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Heiner Dribbusch
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376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

26. Mai 2022 Redaktion Sozialismus.de: Der Autokrat unter innenpolitischem Druck

Erdoğan will Zugeständnisse für NATO-Erweiterung

Die Türkei blockiert aktuell als einziges NATO-Mitglied offen den Beginn des Aufnahmeprozesses der beiden nordischen Länder Schweden und Finnland in das Verteidigungsbündnis. Diese haben wegen der russischen Invasion in die Ukraine ihren Neutralitätsstatus aufgegeben, und wollen zur Sicherung der nationalen Souveränität der westliche Militärallianz beitreten.

Während die anderen NATO-Staaten den Antrag von Schweden und Finnland freudig begrüßten, kündigte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zur allgemeinen Verblüffung sein Veto an. Ankara begründet seine Blockade-Haltung mit der angeblichen Unterstützung Finnlands und Schwedens von »Terrororganisationen« und bezieht sich dabei auf die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK, die syrische Kurdenmiliz YPG und die Gülen-Bewegung. Letztere macht die Türkei für den Putschversuch 2016 verantwortlich Während die PKK in den USA, der EU und der Türkei als terroristische Vereinigung eingruppiert wird, gilt das nicht für die YPG und die Gülen-Bewegung.

Schweden müsse seine »politische, finanzielle und militärische Unterstützung« für terroristische Gruppen einstellen und »Embargos für die Verteidigungsindustrie« beenden, die es nach einer türkischen Militäroperation gegen die syrische Kurdenmiliz verhängt hat, hieß es in der Stellungnahme aus Ankara. Dies seien zwei »konkrete und ernsthafte Schritte«, die erkennen lassen würden, dass Stockholm die Sicherheitsbedenken der Türkei teile, sagte Erdoğan der schwedischen Regierungschefin. Nach einer türkischen Militäroffensive gegen die YPG 2019 hatten u.a. Schweden, Finnland und Deutschland Waffenexporte an die Türkei beschränkt.

Russland hatte angekündigt, die mögliche Ausweitung des NATO-Gebiets durch die beiden nordischen Staaten als Bedrohung für sich zu betrachten. Sollte die Türkei ihre Vorbehalte aufgeben, dürfte alles ganz schnell gehen. Bereits im Juni könnten die sogenannten Beitrittsprotokolle unterzeichnet werden und in den Mitgliedstaaten die Ratifizierungsverfahren beginnen. Finnland und Schweden könnten dann bis Ende des Jahres NATO-Mitglieder sein. Sollte Ankara allerdings hart bleiben, wäre das Bündnis wegen des für alle Entscheidungen geltenden Einstimmigkeitsprinzips machtlos.

Viele Beobachter*innen gehen davon aus, dass es der Türkei in Wahrheit um andere Fragen geht. Mit dem Nachbarn und NATO-Partner Griechenland liegt die Türkei ohnehin wegen der Ägäis-Inseln im Dauerclinch. Dass Ankara im Erdgasstreit im Mittelmeer nicht vor einer militärischen Konfrontation mit Athen zurückschreckte, war ein Grund dafür, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron 2019 die NATO als »hirntot« erklärte.

Der türkische Präsident will aktuell keine Gespräche mit dem griechischen Ministerpräsidenten mehr führen. Erdoğan wirft Griechenland u.a. vor, Anhänger*innen seines Erzfeindes Gülen Unterschlupf zu gewähren, sowie Militärstützpunkte gegen die Türkei einzurichten. Laut türkischem Präsidenten soll der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis zudem bei seiner Reise in die USA davon abgeraten haben, Ankara F-16-Kampfflugzeuge zu verkaufen.

Erdoğans Ärger bezieht sich Expert*innen zufolge auf eine Rede, die Mitsotakis am 17. Mai in Washington hielt. Vor dem Kongress sagte dieser, die USA sollten es vermeiden, eine neue Quelle der Instabilität an der Südostflanke der NATO zu schaffen: »Das Letzte, was die NATO in einer Zeit braucht, in der wir uns darauf konzentrieren, der Ukraine zu helfen, die russische Aggression zu besiegen, ist eine weitere Quelle der Instabilität an der südöstlichen Flanke der NATO. […] Ich bitte Sie, dies zu berücksichtigen, wenn Sie Entscheidungen über die Beschaffung von Verteidigungsgütern für das östliche Mittelmeer treffen.«

Die Türkei bemüht sich schon lange um den Kauf US-amerikanischer F-16 Kampfjets. Ursprünglich wollte man 100 der modernen F-35 anschaffen. Die USA ließ den Deal jedoch platzen, nachdem die Türkei mit dem Kauf eines S-400-Raketenabwehrsystems aus Russland für Verärgerung in der NATO gesorgt hatte. Im Oktober 2021 hieß es dann aus verschiedenen Quellen, die Türkei bemühe sich um F-16 statt F-35 Kampfjets.

Dass Griechenland sich in Verhandlungen zwischen der Türkei und den USA einmischt, empört den türkischen Präsidenten. Eigentlich, so Erdoğan, sei man sich mit Griechenland darüber einig gewesen, bei Angelegenheiten zwischen beiden Ländern keine dritte Partei mit einzubeziehen. Da die griechische Seite dieses Versprechen nun aber einseitig gebrochen habe, existiert »Mitsotakis […] für mich nicht mehr. Ich werde nie einem Treffen mit ihm zustimmen.« Trotzdem glaube er nicht, dass die USA beim Thema F-16 ihre Entscheidung entsprechend der Empfehlung von Mitsotakis Empfehlung treffen werden.

Es geht Erdoğan also darum, die NATO-Mitglieder sowie Finnland, Schweden und die USA zu Zugeständnissen zu zwingen. Auf diese Weise will er innenpolitisch seine angeschlagene Position im Vorfeld des Wahlkampfes 2023 zu verbessern, denn die Türkei steckt nach wie vor in einer sehr schweren Wirtschaftskrise. Anfang Mai hatte das türkische Statistikamt für die Türkei 69,97% Inflation für den Monat April verkündet nach 61,14% im März.

Die Inflationsrate ist nun nur noch wenige Prozentpunkte von dem Höchststand von 73,2% entfernt, der während der türkischen Wirtschaftskrise Anfang der 2000er Jahre erreicht wurde. Laut unabhängigen türkischen Wirtschaftswissenschaftlern der Inflation Research Group (Enag) ist die Inflationsrate allerdings sogar doppelt so hoch als offiziell angegeben. Enag zufolge habe die Inflation im Jahresvergleich tatsächlich 156,86% erreicht. Schon länger werfen Kritiker*innen aus den Reihen der Opposition und auch einige Ökonomen dem nationalen Statistikamt Tüik vor, das Ausmaß der Inflation zu beschönigen.

Die türkische Lira wertet immer weiter ab. Je schwächer die Lira, desto höher die Importkosten, desto höher die Inflation. Und je höher die Inflation, desto eher tendieren Verbraucher*innen und Investor*innen dazu, sich durch Flucht in andere Währungen zu schützen, was die Lira weiter abwerten lässt. Ein Zinsausgleich, der diese dramatisch hohe Inflation bremsen könnte, fehlt nach wie vor. Die durch Präsident Erdoğan gesteuerte Zentralbank hatte in mehreren Schritten den Leitzins von 19 auf 14% gesenkt – obwohl eine Erhöhung der Zinsen zur Eindämmung der Inflation eigentlich angehoben werden müsste.

Die türkische Regierung wollte das Haushaltsdefizit im Rahmen eines Wirtschaftsprogramms, das sich auf Wachstum, Exporte, Produktion und Beschäftigung konzentriert, in diesem Jahr auf 3,5% des Bruttoinlandsprodukts zu begrenzen. Die vom Präsidenten angeordneten Zinssenkungen der Zentralbank haben jedoch infolge von Inflation und Abwertung der Lira zur massiven Senkung des Lebensstandard geführt, was die Regierung nötigte, finanzielle Hilfen für Familien in Not bereitzustellen.

Das Handelsbilanzdefizit kletterte zuletzt auf 24,5 Mrd. US-Dollar. Das Haushaltsdefizit der Türkei hat sich im April im Vergleich zum Vorjahresmonat verdreifacht. Laut Angaben des türkischen Finanzministeriums vergrößerte sich die Lücke zwischen Staatseinnahmen und Ausgaben im Jahresvergleich von 16,9 Mrd. Lira (etwa 920. 000 Euro) im April 2021 auf 50,2 Mrd. Lira (ca. drei Mrd. Euro) im April 2022.

Die Bevölkerung leidet unter der Teuerungsspirale. Die Zustimmungswerte von Erdoğan sinken. Mit nationalistischen Tönen versucht er seine Popularitätswerte zu behaupten. Zielpunkt ist das Superwahljahr 2023, dann wird nicht nur das 100. Gründungsjubiläum der türkischen Republik gefeiert, sondern im Land finden auch Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt, die Erdoğan beide gewinnen will. Derzeit verliert er aber in der Wählergunst, vor allem wegen der extremen Inflation.

Der Präsident wollte die Türkei bis zum 100. Gründungsjahr unter die zehn größten Ökonomien der Welt aufrücken lassen. Kürzlich machte er zusätzlich deutlich, ob die Türkei dies schaffe, hänge vom Ergebnis der Wahl ab. Wenn er wiedergewählt wird, will er realisieren, was er in den letzten 20 Jahren nicht geschafft hat. Aber die Bevölkerung ist nicht davon überzeugt, dass Erdoğan die wirtschaftlichen Probleme lösen wird. Der jüngsten Umfrage von MetroPoll zufolge glauben 66,2%, die Regierung sei nicht in der Lage, die Wirtschaft wieder ins Lot zu bringen.

Die türkische Regierung hat seit vergangenem Herbst mit mehreren Maßnahmen versucht, die wirtschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen, und die Notenbank setzte vor allem auf einen von Erdoğan immer wieder angemahnten niedrigen Leitzins, was nach nahezu einhelliger Meinung von Ökonomen kontraproduktiv ist. Expert*innen gehen davon aus, dass die Inflation in den kommenden Monaten weiter ansteigen und für einen Großteil des Jahres in der Nähe der derzeitigen hohen Raten bleiben wird. »Die katastrophalen Inflationswerte, das sich ausweitende Leistungsbilanzdefizit und massiven Zahlen der Außenhandelsbilanz bilden einen besorgniserregenden Hintergrund. Es gibt gleichwohl keine Anzeichen dafür, dass die Notenbanker einen Kurswechsel vornehmen und die Zinssätze anheben werden, da sie dem ›neuen Wirtschaftsmodell‹ treu bleiben.«

Im ersten Jahrzehnt seiner Regierungszeit profitierte Erdoğan vor allem vom Aufschwung des Landes, seine Anhänger*innen feierten ihn als Vater des türkischen Wirtschaftswunders. Jetzt kippt die Stimmung. Meinungsforschern zufolge sind sogar 81% mit der Wirtschaftspolitik unzufrieden. Und erstmals liegt jetzt in einer Umfrage die größte Oppositionspartei CHP vor der Regierungspartei AKP.

Spätestens im Juni 2023 muss in der Türkei gewählt werden. Erinnerungen an die türkische Finanzkrise von 2001 werden wach. Bei den Wahlen im Jahr darauf schaffte keine der damals regierenden Koalitionsparteien auch nur die Rückkehr ins Parlament, Erdoğan gewann die Wahl. Damals war er der neue Hoffnungsträger der Türkei, jetzt kündigt sich das Ende seiner Ära an. Allerdings wird sich der Autokrat nicht einfach einem negativen Votum der Wahlbevölkerung beuten.

Wie weit die Türkei bei dem Konflikt um den NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens mit den Drohungen gegen die Partner gehen will, und zu welchen Zugeständnissen diese Länder und die bisherigen Mitglieder der NATO bereit sind, ist derzeit unklar. Die Verhandlungsbereitschaft der türkischen Seite und die Zuversicht vieler Bündnismitglieder deuten darauf hin, dass Verhandlungen hinter verschlossen Türen bereits begonnen haben. Ob bei diesen tatsächlich wie auf einem türkischen Basar gefeilscht wird, wie der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn andeutete, ist allerdings ungewiss.

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