblickt – die Zeit der Hyperinflation wurde erst vor 17 Jahren überwunden. Expert*innen rechnen nicht damit, dass sich die Inflation bald beruhigt.

Um die Währung zu stärken, könnte die türkische Zentralbank die Zinsen erhöhen. Allerdings haben höhere Zinsen negative Auswirkungen auf Produktion und Investitionen. Präsident Erdoğan bezeichnete sich wiederholt als »Zinsfeind«. Trotz der Talfahrt der Lira beließ die Zentralbank ihren Leitzins zuletzt bei 8,25%. Zuvor hatte sie den Zinssatz in einem fast ein Jahr lang währenden Lockerungszyklus von 24% auf den aktuellen Satz heruntergeschraubt, um die Konjunktur anzukurbeln.

Der türkische Präsident sieht sein Land in einem »Wirtschaftskrieg« gegen ein »Teufelsdreieck« aus Zinssätzen, Wechselkursen und Inflation, dies werde noch Jahre dauern. Er hat sich wiederholt gegen hohe Leitzinsen ausgesprochen, weil sie seiner Ansicht nach Ursache für eine hohe Inflation sind. Inmitten der beschleunigten Talfahrt der türkischen Lira entließ er den Zentralbank-Chef Murat Uysal entlassen. Der autoritäre Präsident, der eine unorthodoxe Geldpolitik propagiert, bezeichnet den Leitzins oft als »Mutter allen Übels« und verlangt niedrige Zinsen.

Die Vision von Erdoğan ist: Ein niedriger Leitzins sichert Verbraucher*innen und Wirtschaft billige Kredite. Allerdings hat diese Logik Grenzen. Die Fachleute sehen dies als eine Ursache der hohen Inflation in der Türkei. Um die Lira zu stabilisieren, griff die Zentralbank zuletzt mit Devisenverkäufen von mehr als 100 Mrd. US-Dollar in den Markt ein. Ökonom*innen warnen, dass die Reserven der Zentralbank deshalb bedenklich geschmolzen seien.

Die Türkei befindet sich mit ihrer Währung im Crash-Modus. Der Lira-Verfall beschleunigt sich deutlich. Ein Ende ist noch nicht in Sicht. Die Auswechselung des Notenbankpräsidenten bringt keine Linderung. Jetzt kommt noch der angekündigte Rücktritt des Finanzministers hinzu. Erdoğan könnte in dieser Situation entweder den Internationalen Währungsfonds (IWF) um Hilfe bitten, oder er muss der Notenbank wieder freie Hand lassen. Der »Wirtschaftskrieger Erdoğan « führt das Land in eine folgenreiche Niederlage. Die Kosten für diese Katastrophenpolitik muss die große Mehrheit der Bevölkerung tragen.

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